Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout

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Du mußt das auf einmal kippen!

      Es war, als ob ich einen Nagel geschluckt hätte. Aber der Schmerz dauerte nur ein Weilchen. Übrig blieb eine angenehme Wärme und eine seltsame Leichtigkeit. Ich fing an, mitzusingen. Es war lustig, wie ich mich wie von weitem hörte. Rob sagte etwas zu mir. Er mußte es dreimal wiederholen, ehe ich ihn verstand, und ich begriff, daß er abhauen wollte, weil ihm das irgendwie nicht gefiel. Ich wollte ihm antworten, aber ich hörte mich immer nur singen.

      Plötzlich marschierten wir in Zweierreihen. Ich weiß nicht, wie wir uns formiert hatten. Wir kamen zu einer Kapelle oder vielmehr einer Synagoge. Unter der steinernen Treppe lagen Haufen merkwürdiger Kisten. Der Kuratorist stellte sich auf die Stufen und fing an zu schreien.

      – Kameraden, in diesem Gebäude sind die sterblichen Überreste von Opfern des barbarischen Angriffs durch die anglo-amerikanischen Luftpiraten vom 14. Februar provisorisch aufgebahrt worden. Es ist unsere Aufgabe, sie in Särge zu betten, damit sie auf würdige Weise der ewigen Ruhe überantwortet werden können. Ich hoffe, ihr seid keine Schlappschwänze! Übrigens – im Sommer wäre es schlimmer. Jetzt wollen wir das mal vorführen. Du und du da, nehmt einen Sarg und kommt mit!

      Robert und ich traten aus der Reihe. Die Klasse schaute uns an, als sähe sie uns zum ersten Mal. Mein Kopf rauschte. Die Kiste aus dünnen Brettern war nicht schwer. Wir betraten das Gebäude. Der Gestank betäubte mich fast. Der Wand entlang lagen Reihen von Körpern. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Vielleicht einige hundert.

      – Stellt den Sarg hin! Nehmt den Deckel ab! Hebt diese da hinein! Jeder von einer Seite, an den Sackenden! Hochreißen, heben, tragen, eins zwei, und los!

      Auf dem Sack lag ein Mädchen. Es hatte nur den Rock an, und an seinem Bein war ein Pappkärtchen mit der Aufschrift Hana Korunova, 19 Jahre.

      Ich sah zum ersten Mal eine nackte Frau. Weibliche Brüste. Sie sahen überhaupt nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie waren unförmig groß und abstoßend gelb.

      Sonst erinnere ich mich nur an die erste Zigarette in meinem Leben, an das Grab, auf dem ich saß und mich erbrach, und daß meine Mitschüler ringsum kotzten. Und an die Sirene. Sie begann vor Mittag zu heulen, genau wie am 14. Februar.

      Wir flohen aus dem Friedhof, verrückt vor Angst. In der Nähe stand ein einziges Haus. Wir drängten uns zwischen alte Frauen, Rentner und Kinder. Der Kuratorist erschien und tobte:

      – Scheißkerle, das ist nur die Vorwarnung. Sofort zurück!

      Keiner rührte sich. Er wollte die vordersten mitzerren. Eine Frau sagte zu ihm:

      – Schämen Sie sich! Das sind doch noch Kinder!

      – Solche wie die sind im Reich längst an der Front! Los, Kameraden!

      Ein älterer Herr faßte ihn unterm Kinn.

      – Zeig dich, damit ich mir dein Gesicht merken kann!

      Der Kamerad ließ die Schultern hängen und zog ab. Wer hat eigentlich mehr Angst – sie oder wir?

      Nach der Entwarnung fuhren wir mit dem ersten Tram nach Hause. Alles war uns egal. Ich bin nicht einmal mehr bei A. ausgestiegen. Ich könnte sie heute nicht anrühren.

      Es ist Abend, ich schreibe im Bett, Mutter hat mir die Temperatur gemessen. Ich hab’ ihr nichts gesagt. Warum soll sie Kummer haben für zwei? Eben ist Petr weggegangen, er hat ein paar Tage Urlaub. Seine Septima schaufelt Panzergräben bei Ostrava. Er hat mir erzählt, daß zwei Jungs aus einem andern Gymnasium erschossen wurden, weil sie in der Nacht mit der Taschenlampe aufs Klosett gingen. Er ist mager und ganz anders geworden. Ich habe ihm gesagt, was wir im Rundfunkensemble proben, aber er hört überhaupt nicht zu. Später hat er sich meinen «Cyrano» geborgt.

      Wann wird man uns einziehen?

