Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout

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sein, vor dem sich die Tore der Barrikaden öffneten, das Klingeln an unserer Tür und Mutters Tränen, die sich gleichzeitig ärgert und freut, der Gang mit Vater durch die Stadt, wo anstelle der Trams endlose Kolonnen von Panzern verkehren. Die besiegten Herren Europas in langen Marschkolonnen, eskortiert von einem kleinen fröhlichen Soldaten, der ihnen mit seiner Mundharmonika den Marsch bläst. Und die Sieger, die tausend Kriegsnächte nachholen und auf den Stufen des Museums schlafen, zusammengedrängt wie die Tauben. Kollaboranten mit dem Hakenkreuz auf dem Rücken beim Wegräumen der Pflastersteine. Und auch ein lebendig verbrannter Gestapomann, an den Füßen an einer Laterne aufgeknüpft. Mir wird übel. Ich fragte Vater:

      – Ist das Gerechtigkeit ...?

      – Nein! Das ist Barbarei. Die das getan haben, sind nicht besser als er.

      Wir verabschieden uns voneinander. Ich breche im Park Fliederzweige ab und laufe zu A. Ich werfe den Strauß ins Zimmer. Sie erscheint im Fenster. Nein, sie kann nicht mit mir gehen, eben sind ihre Eltern zurückgekehrt. Ich verstehe, aber ich warte wenigstens auf ein Wort, das unsere Nacht bestätigt.

      – Komm wieder mal vorbei.

      Ich bin enttäuscht. Aber gleich schimpfe ich auf mich. Hätte sie mir vor der ganzen Straße eine Liebeserklärung machen sollen? Ich werde warten und mich freuen!

      Wiederum zu Fuß quer durch ganz Prag. Auf dem Wenzelsplatz wird getanzt. Vor der Karlsbrücke tränken Kosaken ihre Pferde. Ein lebendes Bild von Mikoláš Aleš aus dem längst verlorenen Lesebuch. Auf dem Rasenplatz vor dem Rudolfinum wird ein sowjetischer Soldat begraben. Ein Mädchen in Uniform hat seinen Kopf auf ihren Knien und wehklagt in langgezogenen Tönen, es ist fast ein Gesang, ein Lied der Liebe und des Leids. Sie weint, und ein Halbkreis stoppelbärtiger MP-Schützen weint mit ihr. Eine Insel der Trauer im Meer der Freude.

      Ich begegne einer Kolonne Lastautos. Auf den Bänken halten Rotkreuzschwestern seltsame Wesen um die Schultern. Sie sehen gar nicht wie Menschen aus. Unter kahlen Schädeln versuchen zahnlose Münder zu lächeln. Es dauert eine Weile, bevor ich begreife, daß dies Frauen sind. Die Gräber der Konzentrationslager öffnen sich.

      Alles tun, damit das nie wiederkehrt!

      Ich klingelte bei Petr. Er war vor einer Weile gekommen und gerade eingeschlafen. Auch er war irgendwo beim Funkhaus. Ich wollte ihn nicht wecken und ging inzwischen zu Robert. Ich fand dort nur seine verängstigte Mutter. Rob ist Samstag mittag weggegangen wie wir, aber noch nicht zurückgekehrt.

      So begannen wir die Suche nach ihm.

      Erst vorgestern hat Slávek ihn in der Pankrác-Turnhalle gefunden, die in ein riesiges Leichenhaus umgewandelt war. Er trug die Uniform des Afrikakorps mit der Armbinde der Revolutionsgarde. Er ist auf seiner Barrikade geblieben bis zum Schluß. Eine Handgranate riß ihm ein Stück Schädel weg. Sechs Tage hat er dort auf uns in der Maihitze gewartet.

      Seine Mutter brach zusammen. Wir wollten sein Begräbnis bestellen, aber es gab so viele Tote, daß die Totengräber vor Müdigkeit umfielen.

      Wir haben uns vom Luftschutz Gerät geliehen. Mit Petr und Slávek haben wir ihm heute früh auf dem Olsaner Friedhof ein Grab gegraben. Den Sarg haben wir in einem deutschen Militärmagazin aufgetrieben. Über dem Grab sangen wir ihm die Nationalhymne. Mir gegenüber stand A. in einem ausgeliehenen schwarzen Kleid. Sie war schön.

      Auch in diesem Augenblick wollte ich zu ihr gehen und sie küssen.

