Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7. Inger Gammelgaard Madsen

Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7 - Inger Gammelgaard Madsen


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er eine Zeitung und las ein wenig darin, während er weiterging. Hier gab es glücklicherweise Bürgersteige und an vielen Stellen Alleen mit Schatten spendenden Bäumen, aber auch viel mehr Verkehr. Busse, Autos und Roller hupten und lärmten, als versuchten sie, ein Orchester zu bilden, während sie um den Platz kämpften. Jetzt konnte er das Castel Nuovo sehen und war bald an Tante Giovannas Adresse angekommen. Er schwitzte und fühlte sich ein bisschen außer Atem. Das musste an der Hitze liegen; an das mit der Kondition wollte er jetzt nicht denken – er hatte Urlaub. Urlaub? Er war weggeschickt worden! Suspendiert! Wenn Vizepolizeidirektor Kurt Olsen nicht gewesen wäre, hätte er überhaupt nicht außer Landes reisen und den lange geplanten Urlaub bei seiner Familie antreten dürfen. Zu Hause in Dänemark war der Staatsanwalt dabei, der Sache auf den Grund zu gehen. Seinem Leben. Was konnte da nicht alles im Schlamm auftauchen?

      Asger Brink wohnte im Hotel Naples, hatte er erwähnt. Er fand die Serviette aus dem Café Nuit, auf die sein dänischer Freund seine Handynummer geschrieben hatte.

      5

      Dänemark, Aarhus

      Die Polizei kam trotzdem. Schneller, als sie damit gerechnet hatte. Vielleicht war es auch nicht die arbeitsreichste Zeit bei ihnen oder die Situation war doch so aufsehenerregend, dass sie nicht anders konnten.

      Mikkel Jensen und Isabella Munch waren diejenigen, die auftauchten. Anne erkannte sie sofort wieder, als sie vor dem Haus wachsam aus dem Auto stiegen und die Beamtin beinahe in den eingeschrumpften Dachskadaver trat. Sie nahm sich die Zeit, ihn auf Abstand näher zu studieren. Der Abscheu stand ihr ins Gesicht geschrieben. Warte nur!, dachte Anne. Warte nur! Beide Beamte stoppten abrupt, als sie oben auf der Treppe ankamen und ins Haus schauten. Isabella schnappte laut nach Luft und hielt sich beide Hände vor den Mund.

      Das Szenario im Wohnzimmer vor ihnen war auch wirklich grauenerregend. Anne war selbst in einen schockähnlichen Zustand verfallen, als die Tür dem Druck ihrer Schulter nachgegeben hatte und sich ihre Augen an das Halbdunkel im Raum gewöhnt hatten, in den sie hineingestolpert war. Etwas hatte unter der einen Sohle geknackt, eine klebrige Masse war zwischen die Zehen gedrungen und irgendwoher war ein Fauchen ertönt. Aber nicht von einer Katze. Jetzt stand sie in sicherem Abstand und krümmte unwillkürlich die Zehen in den offenen Sandalen, als ob das etwas helfen würde.

      „Pfui Teufel!“, rief Mikkel und zog Isabella weg. Es hatte ihr die Sprache verschlagen und sie sagte nichts, bis er sie unten an der Treppe losließ und sie schüttelte.

      „S… sind das Netze? Spinnennetze?“

      „Ja. Sieht aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm, stimmt’s?“

      Sie drehten sich um. Es war deutlich in ihren Gesichtern zu sehen, dass auch sie sie wiedererkannten. Beide schauten sie an, als wäre sie diejenige, die immer all diese unheimlichen Ereignisse mit sich brachte.

      „Haben Sie angerufen? Was zum Teufel geht hier eigentlich vor?“, fragte Mikkel, als ob sie das wüsste.

      „Kommt Roland Benito nicht?“, war das Einzige, was ihr einfiel. Sie hatte erwartet, ihn zu sehen.

      „Nein. Er ist nicht da. Macht Urlaub in Italien!“ Mikkel näherte sich wieder dem Haus und rief währenddessen die Kriminaltechnik an, das entnahm sie dem Gespräch. Neben ihr atmete Isabella schwer. Vielleicht litt sie auch an Spinnen- oder Schlangenphobie. Irgendeiner Phobie. Wenn man überhaupt an irgendetwas leiden musste, um bei diesem Anblick nicht die Selbstbeherrschung zur verlieren. Selbst als einigermaßen hartgesottener Beamter.

      „Kennen Sie jemanden, der sich um all diese Viecher kümmern kann?“, rief Mikkel oben von der Treppe.

      Anne wusste nicht, ob die Frage an sie gerichtet war, aber sie nickte eifrig. „Ja, tue ich.“ Sie hatte bereits das Handy aus der Tasche genommen und gab Freddy Hauges Nummer ein. Zum Glück war er noch in der Nähe, da er mit dem Direktor des Sägewerks, der plötzlich aufgetaucht war, ins Gespräch gekommen war, und machte sich gleich auf den Weg. Anne bat ihn ohne weitere Erklärungen, ein paar Helfer mitzubringen.

