Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs - Pavel Kohout


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      Es ist längst nach Mitternacht, in der Küche klirren Gläser, ich höre Mutter lachen und die Stimmen von Vaters Freunden.

      Die Schlacht ist entschieden. Die Linke hat gesiegt. In geheimen, freien Wahlen haben allein die Kommunisten 38% erhalten. Gottwald wird die Regierung zusammenstellen.

      Und mir ist zum Heulen.

      Immer wieder lese ich den von ihr geschriebenen Zettel, den Du im «Cyrano» vergessen hast, als Du mir ihn heute endlich zurückgabst.

      «Warum läßt Du so lang nichts von Dir hören. Schon wieder seinetwegen? Du weißt doch, daß er für mich nichts anderes war und ist als ein Kamerad. Ich rede mit ihm, weil er mir von Dir erzählt. Er tut mir leid, aber wenn Du es willst, sehe ich ihn nicht mehr wieder. Heute ist der 5. Mai, genau ein Jahr, nachdem Du in der Nacht unter meinem Fenster gepfiffen hast. Ringsum war der Tod, aber Du hast mich leben gelehrt. Also quäl mich nicht, mon petit Pierre! A.»

      Auch jene Nacht waren wir eigentlich zusammen. Nur daß ich wegging. Weil ich sie liebte! Du wußtest es am besten. Und doch bist Du bei ihr geblieben.

      Du hast mit mir sogar Bruderschaft getrunken und mich dann 375 Tage angelogen. Auch sie hast Du es gelehrt.

      Mir ist übel davon. Ich kann nicht zur Hälfte leben. Ich habe mich ganz gegeben, und darum weiß ich: nie mehr im Leben werde ich lieben.

      Und ich will nie mehr einen Bruder haben!

      Entreißt mir nur den Lorbeer und die Rosen!

      Mir bleibt ein Gut, trotz aller Stürme Tosen.

      Ich werde mich weder von der Brücke stürzen noch Pillen schlucken. Ich will für die leben, die leiden, mit denen sein, die kämpfen. Ich träume nicht von Amt und Würden. Auch nicht von Dichterlorbeeren.

      Ich will Kommunist sein.

      Einfacher Soldat der Armee, die heute auch bei uns aufmarschiert ist, um der Welt Frieden und Gerechtigkeit zu geben, um sie nicht nur von Hunger und Furcht, sondern auch von Gemeinheit und Lüge zu befreien.

      Den Bruder habe ich verloren. Ich werde Genossen haben.

      Die kennen keinen Verrat.

      Ich hoffe sehr, daß Du selbst begreifst, warum Du unter ihnen keinen Platz hast. Die kommunistische Revolution braucht vor allem Moral. Die neue Epoche kann nur von neuen Menschen erkämpft werden.

      Nun denn, leb wohl. Unsere Wege trennen sich unwiderruflich und für immer.

      Liebet einander und mehret euch.

      Und ich?

      Noch einmal Cyrano:

      Zwei Tote trage ich zu Grabe: Glück und Freund!

      Mittwoch–Donnerstag, 21.–22. August 1968

      (Fortsetzung)

      Roma

      Er bot uns an, bei ihm zu übernachten. Ich lehnte höflich ab. Der Satz, den er eben ausgesprochen hatte, war ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen. Und ich wollte ihm für nichts dankbar sein.

      Er zuckte die Achseln und wandte sich zu ihr.

      – Dann rufe ich wenigstens ein kleines Hotel an. Es liegt in der Nähe der Botschaft, und Tschechen haben dort Rabatt.

      – Seien Sie so nett! sagte sie mit einem Lächeln.

      Als ich mich ans Steuer setzte, fragte er:

      – Was hast du vor?

      – Den Papst besuchen, antwortete ich. Nur er kann mir die Absolution dafür erteilen, daß ich die nationale Tragödie verschuldet habe.

      Ich war müde, schlechter Laune, und das System unbekannter Einbahnstraßen verwirrte mich. Als wir ein paar Minuten umherirrten, sagte sie:

      – Ich verstehe nicht, warum wir nicht dort bleiben konnten.

      – Ich dachte, daß es dir gerade heute noch unangenehmer wäre als mir.

      – Warum? fragte sie. Ich habe euch nicht zugehört.

