Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout
zwanzig Jahren habt ihr einen ungeheuren Sieg errungen: ihr habt uns glorreich dorthin gebracht, wo wir schon vor zwanzig Jahren waren. Und erwartet sogar, daß wir euch für die schöne Aussicht danken. Kehr allein zurück, mich interessiert sie nicht. Wir haben euch zu gut kennengelernt, um glauben zu können, daß wir sie noch je erleben werden. Fahr und sorg dich nicht, ich gehe hier nicht verloren. Ich hab es satt, das Leben im Käfig. Und schließlich bin ich glücklicherweise eine Frau. Fahr ruhig, ich garantiere dir, daß ich auch ohne dich spätestens am Abend in Rom bin, in einer Woche verlobt und in einem Monat verheiratet – nicht nur reich, sondern auch aus Liebe. Euretwegen haben wir noch einen Vorteil. Damit wir unsere Herzen ganz der Weltrevolution geben, habt ihr uns schon in der Schule verheimlicht, daß wir ein Vaterland haben. Es galt als sträflich dumm, die Nationalhymne zu singen oder die Fahne zu hissen, wenn nicht die Fahnen unserer Brüder daneben wehten und ihre Hymnen miterklangen. Ihr habt uns gelehrt, was der Erste Sekretär der mongolischen Partei über die Schafzucht sagte, aber ihr habt uns verheimlicht, daß der erste Präsident unseres Landes ein Philosoph war. Ihr habt das Haus, das Wladimir lljitsch Lenin einmal zufällig aufsuchte, in ein Museum verwandelt, aber ihr ließt uns unwissend am Haus vorbeigehen, wo Franz Kafka geboren wurde und schrieb. Statt zur Gruft der böhmischen Könige habt ihr uns zur einbalsamierten Leiche Klement Gottwalds geführt. Ein paar Jahre später habt ihr sie mit der scheltenden Bemerkung verbrannt, daß es sich um ein typisches Produkt des Personenkults gehandelt habe. Als ob er sich selbst einbalsamiert hätte. Dann brach die Zeit der Führer an, die nicht einmal eine Persönlichkeit hatten. Kein Wunder, daß ihr das Staatswappen abändern und die nationalen Traditionen verleugnen mußtet, um den Unterschied zu vertuschen. Ihr habt darauf bestanden, daß wir reine Internationalisten werden. Das hat uns viel Mühe gekostet, aber es hat sich gelohnt. Wir konnten unsere sentimentalen Fesseln abstreifen. Jetzt können wir Prag gegen jede Stadt austauschen und büßen nicht mehr ein als ein paar schöne Portale, die man überall finden kann. Wir können Hymne, Fahne und Sprache wechseln, ohne mehr zu verlieren als einige leere Symbole, die man in der ganzen Welt haben kann. Niemand hat uns Geschichte und Tradition eingeprägt. Wir können das Vaterland wechseln, wie man aus einer Tram in die andere umsteigt. Ich bin nicht sicher, ob ihr das gerade wolltet, aber Tatsache ist, daß ihr es erreicht habt. Heute sehe ich, daß es nicht einmal schwer ist, dich zu verlieren. Wenn du in der Gasse da drüben verschwindest, werde ich das Gefühl haben, du seiest nie gewesen.
Das genügte mir. Ich stand auf und legte ihren Paß auf den Tisch. Dann ging ich zum Wagen, holte ihren Koffer heraus, ihre Handtasche, ihre hier und dort verstauten kleinen Sachen. All das legte ich auf das glühende Pflaster und schlug hinter mir die Tür zu. Der Wagen glich einem Backofen. Ich öffnete schnell alle vier Fenster und startete. Noch einmal wandte ich mich nach ihr um. Sie saß regungslos hinter den beiden Gläsern, allein auf der riesigen Bühne zwischen dem Palazzo dei Priori und dem Dom, die ich nun nach meinem letzten Auftritt verlasse. Jetzt wußte ich es bereits sicher, daß ich es fertigbrächte. Sie war fremd und fern wie die Liebschaften meiner Jugend, ebenso unwirklich und unglaubhaft. In mir blieb weder Liebe noch Verantwortungsgefühl zurück. Das wollte sie übrigens gar nicht. Sie gehörte schon einer anderen Welt an. Sie hatte ihr immer gehört, nur meine ewige Naivität hatte mir das Gegenteil eingeredet.
Ich lockerte die Bremse. Der Wagen kam auf der schrägen Fläche allmählich ins Rollen. Im Rückspiegel erschienen noch einmal die bunten Tische. Dann öffnete sich die gegenüberliegende Gasse. Nichts rührte sich in mir. Im Gegenteil. Ich begann über die jungen schönen Damen nachzudenken, denen ich übermorgen im augustwarmen Prag begegnen würde. Über die fünfzig, die alles wegwerfen würden, um an meinem ganz und gar neuen Leben teilzunehmen.
