Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit. Mathias Blanz

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Oder-Verknüpfung (eine Disjunktion) erweitern. Bei einer Und-Verknüpfung (z. B. »Wenn Kinder viel fernsehen und sich intensiv mit Computerspielen befassen …«) wird die Aussage voraussetzungsreicher, wodurch es zu einem Absinken ihres Informationsgehaltes kommt. Eine Oder-Verknüpfung hingegen (z. B. »Wenn Kinder viel Fernsehen oder sich intensiv mit Computerspielen befassen …«) vergrößert die Anwendbarkeit der Aussage (und damit die Anzahl potentieller Falsifikatoren), wodurch ihr Informationsgehalt ansteigt.

      2. Erweiterung der Dann-Komponente des Konditionalsatzes: Wird der Dann-Teil (»… dann sinken ihre schulischen Leistungen«) durch eine Und-Verknüpfung erweitert (z. B. »… dann sinken ihre schulischen Leistungen und es kommt zur sozialen Vereinsamung«), werden durch die Aussage mehr potentiell falsifizierende Beobachtungen abgedeckt, was ihren Informationsgehalt steigert. Reduziert wird der Informationsgehalt einer Aussage jedoch dann, wenn man ihren Dann-Teil durch eine Oder-Verknüpfung ergänzt (z. B. »… dann sinken ihre schulischen Leistungen oder es kommt zur sozialen Vereinsamung«), da dabei die Anzahl an Falsifikatoren verringert wird.

      Werden die Aussagen einer Theorie empirisch widerlegt, kommt es in den Sozialwissenschaften häufig zu einer Veränderung (Modifikation) der Theorie dadurch, dass ihr Wenn-Teil durch eine oder mehrere Und-Verknüpfungen erweitert wird. Diese spezielle Art der Veränderung von Aussagen wird als Exhaustion bezeichnet (von engl. exhaustion für Erschöpfung). Ein Beispiel stellt die Frustrations-Aggressions-Hypothese dar, deren ursprüngliche Formulierung lautete: »Wenn Frustration vorliegt, dann folgt Aggression«. In vielen empirischen Studien hat sich die Hypothese in dieser Form nicht bewährt (z. B. Selg, Mees & Berg, 1997), weshalb es zur Formulierung von Zusatzannahmen kam. Berkowitz (1989) konnte beispielsweise in Untersuchungen nachweisen, dass Frustration nur dann zu Aggression führt, wenn (1) Frustration zur Auslösung eines unangenehmen Spannungszustandes führt (z. B. Ärger) und (2) die Situation, in der sich die Person befindet, sog. aggressive Hinweisreize enthält: Das können z. B. bestimmte Gegenstände sein (wie Waffen) oder bestimmte Medieninhalte (wie Gewaltfilme), die über Lernprozesse (das klassische Konditionieren) von den Akteuren mit aggressivem Verhalten assoziiert (verbunden) werden. Die Umformulierung der Frustrations-Aggressions-Hypothese lautet dann: »Wenn Frustration vorliegt und diese mit einem unangenehmen Spannungszustand verbunden wird und die Situation aggressive Hinweisreize enthält, dann folgt Aggression« (siehe z. B. Berkowitz, 1989). Eine solche Exhaustion einer Theorie ermöglicht es zwar, sie zunächst vor widersprechenden Beobachtungen zu »schützen«, allerdings schwächt sie gleichzeitig die Theorie durch eine Einschränkung ihres Geltungsbereiches, was langfristig – bei immer neuen Exhaustionen – dazu führt, dass die Theorie zunehmend unbedeutender (uninformativer) wird.

      2.2 Untersuchungsplanung

      Eine gängige Unterscheidung bezüglich sozialwissenschaftlicher Untersuchungsarten ist die zwischen explorativ (erkundend), deskriptiv (beschreibend) und explanativ (erklärend) ausgerichteten Untersuchungen. Diese sollen im Folgenden näher dargestellt werden. Anschließend werden einige Kriterien diskutiert, die bei der Entscheidung für oder gegen eine dieser Untersuchungsarten hilfreich sein können.

      Explorative Untersuchungen

      Explorative Untersuchungen (von lat. exploratio für die Erkundung) sind primär darauf ausgerichtet, mögliche neue, in der bisherigen Theoriebildung noch nicht berücksichtigte Variablen zu identifizieren bzw. Zusammenhänge zwischen Variablen, die noch nicht (oder noch nicht auf diese Weise) beschrieben wurden, aufzudecken. Explorative Studien sind also dann angemessen, wenn für die jeweilige Fragestellung bisher weder empirische Studien noch Theorien vorliegen (was durch eine ausführliche Literatursuche abgesichert werden muss) oder wenn zur Abgrenzung zu bestehenden Ansätzen (Theorien und Studien) neue Hypothesen entwickelt werden sollen (die anschließend einer empirischen Überprüfung zu unterziehen sind). Explorative Studien sind damit eher hypothesengenerierend ausgerichtet.

