Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout
Meines hingerichteten Onkels, meines erschossenen Dichters Vančura, der Toten der Konzentrationslager wegen. Und auch meiner und Deiner sechs Jahre Hoffnungslosigkeit wegen.
Das Vestibül begann zu beben. Im Keller explodierten Granaten. Ich suchte jemanden, der mir eine Waffe geben konnte, aber die schon Soldaten gewesen waren, hatten Vorrang. Da stieß ich plötzlich auf Herrn Karel.
– Komm mit, flüsterte er mir zu, weil du’s bist!
Er mag mich wegen der Fuhrmannslaterne, die ich ihm für seine Requisitensammlung gebracht habe. Er führte mich in sein Lager. Auf dem Boden lag ein Haufen deutscher Helme, Gasmasken, Gürtel, Mützen und Rangabzeichen.
– Das würd’ verschleppt und verschwinden, sagte er triumphierend, wir müssen jetzt schon an die Theater denken!
Ich nahm mir einen Helm, einen Gurt und ein Bajonett. Sie liegen jetzt auf Deinem Bett. So eilte ich zu unserem Rendez-vous. Die Straßen waren wieder voll Menschen. Man richtete Barrikaden auf. Gerade vor unserem Kino kippten die Leute einen Tramanhänger um. Der Triebwagen lag schon auf der Seite in einem Haufen von Glassplittern. Du erschrakst: – Wo ist Robert? Wo sind die Jungs?
– Wahrscheinlich sind sie nicht durchgekommen. Mir ist es auch erst im letzten Augenblick gelungen.
– Ich habe Angst um die Eltern. Es fahren ja keine Züge mehr. Sie haben uns umzingelt.
– Die Amerikaner sind in Pilsen. Spätestens morgen früh sind sie in Prag!
Drei Stunden lang waren wir zwei Glieder einer Menschenkette. Die Pflastersteine, über die ich Dich so oft begleitet habe, wanderten durch unsere Hände. Ich hätte nie geahnt, was so eine Straße wiegt. Es fing an zu regnen. Über Deine Wangen lief das Wasser herab, der Stein rieb Dir die Hände wund. Und doch hast Du durchgehalten. Ich will, daß Du weißt, daß ich glücklich und stolz war. Ich sah eine lebendige Jeanne d’Arc vor mir. Und das war meine Liebe!
Wir kamen vor Euer Haus. Aus allen Richtungen hörte man Schüsse. Auf der anderen Seite der Stadt stiegen im Nebel Leuchtraketen auf. Du fragtest:
Wohin gehst du?
Ich weiß es nicht.
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Und dann hast Du es doch gesagt: Ich mach’ dir das Bett in der Küche.
Ich saß angekleidet auf den Sofakissen, die zwischen dem Küchenherd und dem Eßtisch auf dem Fußboden lagen. Ich hörte zu, wie im Badezimmer Wasser floß. Du kamst im Schlafrock, und darunter schleiften die Pyjamahosen Deines Vaters über den Boden. Du warst rührend wie ein Lustiger August. Ich sagte es Dir. Du lachtest. Eine ganz neue Vertrautheit verband uns. Du fragtest:
Warum schläfst du nicht?
Ich stand auf.
Ich habe einen Wunsch, einen einzigen Wunsch, ich möchte bei dir sitzen und deine Hand halten, bevor du einschläfst, ich schwöre, ich werde nichts anderes tun.
So betrat ich zum zweiten Mal im Leben das Zimmer, wo wir uns vor einem Vierteljahr geküßt hatten. Wie anders war es mit der Verdunkelung, beim Schein der Tischlampe, wie anders warst Du, mit dem Kopf auf dem Kissen. Ich legte Gurt, Helm und Bajonett ab, aber der Krieg blieb mit uns, im Rundfunk ertönte immer wieder ein alter Sokolmarsch als Signet des kämpfenden Volkes. In den Pausen wurden auf russisch und auf englisch die alliierten Truppen gerufen. Dazwischen eine Warnung, daß von Benešov her deutsche Panzer angefahren kamen.
Wir hielten uns an den Händen. Lange. Dann wurde ich verrückt.
– Ich habe zwei Geliebte, dich und die Republik, mit einer bin ich beisammen, zur andern geh ich in einer Weile; wenn Gott mir schon diesen Abend vergönnt hat, laß mich meine Hand auf dein Herz legen, ich will sterben, wenn ich mehr möchte als die Wärme, die ich als Geschenk in meiner Hand mitnehmen will.
Du lagst regungslos. Ich war verzweifelt. Es blieb mir nichts übrig als aufzustehen und schnell fortzugehen. Da hörte ich Deine Stimme.
– Dreh das Licht aus ...