Der Schweiß brach in Strömen aus mir heraus, aber er war mir zum ersten Mal nicht unangenehm. Die Sonnenglut reinigte wie eine Sauna. Die geistige Vorbereitung war tadellos verlaufen. Ich konnte es also wirklich versuchen.
– Na also, sagte ich, auf deine Befreiung vom Vaterland und auf meine von dir!
Sie trank mir zu. Ich stand auf und legte ihren Paß auf den Tisch.
– Vielleicht nützt er dir noch eine Weile.
Eben erhob ich mich und nahm meine Kräfte zusammen, um den Wagen in geradem Gang zu erreichen, als eine unheimliche Stimme ertönte. Es war ein langgezogenes Geheul, vom Echo verstärkt.
Aus der mittelalterlichen Kulisse kam durch einen steinernen Torweg ein braungebrannter Mann mit einem Stoß Zeitungen auf die Bühne gelaufen. Als er fast bei mir war, rief er nochmals mit meckernder Stimme:
– Cecoslovacchia è occupata!
Auf dem riesigen Blatt Papier, das er direkt vor meine Augen hielt, sah ich die vertrauten Grenzkonturen, von allen Seiten durchbohrt von den Pfeilen militärischer Operationen. In einer Großaufnahme zielte die Kanone eines Panzers aus der Ecke mitten hinein.
Ich vergegenwärtigte mir mit Erleichterung, daß ich betrunken war. Manchmal kommt es vor, daß ich nach Alkoholgenuß einschlafe und dann öfter als sonst meine grotesk-absurden Träume habe. Da hörte ich einen seltsamen Laut und wandte mich um.
Sie weinte.
Ich sah mir den Panzer genauer an.
26. II. 45
Praha
Der Matheprofax hat wie immer mit dem arischen Gruß angefangen. Er hat sich dabei fast die Glieder ausgerissen. Er ist der einzige, der es noch tut. Und der einzige, der prüft, obwohl er weiß, daß wir bald drankommen. Die Septimen sind schon im Totaleinsatz. Jetzt werden wir verfeuert.
Er hat die Stunde mit der Mitteilung eingeleitet, daß ein Panzergrenadier fünf russische Panzer vernichtet habe. Weiß er wirklich nicht, daß die russischen Panzer die Deutschen eben von der Weichsel zur Oder jagen?
Er hat einen Jungen aus der Nachbarsexta angezeigt, als der den Stern über der Schulweihnachtskrippe rot angemalt hatte. Am Weihnachtstag hatten sie ihn nach Dresden geschickt. Nach dem Angriff am 14. Februar ist er dort liegengeblieben. Wer weiß, vielleicht hätte es ihn auch in Prag erwischt. Trotzdem sagt man, daß der Matheprofax hängen wird. Ob er Angst hat?
Dann kam der Direx in die Klasse, um sofort Freiwillige zu Räumungsarbeiten abzukommandieren. Dem Mathefritzen zum Trotz haben wir uns alle miteinander gemeldet.
Vor der Direktion wartete ein blonder Beau des Kuratoriums für Jugenderziehung auf uns. Das war Verrat. Niemand aus unserer Klasse war im Kuratorium, unsere Mütter ließen uns dafür die Mandeln operieren und ärztliche Zeugnisse über unsere schwächliche Konstitution ausstellen.
Aber da war nichts zu machen. Er schrieb sich unsere Namen auf, und los ging’s. In dem Tram haben wir geblödelt, ein künstliches Gedrängel gemacht und fürchterlich gelacht. Wir waren vierzig, er kannte uns nicht beim Namen, und so schrie er nur die ganze Zeit:
– Kameraden, Diszipliiin!
Einmal fügte er beinahe rachsüchtig hinzu:
– Euch wird der Spaß bald vergehn!
Wir stiegen in Strašnice aus, an der Kreuzung bei den drei Friedhöfen. Wir murrten auf, hier ist doch nicht bombardiert worden. Ihm machte das keinen Eindruck, und er ging voran, in der Hand unsere Liste. Wir mußten ihm nach. Wir betraten den Neuen Jüdischen Friedhof. Hinter dem Tor schlug uns ein ekelhafter Gestank entgegen, wie von schrecklich verfaulten Kartoffeln. Slávek meinte, wir würden Kartoffelsilos ausgraben. Robert sagte:
– Diese Deutschen sind doch Schweine.
In der Hauptallee zwischen den Gräbern stand ein Mann in einem weißen Mantel hinter einem Tisch. Vor ihm waren Zigarettenpäckchen und kleine Gläser mit einer braunen Flüssigkeit ausgerichtet.
– Also los, Jungs, sagte er, jedem zehn Stück und einen hinter die Binde. Das ist ein ehrlicher Schluck.
Bis heute habe ich weder geraucht noch getrunken. Wie der Großteil der Klasse. Die Zigaretten sind rationiert, und auch für Raucher gibt’s wenig. Ich freute mich darauf, sie Vater mitzubringen.
Die Jungs begannen zu trinken. Ihre Wangen wurden rot, und sie fingen an, Schlager zu grölen. Ich trank auch, damit man mich