Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout
noch ist es in unserer Macht, das große Werk einer Erneuerung des Sozialismus, das wir im Januar begonnen haben, zu vollenden. Wendet gegen die Okkupanten keine Gewalt an, laßt euch nicht von jenen Kräften provozieren, die sich Beweise dafür verschaffen wollen, daß die Intervention berechtigt war. Wir machen schwere Stunden durch. Tun wir alles, um daraus mit erhobenem Kopf und geradem Rückgrat hervorzugehen!»
Aus den Nachrichten ergab sich die erschütternde Bilanz der letzten vierundzwanzig Stunden. Dubček, Smrkovský, Černík, Kriegel und weitere – vermißt. Der Präsident auf dem Hradschin isoliert. Die Republik war in diesem Augenblick ein unbewachtes Pulverfaß, das jeder zur Explosion bringen konnte. Von all den Stimmen, die das verhindern konnten, war eine einzige übrig.
Seine.
Es war geradezu phantastisch, daß er, der zehn gute Gründe hatte, sich zu Hause einzuschließen und abzuwarten, wie das alles enden würde, in der heutigen Nacht diese schwere und riskante Wacht an der nationalen Goldreserve der Vernunft und des Gewissens hielt.
Tausend Kilometer von ihm entfernt, hinter drei Staatsgrenzen, zu einer machtlosen Sicherheit verurteilt, beschloß ich, sie mit ihm zu halten ...
Der Pförtner weckte mich. Er hielt es für seine Pflicht, mir um sechs Uhr früh mitzuteilen, daß Prag sich nicht gemeldet habe. Auch die Prager Welle wurde schon von der Morgendämmerung ausgelöscht. – Komm, sagte ich zu ihr, wir müssen etwas unternehmen, sonst werden wir noch wahnsinnig.
Wir versuchten, die Ferien fortzusetzen. Sie endeten wieder, als wir auf den Steinfliesen der Vatikanbasilika, wo die Längenmaße der Kathedralen der ganzen Welt verzeichnet sind, die des St.-Veits-Doms entdeckten.
Ich schloß die Augen. Wandte mich um. Ich ging im Gedächtnis die zweihundert Schritte zurück durch die Kirchentür, über den Burghof, zum Matthias-Tor. Auf dem Hradschin-Platz, im liebenswerten Geviert der Barock- und Rokokoportale, stand eine Kette stählerner Ungeheuer. Die Kanonenläufe zielten auf die Fenster meiner Wohnung. Gegen den Hintergrund der blauen Decke, die mich seit meiner Kindheit als ein kleiner Privathimmel begleitet, strahlte zart der rosig-weiße Fayencelüster aus Karlsbad. Dann ein Donnerschlag.
In der Wölbung von San Pietro verhallte kreisend ein Glockenton. Sie kniete neben mir auf der Längenmarke des St.-Veits-Doms und betete demuts- und hingebungsvoll, wie es jemand tut, der nach Jahren in der Angst seinen vergessenen Gott sucht.
Noch ein Versuch, der Gegenwart gegen die Zeit zu entgehen. Vielleicht wird uns wenigstens für ein paar Minuten das Kolosseum herausreißen, dieser zweitausendjährige titanische Zweikampf von Menschenwerk mit der Sonnenglut! Nein ... Ich hatte ganz einfach eine hoffnungslos andere Optik. Ich sah es nur als ein deprimierendes Denkmal der Relativität und Vergänglichkeit. Um Gottes willen, wenn das große Rom untergegangen ist, welche Chance haben wir denn überhaupt gehabt?
Im antiken Inneren, an dessen feuchten Quadern noch der Todesschweiß von Menschen und Raubtieren zu haften schien, war eine scheußliche Bar mit Eisschrank, aber auch Kühle, gekühltes Coca-Cola, und vor allem gab es Zeitungen in einer verständlichen Sprache. Alle widmeten der Tschechoslowakei mehrere Seiten. Ab und zu übersetzte ich ihr daraus. Unsere Depression vertiefte sich: Erst Einzelheiten, selbst die banalsten, bewirken eine Tiefenreaktion und lähmen.
Ein Bus führte uns zurück, dem Tiber entlang. Die Ewige Stadt lief jedoch schon zum zweiten Mal an den Fenstern vorbei – ein uninteressanter, bis zum Überdruß vorgeführter Film ohne Ton und Titel.
Völlig automatisch kamen wir wieder zur Botschaft. Wir mußten unter den Unseren sein, die bekannte Sprache hören. Es war der uralte Atavismus: Verzweiflung und Hoffnung mit dem Stamm zu teilen.
Die ständige Spannung und Unsicherheit hatte dem Haufen deutliche Spuren eingeprägt. Die Frauen hatten ungeordnetes Haar, den Männern wuchsen Stoppeln. Der rehabilitierte Offizier aus Bratislava sah über Nacht wie ein Greis aus.
