Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs - Pavel Kohout


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Jahren zu erfreulicher Aktivität erwacht:

      Heute, zwei Stunden nach Mitternacht, hat mich ein gewisser Herr Novák, wie er sich vorstellte, angerufen und sagte ungeduldig:

      – Also wo willst du hängen, du rote Sau?

      Ich überlegte. Dann antwortete ich ihm wahrheitsgemäß, daß ich eigentlich überhaupt nicht hängen will.

      Er lachte hämisch und sagte, daß meine Meinung vielleicht zu Novotnýs Zeiten etwas bedeutet habe, aber jetzt, wenn die Freiheit einmal ausbreche, würde sich niemand mit mir unterhalten.

      Inzwischen wachte ich völlig auf und fragte ihn, warum er von mir derartige Nebensächlichkeiten wissen will.

      Er begann mich zu verfluchen und riet mir, nicht zu glauben, daß irgendein Trick mit Dubček uns vor einem neuen Budapest rettet. Er, Herr Novák, ist beauftragt, sich um mich zu kümmern.

      Ich fragte höflich an, ob ich hinunterkommen soll oder ob er sich in meine Wohnung bemühen will.

      Darauf eröffnete er mir, daß mir die Zoterei bald vergehen wird, und hängte ein, ohne sich zu verabschieden.

      Nein, man kann sicherlich nicht sagen, daß das politische Geschehen in unserem Vaterland uninteressant ist. Meine persönliche Situation ist allerdings ziemlich kompliziert.

      Denn sowohl Herr Novák als auch der Genosse Morávek sind offensichtlich vom gleichen Maß edler Beweggründe durchdrungen. So stellt sich mir die Frage, welchem von beiden ich den Vorrang geben soll.

      Ich stelle mir vor, wie die Sache ablaufen wird, wenn zufälligerweise beide zur selben Zeit eintreffen. Der Genosse Morávek hat versprochen, mit der Arbeiterklasse zu kommen, aber auch Herr Novák hat nicht ausdrücklich gesagt, daß er mich allein besuchen will.

      Vor meinem Haus werden einander wahrscheinlich zwei Menschenhaufen begegnen.

      Wenn man mich fragt, muß ich selbstverständlich wahrheitsgemäß sagen, daß der Genosse Morávek sich als erster angemeldet hat. Dann kommt es nur noch darauf an, ob Herr Novák das anerkennt.

      Schwieriger wird die Sache, wenn mich niemand fragt. In diesem Fall müssen beide Seiten ihre Argumente darlegen.

      Herr Novák reklamiert seinen Anspruch auf mich mit der Beschuldigung, daß ich in meinen Werken die Partei glorifiziert habe.

      Der Genosse Morávek wird seinen Vorrang damit begründen, daß ich in meinen Werken die Partei in den Schmutz gezerrt habe.

      Herr Novák wird anführen, daß ich dem Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes angehört habe.

      Der Genosse Morávek wird einwenden, daß ich dem Zentralkomitee des antikommunistischen Schriftstellerverbandes angehöre.

      Herr Novák wird erklären, daß ich mich an Moskau verkauft habe.

      Der Genosse Morávek wird erklären, daß ich mich an den Westen verkauft habe.

      Herr Novák wird ausrufen, daß ich die Demokratie verraten habe.

      Der Genosse Morávek wird ausrufen, daß ich die Revolution verraten habe.

      Herr Novák wird böse.

      Der Genosse Morávek wird gleichfalls böse.

      Beide Haufen beginnen drohend zu murmeln. Eine allgemeine Schlägerei wird sich abzeichnen.

      Dann kommt mein großer Augenblick!

      Ich rufe ihnen aus dem Fenster zu, ich sei Jude.

      Im selben Moment sind beide Parteien handelseins, und meine Aufknüpfung verläuft ohne weitere Schwierigkeiten in lustiger, tatkräftiger Zusammenarbeit aller.

      Das beste daran wird sein, daß ich überhaupt kein Jude bin.

      Doch das sage ich ihnen nicht. Ich werde mit dem herzerquickenden Gefühl das Zeitliche segnen, daß ich mich um die Einheit beider extremen Flügel unserer Gesellschaft verdient gemacht habe.

      Zum Glück hat sich das Interesse unserer Gesellschaft ganz anderen Dingen zugewandt: der Winterolympiade in Grenoble, wo sich die tschechische und sowjetische Eishockeymannschaft begegneten. In der letzten Minute des Kampfes, als die ČSSR mit 5:4 führte, ging die sowjetische Mannschaft zum Powerplay über. Die Unsern vollbrachten wahre Wundertaten und haben nach 10 Jahren und 20 Niederlagen endlich gesiegt. Vor Freude hat sich die Bevölkerung betrunken. Als ich die Flasche entkorkte, drückte ich mein Erstaunen darüber aus, daß Z. die letzte Phase des Kampfes ohne sichtbare Aufregung überlebt hat.