      Das Hotel, das Tschechen Vergünstigungen gewährte, war ein tristes Zeugnis unserer Devisenlage. Obwohl es im Zentrum lag, gab es in den Zimmern weder Telephon noch fließendes Wasser. Neben eisernen Betten und einem alten Schrank stand hier ein Waschbecken aus Blech. Ich stellte mir in diesem verkrachten Interieur Menschen vor, die in ganz Europa bekannt sind, und ich wurde traurig. Gleich morgen früh würden wir übersiedeln. Ich warf in der Regel einen Großteil meiner Auslandshonorare in gute Hotels, weil es mir widerstrebte, unsere Misere vorzuführen.

      Obwohl sie die ganzen Jahre nackt schlief und es hier heiß war wie in einem Treibhaus, zog sie ein Nachthemd an. Ich hatte überhaupt nicht geahnt, daß sie eines besaß. Sie schlief augenblicklich ein.

      Ich ging zum Portier hinunter, um ein Gespräch mit Prag zu bestellen.

      – Da können Sie die ganze Nacht warten, wenn Sie es überhaupt bekommen! sagte der Portier nach dem dritten Versuch in miserablem Englisch.

      Der Wunsch, die Meinen zu hören, war stärker als das Schlafbedürfnis. Ich zog mein schweißdurchtränktes Hemd aus, legte mich in den Hosen aufs Bett und schaltete das Autoradio ein. Durch die schmalen Engpässe zwischen den italienischen Sendern rangen sich tschechische Laute zu mir durch und flossen immer wieder weg. Eine von den Stimmen mit einem fremdländischen Akzent, der an den Ohren riß, las monoton einen endlosen Artikel der Moskauer «Prawda»: «Die Verteidigung des Sozialismus als höchste internationale Pflicht.»

      Es war eine unheimliche Sammlung gefälschter Beweise und verzerrter Zitate. Sie sollte die europäische Linke offenbar davon überzeugen, daß das brüderliche Eingreifen einen konterrevolutionären Putsch fünf Minuten vor zwölf verhindert habe. Als Argument dienten auch die Lügen heimischer Provenienz, deren Autoren von der Dubček-Führung ihrer langjährigen Parteizugehörigkeit wegen nie öffentlich verurteilt worden waren. Dank dieser politischen Naivität flogen die Lügen jetzt wie Bumerangs auf uns zurück.

      «Der alte Kommunist Jodas sagte schon im Frühjahr, daß eine gewisse reaktionäre Gruppe innerhalb der Partei, die gut durchorganisiert ist und sämtliche Massenmedien beherrscht, in Fernsehen, Funk und Presse niederträchtig die Partei attackiert. Diese Gruppe, in der verschiedene reaktionäre Elemente aktiv mitwirken, führt schon seit fünf Monaten diese Kampagne, was unausweichlich mit der Vernichtung der Einheit der Partei enden wird.»

      Ich drehte den Knopf weiter. Eine mir irgendwie bekannte Stimme las eine Regierungserklärung an die gesamte Bevölkerung der Tschechoslowakei:

      «So ist es zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung zu einem Aggressionsakt gekommen, begangen von den verbündeten Armeen sozialistischer Länder gegen einen Staat, der von einer kommunistischen Partei geführt wird.»

      Der Sinn des Textes entging mir mehr und mehr. Die Stimme faszinierte mich. Sie mußte jemandem gehören, den ich sehr gut kannte. Ich schloß die Augen und sah gleich sein Gesicht vor mir

      Wenn ich den Sender Prag noch dort in der Botschaftswohnung eingestellt hätte, wären wir alle drei zusammen gewesen. Drei Musketiere nach zwanzig Jahren.

      Es ging auf Mitternacht. Der Empfang besserte sich, aber die Stimme wurde durch ein merkwürdiges Knistern beeinträchtigt, das gar nicht an eine atmosphärische Störung erinnerte. Erst nach einer Weile merkte ich erstarrt, daß es sich um Feuerstöße aus Schußwaffen handelte. Trotz der tropischen Hitze erschauerte ich.

      Wo spricht er? Sind sie vielleicht wieder in die Hus-Kirche übersiedelt? Woran mag er in den Pausen zwischen den Nachrichten denken, in dem provisorischen Ansageraum, durch dessen Wände das Knattern der MP-Garben dringt? An die sechs verlorenen Jahre im Untergrund des Uranbergwerkes? Wie konnte er sie überhaupt überleben?

      Als wir ihn damals nach dem Krieg zu einer einzigen Nachtschicht in die Grube mitschleppten, hatte er solche Angst, daß er kreidebleich war. Was fürchtet er heute?


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