Man machte eben auf. Wir zwei zwängten uns ins Vestibül, zum Ansatz einer mächtigen Freitreppe, und setzten uns auf die unterste Stufe. Ein Beamter hielt eine Ansprache. Die Behörde hatte offenbar panische Angst, daß sich diese ganze Horde der Botschaft an den Hals klammere. Daraus erwuchs die Tonart der Ansprache. Die Okkupation wurde darin ein kleiner Familienstreit.
– Warum können Sie nicht zurück? rief er optimistisch. Was kann Ihnen denn passieren? Sie waren doch ganz einfach auf Urlaub! Wovor haben Sie Angst? Wer von Ihnen hat sich denn schon politisch engagiert?
Da erblickte er mich und wurde plötzlich nüchterner.
– Natürlich muß das jeder individuell bedenken ...!
Touristen umringten uns.
– Was werden Sie machen??
Eine so einfache, so grundlegende Frage. Wieso hatte ich sie mir bisher nicht gestellt? Was suche ich eigentlich in Rom? Jetzt hätte ich schon an der Grenze sein können! Warum bin ich nicht geradewegs aus Perugia dorthin gefahren? Ich war total verwirrt. Trotzdem antwortete ich mit Bestimmtheit:
– Ich will nach Hause.
Ich sah, wie sie erleichtert aufatmeten. Auch ich atmete auf. Ich wußte zwar noch nicht, ob ich konnte, aber ich wußte wenigstens schon, daß ich mußte. Ich hatte keine andere Wahl. Es gibt Situationen, in denen der Schriftsteller nur einer der Schauspieler des nationalen Schicksals ist. Sicher in Böhmen. Leider auch ich. Inmitten des Stücks die Rolle zu wechseln, damit würde man das Publikum verraten und das Gesicht für immer verlieren.
Sie reagierten spontan.
– Das wollen wir alle. Aber kommen wir hinein?
Es folgte ein langer Streit zwischen Begeisterten und Skeptikern. Die Begeisterten schlugen vor: gemeinsam zu fahren; die Wagen in Österreich zu lassen und zu Fuß die Grenze zu überschreiten; zunächst eine Delegation voranzuschicken; das Schweizerische Rote Kreuz um Geleit zu bitten; die Donau in Booten zu überqueren und unsere Grenzsoldaten zu ersuchen, uns passieren zu lassen.
Der Mann, der diesen letzten Vorschlag machte, war natürlich ein Mährer. Er begleitete uns dann noch mit seiner Familie zum Hotel. Er, seine Frau und seine Tochter hatten Bademäntel an. Das Mädchen trug eine irrsinnig lange Pappschachtel im Arm. Auch hier, im tolerant denkenden Rom, wirkten sie exzentrisch. Wir standen endlos lang vor dem Hotel, und er forderte ständig Unterstützung für seinen Gedanken.
Ich sah ihr an, daß sie müde war. Höflich fragte ich:
– Wo steht Ihr Wagen?
Man hatte ihnen den Wagen gestern in Venedig mit allen Sachen gestohlen, als sie gerade badeten. Nur die Bademäntel waren ihnen geblieben und eine riesengroße Gondel, die sie kurz zuvor als Souvenir gekauft hatten. Als sie in völliger Verzweiflung bei der Polizei anlangten, erfuhren sie, daß ihnen außer dem Wagen auch noch ihr Vaterland verlorengegangen war. Der zweite Schicksalsschlag übertraf offenbar den ersten. Als ich fragte, wie sie jetzt nach Hause kämen, antwortete er:
– Mein Gott, die Unseren müssen uns doch hineinlassen!
Die angebotene Hilfe lehnten sie ab. Es zeigte sich, daß sie das Zimmer über uns bewohnten. Die Botschaft war anscheinend doch aus ihrer Ohnmacht erwacht.
Als ich in der Hotelrezeption den Schlüssel entgegennahm, erhielt ich auch einen Brief.
«Es tut mir leid, ich wollte Dich nicht beleidigen. Ich hätte schrecklich gern mit Dir gesprochen. Wir verhandeln mit der italienischen Partei. Ich komme kurz nach Mittag zu Euch hinüber. Bleib inzwischen unbedingt da, die Sowjets sind an den Grenzen. Schönen Gruß an Dein prächtiges Weibsbild!»
Sie las es über meine Schulter hinweg.
– Geh dich hinlegen, sagte ich, ich nehme draußen einen Kaffee.
Sie legte den Schlüssel auf das Pult.
– Eigentlich habe ich Hunger. Ich geh mit dir.
Ich war zu abgestumpft, um das kommentieren zu können. Als ich mich umwenden wollte, fiel mein Blick auf einen Brief, der irgendwo in der Ecke des Concierge-Pultes hingeworfen war. Ein mir bekannter