      Vater hat mir die letzten Nachrichten mitgeteilt. Die russischen Panzerdivisionen greifen ununterbrochen an. Im Westen nichts Neues. Ich bin wieder allein und den Tränen nahe. Überall Tod und Tod. Warum geht das alles so langsam? Und warum hat man das Mädchen umgebracht? Wie, wenn auch sie jemand liebgehabt hat, so wie ich A.? Wie viele von uns müssen noch unnötig sterben? Muß ich auch?

      Was ist das Leben eigentlich, wenn es so sinnlos enden kann? Kommt danach wirklich etwas? Gibt es einen Gott? Wie schrecklich anders als alles übrige sind die Toten! Was, wenn Petr recht hat? Wenn nachher nichts kommt? Ich habe Angst. Angst um A., um meine Eltern, um mich selbst. Wenn wir sterben, begegnen wir uns wahrscheinlich nie mehr wieder. Höchstens in jener Kapelle. In jener abscheulichen Kapelle.

      Vater unser, wenn Du bist im Himmel, Dein Name werde geheiligt, Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel, schütze uns vor denen, die vom Himmel her töten, und führe bald zu uns, die über die Erde fahren, und segne, o Herr, ihre Panzer, auf daß der Stern aus Osten wie der von Bethlehem unsere Nacht durchstrahle, Amen.

      21.Januar 1968

      (aus dem Tagebuch des Schriftstellers PK)

      Praha

      Draußen vor den Fenstern leuchtet in der Wintersonne die Burg, durch das Matthias-Tor strömt der sonntägliche Korso, es ist eine Sünde, zu Hause zu sitzen, ich habe Hunger wie ein Wolf, aber ich kann mich nicht von meiner Lektüre losreißen.

      Zweitausend hektographierte Seiten: das Protokoll der Dezember- und Januartagung des ZK der KPČ, das ich noch heute zurückgeben muß.

      Ich weiß überhaupt nicht, was ich davon denken soll! Es ist unendlich weniger, als nötig war. Aber es ist unendlich mehr, als man von ihnen erwarten konnte.

      Waren sie sich überhaupt bewußt, was sie tun? Oder halte ich sie einmal mehr zu etwas fähig, das ihnen überhaupt nicht in den Sinn kam?

      Wenn man so liest, einen nach dem andern, und sieht, wie sie nahezu alle von der unerwarteten Situation nach Jahren gezwungen wurden, den tatsächlichen Zustand ihres Geistes zu offenbaren, wird man sich erst in vollem Umfang der katastrophalen Folgen des stalinistischen Parteimodells bewußt.

      Nicht wenige von ihnen könnten in diesem Land, wo Sechzehnjährige einen Automotor reparieren und Putzfrauen die Entwicklung im Nahen Osten analysieren, unter normalen Umständen nicht einmal eine Straßenbahn führen.

      Der Rest hat in rührendem Einvernehmen mit den andern noch vor vier Monaten, als Vergeltung für den Schriftstellerkongreß, die «Literární noviny» liquidiert und drei aufrichtige, hochgebildete Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen.

      Mit ihnen, oder besser durch sie – altverdienten Apparatleuten, aber auch unverfälschten Universitätsprofessoren –, hat für volle zwölf Jahre ein Mann regiert, den eine geradezu außerordentliche Durchschnittlichkeit sämtlicher Maßstäbe kennzeichnet, mit denen sich das Phänomen des Menschen auflösen läßt. Alljährlich, nach dem Abschluß des Umzugs am Ersten Mai, hielt er ein Extempore, das der Rundfunk in die entferntesten Weiler übertrug; diese gehören zum goldenen Grundstock aller Tonbandsammler.

      Ich selbst habe mir oft zur Ergötzung des Geistes die Euphorie, mit der von der Tribüne her den Massen die berühmte Botschaft zuteil wurde, vorgespielt: – Es wird Fleisch geben, Genossinnen, Fleisch wird es geben!

      Ich stöbere meine Papiere durch, um die Notizen über seine Begegnung mit tschechischen und slowakischen Schriftstellern im ZK-Gebäude am 24. 1. 1963 zu finden. Hier sind einige der staatsmännischen Gedanken, die heute fast auf den Tag genau fünf Jahre alt werden!

      «Die ‹Literární noviny› mischten sich in Bereiche ein, für die ihnen die fachliche Qualifikation fehlt – so in die Ökonomie oder die Politik –, anstatt eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Ideologie des Verfalls in der Kunst zu spielen, wie die Partei sie von ihnen erwartete, als sie sie bewilligte.»

      Seine eigene fachliche Qualifikation als Partei- und Staatschef stellt er sogleich mit weiteren Aussprüchen unter Beweis:

      «Wir waren imstande, das Plansoll für das Jahr 1962 zu erfüllen und den Start ins Jahr 1970 zu vollziehen, aber da kam uns der Winter dazwischen.»

      «Wir


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