Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout
der ČSSR haben sich an die Sowjetunion und die übrigen Bruderländer mit der dringenden Bitte um militärische Hilfe gegen die Konterrevolution gewandt.»
Erklärung des Präsidiums des ZK der KPČ:
«Dies geschah ohne Wissen des Präsidenten und des Präsidiums der Partei, der Regierung und der Nationalversammlung. Dieser Akt steht im Widerspruch nicht nur zu den Grundnormen des Völkerrechts, sondern auch zu den Prinzipien der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern.»
Eine Filmreportage. Aufnahme aus dem fahrenden Auto. Ich fahre den Wenzelsplatz hoch. Ein Slalom zwischen Menschen und Panzern hindurch. Woran erinnert mich das? Ich will verlangsamen, aber die Bremse gehorcht mir nicht. Die berühmte dunkle Fassade ist weiß gesprenkelt. Bildstörung? Das Gebäude weicht nach rechts aus. Ich fühle die Machtlosigkeit des Droschkengauls, der verurteilt ist, nur nach vorn zu schauen. Er übersetzt:
– Das Nationalmuseum war Ziel einer kurzen konzentrierten Beschießung.
Ich höre ihr entsetztes Warum ...?
Doch ich weiß es schon. Diese Salve ging vorzeitig los. Sie war für ein anderes Ziel bestimmt. Ich nähere mich ihm durch die Mündung der Weinberger Straße. Sie hat ihren unschuldigen traditionellen Namen wiedererhalten, nachdem sie ein nur wenig dauerhaftes Denkmal von drei Regimen war. Foch-Straße. Schwerin-Straße. Stalin-Straße. Für die Prager – Straße dreier Marschälle. Jetzt haben fünf weitere gleichzeitig ihre Visitenkarten hiergelassen.
Ein umgestürzter Autobus mit erblindeten Fenstern, einsame und vergebliche Barrikade. Vor dem vertrauten Gebäude mit der Aufschrift Tschechoslowakischer Rundfunk brennt ein Panzer. Und im Torweg des gegenüberliegenden Hauses liegen stumme Körper, zugedeckt mit der Fahne.
Wieder! Um Gottes willen, ist es denn möglich, daß die Geschichte sich auf so absurde Weise wiederholt??
– Und das ist die Strafe, sage ich. Das ist die Strafe!
Er wandte sich zu mir um.
– Dazu wär’s nicht gekommen, ohne euch.
29. Februar 1968
(aus dem Tagebuch des Schriftstellers PK)
Praha
Frühmorgens auf dem Vyšehrad-Friedhof Dieses Jahr fehlt er mir doppelt. Wer hat das Glück, den eigenen Vater zum Freund zu haben ... Oder bin ich dadurch im Gegenteil um meinen wichtigsten Opponenten gebracht?
Ich weiß es nicht. Ich stelle mir vor, mit welcher Erregung er diesen Winter erlebt hätte. Jedenfalls würde er heute abend mit allem Pomp seinen neunzehnten Geburtstag feiern!
Welch ein Glück, daß der diesjährige Februar einen Tag mehr hat. Komisch: Voriges Jahr um diese Zeit flossen ganze lange Wochen, die sich ins Leben des Landes ungefähr wie ins Gedächtnis überwinternder Hummeln eingeschrieben haben.
Wenn wir uns nur nicht einmal nach ihnen zurücksehnen!
Die ersten öffentlich vorgebrachten Überlegungen über das Januarplenum finden stürmischen Widerhall. Vor allem das Fernseh-Interview Professor Goldstückers, der den Terminus «aufgeklärter Sozialismus» gebrauchte.
In Prag zirkuliert ein vervielfältigter Brief, unterschrieben von fünf alten Parteimitgliedern mit einem gewissen Genossen Josef Jodas an der Spitze.
Vierzehn dicht beschriebene Seiten: ein wahres Requiem für Antonín Novotný, der «nunmehr der einzige geblieben ist, der das Erbe der Gottwaldschen Parteiführung verteidigt, gegen die Reaktion kämpft und für eine bedingungslose Orientierung nach der Sowjetunion eintritt». Schon der Sekretär für ideologische Fragen, Jiří Hendrych, genannt Der Zweite, der noch im Sommer den Schriftstellerkongreß so hart manipulierte, wird in dem Werk als «Mann mit zwei Gesichtern» charakterisiert, der «in der Ideologie die Toleranz vom Kommunistischen Manifest bis zu ‹Mein Kampf› deklariert hat». Mit ihm angefangen, werden die ZK-Mitglieder einer nach dem andern persönlich des «ideologischen Marasmus» beschuldigt.
