Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit. Mathias Blanz
Beschränkung). Eine Hypothese sollte also nach Möglichkeit eine Regelhaftigkeit ausdrücken, für die der Anspruch allgemeiner Gültigkeit ohne raum-zeitliche Einschränkungen erhoben wird. Eine Hypothese, die diese Bedingung erfüllt, wird auch als Allaussage bezeichnet.
Empirische Allaussagen sind für die sozialwissenschaftliche Forschung von besonderem Interesse, weil sie prüfbar sind und den Charakter einer allgemeinen Regelhaftigkeit aufweisen. Solche Hypothesen lassen sich in eine Gesetzesformulierung überführen, deren einfachste Formen die »Wenn-dann«-Aussage und die »Je-desto«-Aussage sind. Die Hypothese »Bullying ist das Ergebnis eines ungünstigen Verhältnisses zwischen der Anzahl der Lehrkräfte und der Anzahl der SchülerInnen« lässt sich in eine Wenn-dann-Aussage umwandeln (»Wenn das Betreuungsverhältnis niedrig ist – d. h. wenige Lehrkräfte, viele SchülerInnen –, dann tritt Bullying auf«) und in eine Je-desto-Aussage (»Je niedriger das Betreuungsverhältnis ausfällt, desto häufiger tritt Bullying auf«) umformen. Eine Hypothese, die alle drei Anforderungen erfüllt, 1. die empirische Prüfbarkeit, 2. die allgemeingültige Formulierung und 3. die Wenn-dann- bzw. Je-desto-Form, werden als gesetzesartige Aussagen bezeichnet. Solche gesetzesartigen Aussagen werden dann zu Gesetzen, wenn sie noch ein weiteres, viertes Kriterium erfüllen: Sie müssen sich in empirischen Untersuchungen bewährt haben, d. h. mit den erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Daten in Übereinstimmung stehen (vgl. Opp, 2005). Ein Beispiel stellen die berühmten Untersuchungen von Bandura (z. B. Bandura, Ross & Ross, 1961, 1963) im Kindergarten dar: Zunächst wurde die Hypothese aufgestellt, dass neue aggressive Verhaltensweisen einer Modellperson (es wurde z. B. mit einem Hammer auf eine lebensgroße Puppe eingeschlagen und sie mit Wortneuschöpfungen beleidigt), die von den Kindern beobachtet wurden, von ihnen anschließend nachgemacht werden. Nachdem sich diese Hypothese über Jahrzehnte in sozialwissenschaftlichen Studien gut bewährt hat, gilt sie heute als Gesetzmäßigkeit (das sogenannte Lernen am Modell).
Aber was bedeutet »empirisch gut bewährt«? Auf den Philosophen Sir Karl Popper (1902–1994) geht die Einsicht zurück, dass Gesetze niemals vollständig bewiesen (verifiziert) werden können. Dazu müsste z. B. Bandura alle Kinder, die zu allen Zeiten lebten, wissenschaftlich untersuchen, um auszuschließen zu können, dass es nicht vielleicht doch Kinder gab/gibt, für die das Gesetz nicht gilt – ein Unterfangen, das offensichtlich unmöglich ist. Man kann, mit anderen Worten, eine Gesetzeshypothese niemals abschließend danach prüfen, ob sie »wahr« ist. Allerdings kann man, so weiter die Position Poppers (2005), Gesetzesaussagen grundsätzlich widerlegen (falsifizieren): Fände man auch nur ein einziges Kind, das der Gesetzmäßigkeit widerspricht, wäre die Hypothese zu verwerfen. Popper (2005) plädiert deshalb dafür, dass empirische Wissenschaften – und damit auch die sozialwissenschaftliche Forschung – nicht danach streben sollten, Gesetzeshypothesen zu bestätigen (also das Suchen nach Beobachtungen, die in Übereinstimmung mit den behaupteten Hypothesen stehen), sondern vielmehr danach, sie zu widerlegen (d. h. die Suche nach Beobachtungen, die den behaupteten Hypothesen widersprechen). Auf diese Weise sollte eine allmähliche Elimination (Aussortierung) solcher Hypothesen erfolgen, die an den empirischen Tatsachen scheitern, und gleichzeitig im Laufe der Wissenschaftsentwicklung solche übrig bleiben, die wiederholte Widerlegungsversuche überstehen. Regelhaftigkeiten, die sich gegenüber Falsifikationsversuchen als robust erweisen, sind damit nicht als »wahr« anzusehen, sondern nur als »vorläufig bewährt«. Die zentrale Forderung des Kritischen Rationalismus, wie die Wissenschaftstheorie von Popper genannt wird, ist es, dass aufgestellte Hypothesen prinzipiell falsifizierbar sein müssen. Dies wird auch als Falsifikationsprinzip (oder Falsifikationismus) bezeichnet.