      – Vielleicht ist es Gewohnheit, sagte sie. Du hast wohl nicht gemerkt, daß sie mit uns schon seit 20 Jahren Powerplay spielen.

      26. V. 46

      Praha

      An dem Tag, da wir gemeinsam Robek begruben, an dem Abend, als die Verdunklung aufgehoben wurde und wir vom Letná-Hügel zusahen, wie nach sechs Jahren das befreite Prag die Lichter anzündete, in jener Nacht, da uns der sowjetische Kommandeur zum Lagerfeuer einlud, den Wodka zu kosten – tranken wir einander zu, auf Bruderschaft.

      Das ist heute 375 Tage her.

      So lange bist Du für mich ein echter Bruder gewesen. Wir waren füreinander die ersten Leser unserer Gedichte. Gemeinsam lasen wir zum ersten Mal Fučíks «Reportage am Strang geschrieben», laut, um sie uns ins Gedächtnis einzuprägen. Gemeinsam suchten wir die Quelle der Kraft, die ihn auch auf dem Schafott nicht verlassen hatte, so wie sie die müden Soldaten stärkte, die in der letzten Kriegsstunde zu uns sterben kamen. Wir fanden diese Quelle dort, wo Robert sie zu suchen begonnen hatte, als er im Winter mit dem «Ursprung der Familie» von Engels bei uns erschienen war.

      Und weil uns beiden die dumme Volljährigkeit gefehlt hat, gründeten wir unsere eigene kommunistische Partei. Wir waren vier Mitglieder: Stalin, Fučík und wir beide.

      Gemeinsam kamen wir mit dem fünfzackigen Stern am Rockaufschlag in die Schule und endeten wie die ersten Christen in Rom. Die Herren Professoren aus unserem gutbürgerlichen Stadtviertel prüften uns zweimal täglich, aber wir schufteten bis in die Nacht wie Pferde, so daß jeder schließlich Primus seiner Klasse war. Und eine Menge von Buben fingen an, Marx zu lesen.

      Gemeinsam fuhren wir an Samstagen anstatt zum Fluß auf Nachtschicht in die Gruben von Kladno. Gemeinsam überwanden wir die Furcht vor niedrigen Flözen und dem eingerissenen Hangenden, gemeinsam platzten wir vor Stolz, wenn uns dann am Morgen wirkliche Proletarier zu Salzhering und Bier einluden. Einmal haben wir sogar Slávek dafür gewonnen, so daß wir dann bei der Eßpause auf der Sohle im Sprechchor Nezval und Blok rezitieren konnten.

      Wir waren auch zusammen an dem Novembertag, als die Rote Armee aus Böhmen abzog. Wir standen auf dem St.-Wenzels-Denkmal, um besser unter die Zeltplanen der Lastautos sehen zu können. Von da sahen wir auch die Gesichter, die sich an die Fenster der Cafés, Konzerne und Banken preßten. Und wir lasen in ihnen die Hoffnung, daß nun endlich ihr Augenblick komme.

      Gemeinsam meldeten wir uns im Zentralsekretariat der Partei. Sie konnten uns keinen Mitgliedsausweis geben, aber sie gaben uns wenigstens eine Aufgabe. Während unsere Mitschüler auf den Spielplatz oder ins Kino gingen, nahmen wir beide jeden Tag unseren Kampf um die Welt auf. Die siegreichen Alliierten richteten in Nürnberg die Nazimörder, aber in Griechenland starben wieder Kommunisten. In unseren Zeitungen detonierten die ersten Vorwahl-Propagandabomben. Die Rechte machte kein Geheimnis mehr daraus, daß sie nach ihrem Sieg die Nationalisierung rückgängig machen und das Rad der Geschichte in den Weg vor München zurückstoßen wollte. Wir waren über siebzehn und hatten unsere Lieben – Du viele, ich eine –, und doch schrieben wir statt lyrischer Strophen Agitationsblätter und kämpferische Parolen. Ich schrieb sie auch für sie, weil ich wollte, daß unsere Kinder einmal in einer Welt ohne Not und Elend aufwüchsen.

      Wir waren gemeinsam glücklich, als wir unsere eigenen Reime, noch duftend von Druckerschwärze, eigenhändig unter die Plakate Wählt 1 anklebten.

      Wir waren noch heute morgen zusammen, als wir aufgeregt von Wahllokal zu Wahllokal gingen, obwohl uns der Zutritt verboten war.


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