Ich gehorchte. Hitze übergoß mich. Stoff raschelte. Deine Hände umarmten mich und zogen mich zu Dir. Die Pyjamajacke Deines Vaters war nicht mehr da, nur Haut. Ich legte beide Hände auf Deine Brust. Sie war warm und lebendig. Ich legte meinen ganzen Körper an sie. Mir schien, ich würde bewußtlos. Ich hörte Dich von fern:
– Hast du schon jemanden gehabt?
– Nein ... und du?
– Ich auch nicht ... So komm, wir werden uns haben ...!
Für einen Augenblick stand mir das Herz still. Ich öffnete die Augen. Nur schwach erkannte ich die Umrisse der Gegenstände. Entfernte Schüsse übertönten den Regen.
– Nein ...
– Warum nicht ...?
– Ich habe es dir geschworen ...!
Ich will, daß Du weißt, warum ich das sagte! Ich kenne Dich. Ich weiß, wie lang es damals dauerte, bevor ich Dich an der Hand nehmen durfte. Ich sehne mich nach Dir. Aber ich will nicht, daß Du Dich mir gibst in dieser Nacht des Abschieds und des Blutes. Das erschiene mir wie ein Opfer. Ich will kein Opfer, ich will Liebe. Ich will Dich im Juni haben, wenn das Heu duftet, auf einer stillen Wiese, wohin alle Sterne fallen. Um diesen Juni wird jetzt die Schlacht geschlagen. Warte auf mich, und ich kehre zu Dir zurück. Ich bin unverwundbar, wenn mich meine Jungfrau erwartet.
Du küßtest mich.
– Du bist brav!
Jetzt schläfst Du, meine Liebe, zu einem Knäuel zusammengekauert wie ein Kind. Vorher hast Du noch geflüstert:
– Geh nicht fort, bleib bei mir ...
Aber ich muß. Ich habe es Dir versprochen. Uns beiden habe ich’s versprochen! Auch dem, der kommen wird und der sich nie seines Vaters schämen darf. Wenn es sein muß, werde ich auch töten können. Wenn es sein muß – das glaube ich fest –, werde ich auch sterben können.
Ich hasse eine Welt, in der ich beim täglichen Abschiednehmen fürchten muß, es sei ein Abschied für immer. Aber heute ist diese Welt noch da, und sie schlägt wild um sich. Deshalb habe ich Dein Schulheft genommen, und deshalb schreibe ich Dir diesen Brief. Ich bete zu Gott, daß Du ihn nie erhältst. Wenn ja, so wird er mein Testament. Sag meiner Mutter, sie möge mir verzeihen. Und sag meinem Vater, daß ich zwar Vernunft hatte, aber dazu auch noch Ehre.
Und Du, lebe. Auch für mich. Wenn Du einmal mit einem andern einen Sohn hast, gib ihm wenigstens meinen Namen.
Ich küsse Dich, meine Frau.
P.S. Ich will Dich nicht wecken. Ich steige durchs Fenster hinaus.
Mittwoch, 21. August 1968
(Fortsetzung)
Roma
Ich fand die Ausfallstraße ohne Karte. Die brauche ich zur Rückkehr nie. Wie ein Hund folge ich meiner eigenen Spur.
Der Film spult sich rücklaufend ab: das ockergelbe Gubbio in der baumlosen Landschaft wie eine sonnenbelagerte Festung, die eingebohrte Serpentine, wie ein Blitz zwischen den rosa Palästen Urbinos, weiter nach Norden, zwischen der Skylla Rimini und der Charybdis San Marino hindurch nach Ravenna, vorbei an der abscheulichen Steinrakete des Dante-Grabmals, vorbei an Chioggia, hinter dem im seichten Meer das berühmte Wrack Venedig verfault, den Dolomiten entgegen, die heranstürmen wie eine Brandung, der Film läuft schneller, jetzt beginnt die steinerne Ebbe, Lienz als Sprungbrett zu neuem Anlauf auf die Berge, der Großglockner im Nebel, Salzburg mit dem Stirnband der Burg, das langweilige Linz als seltsame, verschwommene Kindheitserinnerung, Landschaft – Vorahnung, Landschaft – Vorzimmer des Vaterhauses, die letzten hundert Meter, der Film reißt ab.
Unter dem Schlagbaum, mitten in der Fahrbahn, ein Panzer. Er sieht mich mit dem riesigen Zyklopenauge des Kanonenlaufs an. Ich drücke gleichzeitig auf das Signal und aufs Gas. Der Renault stürmt vorwärts wie ein Kriegsroß, gerade auf die Metallanze zu, die mir den Weg nach Hause versperrt.
Die Tachonadel