Bei seiner Argumentation bezieht sich Popper (2005) offensichtlich auf sogenannte deterministische Aussagen (von lat. determinare für vorherbestimmbar), das sind Allaussagen, bei denen beim Vorliegen der Wenn-Komponente immer die Dann-Komponente auftritt (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann folgt eine Aggression«). Die meisten Aussagen in den Sozialwissenschaften sind jedoch nichtdeterministisch, d. h. die Dann-Komponente muss lediglich in den meisten Fällen, jedoch nicht immer auftreten (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann folgt meistens eine Aggression«). Solche Hypothesen beruhen auf Wahrscheinlichkeiten und werden deshalb als probabilistische Aussagen (lat. probabilis für wahrscheinlich) bezeichnet (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer Aggression«). Allerdings gilt das Falsifikationsprinzip auch für Wahrscheinlichkeitsaussagen: Auch probabilistische Gesetze müssen grundsätzlich falsifizierbar sein (z. B. wenn die Ergebnisse zeigen, dass bei Vorliegen von Frustration mit großer Wahrscheinlichkeit keine Aggression folgt).
Problematisch sind in diesem Zusammenhang solche Aussagen, bei denen keine Falsifizierbarkeit gegeben ist. Ein Beispiel dafür sind Aussagen, die Teil und Gegenteil in sich vereinen (z. B. »Wenn Frustration vorliegt, dann folgt Aggression oder eine andere Reaktion«), da dabei jedes beliebige Ereignis (Beobachtung) als eine Bestätigung (Verifikation) interpretiert werden kann (d. h. es gibt keine Beobachtung, die der Aussage widerspricht). Weitere Beispiele für nichtfalsifizierbare Aussagen finden sich in Box 4. Des Weiteren sind auch solche Aussagen problematisch, die immer falsch sind (sogenannte Kontradiktionen). Ein Beispiel dafür wäre die Behauptung »Männer zeigen häufiger sexuelles Verhalten als Frauen« (was für heterosexuelle Kontakte nicht möglich ist). Eine solche widersprüchliche (kontradiktorische) Hypothese wäre zwar grundsätzlich empirisch prüf- und widerlegbar, allerdings beinhaltet sie bereits von vornherein einen logischen Widerspruch, was den Prüfprozess unsinnig macht. Wir können festhalten: Nichtfalsifizierbare und widersprüchliche Aussagen sind für die sozialwissenschaftliche Forschung ungeeignet.
Box 4: Beispiele für nichtfalsifizierbare Aussagen
Das Falsifikationsprinzip nach Popper (2005) fordert, dass wissenschaftliche Aussagen grundsätzlich widerlegbar (falsifizierbar) sein müssen. Im Folgenden finden sich einige Beispiele von Aussagen, die dieses Prinzip verletzen.
• Aussagen, die immer wahr sind (Tautologien): z. B. »Aggressive Menschen neigen zu aggressivem Verhalten«. Diese Aussage beruht auf einem Zirkelschluss, da wir Menschen, die zu aggressivem Verhalten neigen, als »aggressiv« bezeichnen, wodurch das Gefolgerte (»… neigen zu aggressivem Verhalten«) bereits in der Bezeichnung enthalten ist.
• Aussagen, die Teil und Gegenteilin sich vereinigen: z. B. »Frustration löst Aggression oder ein anderes Verhalten aus«. Solche Aussagen können nicht widerlegt (falsifiziert) werden, da alle Ereignisse, die auftreten können, als Bestätigung (Verifikation) interpretiert werden können.
• Aussagen, die eine »Es gibt«- oder »Es kann«-Form aufweisen: z. B. »Es gibt Kinder, die niemals weinen«. Eine solche Aussage (eine sog. Existenzaussage) könnte man nur falsifizieren, indem man alle Kinder untersucht und dabei kein einziges findet, das niemals weint. Dasselbe gilt für Kann-Aussagen wie z. B. »Zigarettenkonsum kann einen Herzinfarkt auslösen«.
• Aussagen, bei denen die begriffliche Präzision fehlt: z. B. »Alle Menschen sind von Natur aus gut«. Auch diese Aussage ist kaum widerlegbar, da die Bezeichnungen »Natur« und »gut« so ungenau sind, dass widersprechende Beobachtungen nur schwer zu definieren sind.
• Aussagen, die metaphysische Begriffe verwenden: z. B. »Menschen, die sündigen, kommen in die Hölle«. Da der Begriff »Hölle« keinen empirischen Bezug aufweist, also weder beobachtbar noch messbar ist, sind auch solche Aussagen prinzipiell nicht falsifizierbar.
(vgl. Bortz & Döring, 2006)
Differenzierung von Hypothesenarten
Man kann Hypothesen u. a. nach folgenden Gesichtspunkten differenzieren: dem Genauigkeitsgrad (oder Präzisierungsgrad), in dem eine Hypothese formuliert ist (von der Forschungshypothese zur statistischen Hypothese), dem angenommenen Kausalitätsmodell der Hypothese (»Was ist Ursache, was ist Folge?«), der vermuteten Richtung des Zusammenhanges zwischen den Variablen (»Wird ein positiver oder ein negativer Zusammenhang vermutet?«) und dem angenommenen Verhältnis, in dem die Variablen nach der Hypothese zueinander stehen (»Wird ein Zusammenhang, ein Unterschied oder eine Veränderung in Bezug auf die Variablen postuliert?«). Diese Möglichkeiten werden im Folgenden näher erläutert.