      Sie ging die Treppe hinauf und stellte sich neben Mikkel. Sie schauten wieder ins Haus. Den Geruch nahm sie nicht mehr wahr, aber an den Anblick würde sie sich nie gewöhnen.

      Der Mann lag auf dem Boden neben dem Esstisch. Es sah aus, als hätte er einen Krampf bekommen und wäre vom Stuhl gefallen, während er aß. Alles auf dem Tisch war mit Spinnweben bedeckt, sodass man nicht sehen konnte, was darauf stand. Wie um die Dramatik zu betonen, waren mehrere halb heruntergebrannte schwarze Netzkerzen rund herum auf den Fensterbrettern platziert. Man dachte unweigerlich an Halloween. Am schlimmsten war es jedoch, den Mann anzusehen. Er ähnelte der Hülle eines Insekts, wie man es umsponnen in einem Spinnennetz hängen sieht. Spinnen krabbelten aus seinen leeren Augenhöhlen, der Nase und dem offenen Mund. An den Wänden standen Terrarien, aber sie hatten alle keinen Deckel und waren leer. Anne konnte sich keinen Überblick verschaffen, wie viele Tiere es waren. Sie entdeckte einen Skorpion, der zwischen den Polstern aus einem braunen Sofa herauskrabbelte. Eine Schlange, die wie ein Python aussah, wand sich ihnen entgegen, als witterte sie die frische Luft von der Tür. Weitere Schlangen und Echsen befanden sich auf dem Boden, in den Möbeln – überall. Weder sie noch Mikkel sagten ein Wort. Isabella blieb auf dem Rasen vor dem Haus stehen.

      Die Kriminaltechniker trafen ein. Auch sie blieben sprachlos an der Türschwelle stehen, ihre Taschen fest umklammernd. Endlich kam Freddy. Er hatte zwei andere dabei, die er als Kollegen vorstellte. Sie reichten sich alle die Hand und begrüßten sich.

      Selbst Freddy wurde still.

      „Ja, ich bin leider zu spät gekommen, um zu warnen“, sagte Anne hinter ihm.

      Er drehte sich zu ihr um.

      „Nein, Anne. Ich glaube, das hier ist das Nest. Die Latrodectus mactans sind hier nicht eingedrungen, sie sind hinausgeschlüpft.“

      „Was für ein Ding?“ Mikkel runzelte die Stirn.

      „Die Schwarze Witwe“, erklärte Anne. „Aber soll das heißen, das trifft auf all die anderen Viecher auch zu?“

      „Vielleicht. Und wer zum Teufel behandelt Tiere so! Haben sie hier unter diesen Bedingungen gelebt?“

      Wieder dachte er vor allem an die Tiere.

      „Was ist das hier? Skorpione, Spinnen, Echsen und … was ist das Weiße da auf dem Boden?“

      „Eierschalen. Zerdrückte Eier. Und das da ist eine Eierschlange“, er ging ein bisschen in die Knie und deutete unter eine weiße Kommode. „Die Eierschlange hat sich darauf spezialisiert, Eier aus Vogelnestern zu stehlen und sie am Stück herunterzuschlucken. Ist das Ei verschluckt, presst die Schlange es zurück gegen einige sägeförmige Knochen in ihrem Rückgrat, das Ei wird zerdrückt und die Schale hochgewürgt.“

      Also waren die frischen, warmen Eier für sie gewesen, dachte Anne.

      „Sie meinen also, es könnten noch mehr nach draußen entwischt sein?“, fragte Mikkel heiser.

      „Für die Schlangen ist es schwer abzuhauen, wenn keine Fenster offen sind. Aber Spinnen können sich durch kleine Spalte hinauszwängen.“

      „Ihr bleibt draußen! Haltet euch weg und passt auf, keine Spuren zu zerstören!“, rief einer der Techniker den Biologen zu, die es kaum erwarten konnten, ins Haus zu kommen.

      „Das hier ist wohl kaum ein Verbrechen“, meinte Mikkel draußen von der Seitenlinie aus.

      „Wie nennen Sie das dann?“, wollte Anne wissen.

      „Mord, meine ich. Das waren ja wohl diese ‚Haustiere‘, die ihm das Leben genommen haben?“

      Anne erinnerte sich an ihre kleinen, russischen Schildkröten und wie fasziniert sie damals von ihnen gewesen war. Trotzdem verstand sie nicht, dass jemand das Gleiche für solche Krabbelviecher empfinden konnte.

      „Was meinst du, Freddy?“, fragte sie.

      „Ja, das ist sicher. Wenn er hier mit Schlangen, Skorpionen und


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