      Bei einer explorativen Datenerhebung liegt meist nur eine sehr vage formulierte Fragestellung vor (z. B. »Wie gehen Menschen mit Behinderung mit diskriminierenden Erfahrungen im Alltag um?«), die im Rahmen eines qualitativen (z. B. freie Antworten in einem Interview) und/oder quantitativen (z. B. die Vorgabe eines strukturierten Fragebogens mit Antwortskalen) Vorgehens untersucht wird, wobei im sozialwissenschaftlichen Bereich die qualitative Vorgehensweise häufig präferiert wird (z. B. im Rahmen von Felduntersuchungen oder Einzelfallanalysen). Als ein Beispiel für eine qualitative Untersuchung kann die Entwicklung eines Fragebogens zur Erfassung von Prüfungsangst (das Differentielles Leistungsangst Inventar, DAI, von Rost & Schermer, 2007) genannt werden, bei dem zur Identifikation geeigneter Fragen für den späteren standardisierten Fragebogen zunächst eine freie Befragungen von Schülern und Schülerinnen zum Thema Prüfungsangst durchgeführt wurde (die SchülerInnen sollten z. B. zur Instruktion »Wie zeigt sich Deine Prüfungsangst?« Aufsätze schreiben; image Kap. 9).

      Deskriptive Untersuchungen

      Deskriptive Studien (von lat. describere für beschreiben) verfolgen das Ziel, eine Population (Grundgesamtheit) von Personen (z. B. Menschen ohne Arbeit) bezüglich ausgewählter Merkmale (z. B. Wohlbefinden, Gesundheit, Aktivitäten etc.) zu charakterisieren. Ist es nicht möglich, die gesamte Population zu untersuchen (und das ist häufig der Fall), werden die Daten einer Stichprobe erhoben (z. B. bei den »BesucherInnen« des Arbeitsamtes mehrere Städte) und diese auf die Population verallgemeinert (generalisiert). Ein Beispiel für eine deskriptive Untersuchung stellen die periodisch durchgeführten Erhebungen zum Thema »Kinder & Medien« (KIM) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs) dar, in der bei ausgewählten ProbandInnen (ca. 1200) u. a. folgende Merkmale erfasst werden: Freizeitaktivitäten, Themeninteressen, Medienausstattung, Medienbindung, Medienfunktion, Computer- und Internetnutzung, Einstellungen zu Computer und Internet, Computerspiele, Lernprogramme, Computer und Schule sowie Mediennutzung im familiären Kontext (es gibt ähnliche mpfs-Befragungen für Jugend & Medien, JIM, und Familie & Medien, FIM).

      Im Unterschied zu explorativen Studien werden bei deskriptiven Untersuchungen die zu erhebenden Merkmale bereits vor Beginn der Datenerhebung festgelegt. Auch deskriptive Studien sind primär hypothesengenerierend, weil aus ihren Ergebnissen (z. B. bezüglich der täglichen Verwendung eines Handys oder dem täglichen Lesen in einem Buch) Hypothesen über mögliche Kausalzusammenhänge abgeleitet werden können (z. B. »Je häufiger Kinder ihr Handy verwenden, desto seltener lesen sie in einem Buch«). Die Auswertung der in deskriptiven Studien gewonnenen Daten stützt sich in erster Linie auf die Methoden der beschreibenden (oder deskriptiven) Statistik, mit deren Hilfe Kennwerte für die jeweilige Stichprobe berechnet werden können (z. B. »20 % der untersuchten Kinder verfügen über einen persönlichen Computer oder Laptop«; image Kap. 6.1). Um diese Stichprobenergebnisse anschließend auf die Population verallgemeinern zu können, sind darüber hinaus Methoden der schlussfolgernden (oder inferentiellen) Statistik anzuwenden, durch die z. B. Schätzungen für die Population berechnet werden können (»In Deutschland verfügen 15 % bis 25 % aller Kinder über einen PC oder Laptop«; image Kap. 6.2).

      Explanative Untersuchungen

      Explanative Studien (von lat. explanativus für auslegend, erläuternd) verfolgen das Ziel, begründete Hypothesen (in Wenn-dann- oder Je-desto-Form), die von den Ergebnissen explorativer und/oder deskriptiver Untersuchungen bzw. von bereits bestehenden Theorien abgeleitet wurden, empirisch zu testen. Sie dienen damit der Überprüfung von Erklärungen (Explanation) und Vorhersagen (Prognose) von Beobachtungen (Ereignissen, Erfahrungsdaten), sie sind also hypothesenprüfend ausgerichtet. Explanative Untersuchungen setzen eine genaue Spezifizierung der


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