«Worum ging es eigentlich auf der Dezember- und Januartagung des ZK? Der Gestank ist an die Oberfläche gestiegen. Es ist die sogenannte Theorie der Elite. Jeder von uns erinnert sich, daß für einen Kommunisten das, was Elite genannt wurde, immer lächerlich und verächtlich war. Das waren die Preiß, die Petschek, Baťa, Beran, Göring, Himmler, Heydrich und ähnliche Ganoven. Zu dieser Elite bekennt sich nun lautstark eine Gruppe der Intelligenz. An ihrer Spitze stehen einige Schriftsteller, Redakteure und Professoren. Ihre Theorie ist die folgende: Es gibt eine Elite der Macht und eine Elite des Einflusses. Die Kommunistische Partei ist eine Elite der Macht, aber sie hat keinen Einfluß. Die Schriftsteller, Journalisten und Künstler sind eine Elite des Einflusses, aber haben keine Macht. Und eben am 5. Januar ging es im ZK darum, daß die Elite des Einflusses, d. h. unsere Bourgeoisie und Neobourgeoisie, auch die Macht haben soll. Damit unsere Reaktion nicht nur eine Elite des Einflusses, sondern auch eine Elite der Macht wird, muß sie die Partei beherrschen. Und das ist ihr mit Hilfe der ZK-Sekretäre gegen den Genossen Novotný gelungen. Das ist das Resultat der Tagung und kein anderes!»
Mit zunehmender Seitenzahl wird die Argumentation immer subtiler:
«Dieser ganze Zeitabschnitt wird von den Schriftstellern, Dichtern und Künstlern beherrscht, die sich in den Perversitäten des Westens und des Hitlerfaschismus bespiegeln. Schließlich haben sie das auch bewiesen, indem sie an die Spitze des Verbandes tschechoslowakischer Schriftsteller den Germanisten Eduard Goldstücker stellten, dessen Herz und Seele in Westdeutschland weilen ...»
«Smrkovský und Hübl haben in der Gewerkschaftszeitung ‹Práce› zwei Beiträge publiziert, von denen besonders derjenige Hübls von Gemeinheiten strotzt, deren nur ein Professor fähig ist ...»
Durch das Dokument defilieren Dutzende Namen von Politikern, Ökonomen, Philosophen, Publizisten, Künstlern. Sie werden der Öffentlichkeit mit ständig gesteigerten Epitheta vorgestellt: Provokateur, Liquidator, Pseudointelligenzler, Gauner, Komplize. Und hinter all dem klingt aus der Wahl der Namen und des Wortapparates deutlich eine Anklage, die unmittelbar aus dem Mausoleum der fünfziger Jahre stammt: Zionisten.
Fast gleichzeitig ist jedoch aus der Sicherheitsabteilung der Partei die graue Eminenz Genosse Mamula ausgeschieden, den General Prchlík ablöst, ein aufrichtiger Mann und mein Kommandant aus den Manövern von 1954.
Man kann nicht gerade sagen, daß die tschechoslowakische Bevölkerung vor Langeweile stirbt.
Zum zwanzigsten Jahrestag der Februarereignisse halten auf dem Altstädter Ring zwei Redner vor der Volksmiliz die Festansprache: Antonín Novotný und Alexander Dubček.
Jeder kann wählen ...
Den glorreichen Februar vor zwanzig Jahren habe ich im Glauben miterlebt, daß uns ein reaktionärer Putsch droht, und mit den besten Vorsätzen, früher oder später Führer der revolutionären Bewegung zu werden.
Eben jetzt, nach genau zwanzig Jahren, wurde ich mit der ersten Parteifunktion geehrt. Man hat mich zum Vorsitzenden einer Basisorganisation gewählt.
Ein etwas außerordentliches Ereignis ist das allerdings durch zwei Tatsachen: daß es sich um die Parteiorganisation des Schriftstellerverbands handelt und daß ich vorgeschlagen und gewählt wurde, obwohl die «Rüge mit Verwarnung» immer noch andauert, die mir vor knapp einem halben Jahr das ZK der Partei wegen des Schriftstellerkongresses erteilt hat.
Die Zeitungsnotiz über meine Wahl löste augenblicklich Reaktionen aus. Schon gestern nachmittag erhielt ich mit der Post einen Brief ohne Absender, der im Jodasviertel Prag 8 aufgegeben war.
Ein gewisser Genosse Morávek teilt mir darin im Namen der Arbeiterklasse mit, daß ich Zionist und Revisionist in einer Person bin. Der Genosse Morávek hat gute Nachrichten, ich sei zudem auch ein Agent des internationalen Imperialismus. Nachdem die von mir bezahlten Kreaturen den Putsch im ZK der Partei durchgeführt hätten, würde ich in Bälde Weisung erteilen, den Anschluß an Westdeutschland zu vollziehen.
Der Genosse Morávek erklärt, daß er das jedoch zusammen mit der Arbeiterklasse rechtzeitig verhindern wird, und