      Rob, Robek, verzeih. Wovor ich solche Angst hatte, das ist dir geschehen. Du bist von uns gegangen, ohne zu erkennen. Gerade du, der von uns allen am meisten das Leben liebte, bist freiwillig zum Kämpfer und Märtyrer geworden.

      Ich schäme mich.

      Auf dem Altstädter Ring spricht Präsident Beneš von der Zukunft. Dir wird sie nicht mehr gehören, obwohl du ihrer am meisten würdig bist.

      Leb wohl, Robert.

      Ich hebe deinen handschuh auf und werde ihn weitertragen als meine fahne!

      Mittwoch, 21. August 1968

      (Fortsetzung)

      Roma

Er Das ist der dritte und der schwerste Schock meines Lebens!
Ich Und was waren die andern zwei?
Er Stalins Tod und die Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteikongreß. Der Tod bedeutete das Ende eines Mythos. Die Rede den Verlust der Sicherheit.
Ich Was hast du heute verloren?
Er Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, es auszusprechen.
Ich Leben deine Eltern noch?

      Er hörte auf, das Glas zu drehen, in dem rhythmisch der Eiswürfel an die Wand stieß. Er nickte. Es war offensichtlich, daß er nach dem Sinn der abwegigen Frage forschte.

Ich Du bist älter als ich, aber ich bin heute – leider – erwachsener. Ich erinnere mich genau an den März 53 und an den Frühling 56. Damals war auch ich überzeugt, daß eine Welt zusammengebrochen war. Aber dann habe ich kurz nacheinander beide Eltern begraben. Erst seither hat mein Leben einen Maßstab erhalten.
Er Du verbindest Unverbindbares. Ich bin vierzig wie du, und auch ich habe einiges durchstehen müssen. Die Scheidung ... anderes. Ich unterschätze die menschliche Sphäre des Lebens nicht. Aber wir sind eine streng determinierte Generation. Die Politik ist ein autonomer Bestandteil unserer Schicksale geworden. Politische Erschütterungen gefährden unsere Existenz ebenso wie persönliche, manchmal sogar mehr. Denk nur an die Selbstmordserie dieses Frühlings. Diese Menschen waren noch erwachsener als wir, sie hatten die Front und die KZ absolviert, und sie haben sicher auch ihre privaten Gewitter erlebt. Und doch genügte der Zusammenbruch einer politischen Konzeption, um ihr gesamtes menschliches Gleichgewicht zunichte zu machen.
Ich Wenn du nicht die Ehrenwerten meinst, die hinter sich die Tür zugeschlagen haben, weil sie die Zerstörung des Gleichgewichts anderer nicht verantworten konnten – dann ist das allerdings das schwerste Argument gegen uns.
Er Sind wir schuld, weil wir uns für mehr engagiert haben als nur für uns selbst?
Ich Wir haben den Kommunismus gewählt als Waffe gegen den Hunger, der mit uns von Kindheit an beim Abendessen saß, gegen den Tod, der seit der Heydrichiade mit uns auch in die Schule ging. Wir haben den Kommunismus gewählt als Arznei gegen Angst. Als höchste Form wirtschaftlicher und geistiger Freiheit. Wir haben ihn, kurz gesagt, im Namen des Lebens gewählt, er sollte unserer Selbstverwirklichung einen maximalen Raum gewährleisten. Auch wenn wir noch so naiv, noch so emotional, noch so dogmatisch gewesen sind, auch wenn wir wirklich bereit waren, im Namen der Weltrevolution jedes Opfer auf uns zu nehmen – hinter aller Abstraktion waren doch ganz konkrete menschliche Wünsche: schöpferisch tätig zu sein, zu lieben, banal gesagt – glücklich zu leben. Ist es nicht absurd, daß wir beinahe bis zur Negation der grundlegendsten Lebenswerte gelangt sind?
Er Unsinn. Wir haben nichts negiert! Wir haben nur den Weltkontext unserer Revolution falsch eingeschätzt. Wir haben damit gerechnet, daß die Welt, von den faschistischen Verbrechen erschüttert, aus ihrer Erkenntnis augenblicklich die Konsequenzen zieht, wie sie die Tschechoslowakei gleich in ihren ersten Nachkriegswahlen zog. Wir haben geglaubt, daß das nur eine Frage weniger Jahre ist. Wir haben die Stärke des Imperialismus ignoriert. Und zugleich auf der eigenen Seite den menschlichen Faktor unterschätzt. Wir waren rein und setzten die Reinheit bei allen andern voraus. Wir konnten nicht ahnen, daß die bewährten Führer der Revolution den Klassenkampf in eine Inquisition umwandeln!
Ich
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