Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit. Mathias Blanz
zuletzt genannten Beispiel alle untersuchten Führungsstile von jeder im Experiment eingesetzten Führungsperson eingesetzt werden. Ein Beispiel für einen solchen hierarchischen Versuchsplan, das sog. Lateinische Quadrat, wird in Box 9 näher beschrieben.
Box 9: Das Lateinische Quadrat als Beispiel eines hierarchischen Versuchsplans
In der klassischen Studie von Lewin, Lippitt & White (1939) wurden die Wirkungen der drei Erziehungs- oder Führungsstile »demokratisch« (oder kooperativ; die Geführten sind bei Entscheidungen beteiligt), »autoritär« (oder hierarchisch; die Entscheidungen werden ausschließlich von der Führungsperson getroffen) und »laissez-faire« (franz. für gewähren lassen; die Geführten treffen die Entscheidungen selbst) auf die Zufriedenheit und die Leistung der Geführten überprüft (s. a. Lück, 2001). Um sicher zu stellen, dass Veränderungen der abhängigen Variablen (Zufriedenheit und Leistung der Geführten) auf den jeweiligen Führungsstil (als unabhängige Variable) zurückgeführt werden können, und nicht etwa auf die Persönlichkeit der Führungsperson bzw. die spezifische Zusammensetzung der Geführtengruppen, werden im Lateinischen Quadrat von jeder Führungsperson alle drei Führungsstile realisiert bzw. bei jeder Gruppe alle drei Stile umgesetzt. Darüber hinaus kann durch diesen Versuchsplan geprüft werden, welcher der drei Führungsstile für die Zufriedenheit und Leistung der Geführten jeweils von größerer Bedeutung ist.
Führungsperson 1Führungsperson 2Führungsperson 3
Anmerkung: In den Zellen finden sich die jeweils umgesetzten Führungsstile, wobei die Reihenfolge der drei Stile sowohl über die Führungspersonen wie die Geführtengruppen vollständig variiert wurden (dieses Vorgehen wird auch als Ausbalancieren bezeichnet).
Follow-up
Katamnesen, d. h. Nacherhebungen der abhängigen Variablen mit einem gewissen Zeitabstand zur unabhängigen Variablen, eigenen sich besonders zur Prüfung der Nachhaltigkeit von Wirkungen, was für die Soziale Arbeit insbesondere bei Evaluationsstudien sozialpädagogischer Interventionen relevant erscheint (Stichwort »Hilfe zur Selbsthilfe«). Bei sehr großen Zeitabständen kann die Validität (Gültigkeit oder Qualität) des Experimentes indessen durch Zufallseinflüsse (wie z. B. Veränderungen in der Umwelt der teilnehmenden Personen, die nicht mit der unabhängigen Variablen in Zusammenhang stehen), durch Entwicklungsprozesse (d. h. die Personen verändern sich z. B. durch Reifung über die Zeit) und/oder durch systematische Ausfälle von UntersuchungsteilnehmerInnen gefährdet werden (d. h. Personen scheiden aus der Studie aus, beispielsweise durch Umzug, Motivationsverlust usw., wobei sich die Ausfälle häufig nicht in allen Versuchsbedingungen in gleichem Ausmaße ergeben; dies wird auch als experimentelle Mortalität bezeichnet).
Erwartungseffekte
Häufig bilden sich die Personen, die an Experimenten teilnehmen, Vorstellungen darüber, um was es in der Untersuchung geht und was von ihnen »erwartet« wird. Diese Erwartungen werden beispielsweise beeinflusst von den im Experiment vorgegebenen Instruktionen (»Mit dieser Studie wollen wir Entspannungsprozesse untersuchen«), dem experimentellen Setting (z. B. der Verwendung eines Entspannungssessels), den unabhängigen Variablen (z. B. dem Einsatz von Entspannungsinstruktionen wie »Ich bin jetzt ganz ruhig«), der Erfassung der abhängigen Variablen (z. B. der Messung der Pulsfrequenz) und dem Verhalten potentieller Konföderierter (die sich sichtbar entspannen). Solche Störeinflüsse werden auch als Aufforderungscharakteristiken (demand characteristics; vgl. Orne, 1962) bezeichnet. Eine spezielle Variante davon ist der sog. Hawthorne-Effekt (benannt nach den Hawthorne-Werken in den USA, wo der Effekt erstmals beobachtet wurde), der besagt, dass die TeilnehmerInnen einer Studie ihr Verhalten ändern, weil sie wissen, dass sie an einer Studie teilnehmen und unter Beobachtung stehen. Während einige Personen dazu tendieren, sich den vermuteten Hypothesen der Untersuchung anzupassen (die »angepasste« Versuchsperson), neigen andere dazu, genau das Gegenteil zu machen (die »reaktante« Versuchsperson).
Auch wenn die Versuchsleiterin bzw. der Versuchsleiter persönlich in Kontakt mit den teilnehmenden Personen tritt, besteht die Gefahr, dass sie ihr Wissen um die Ziele und Hypothesen der Studie durch ihr Verhalten an die Personen übermitteln, selbst wenn sie selbst dies nicht wahrnehmen. Solche Erwartungseffekte werden auch als Versuchsleitereffekte bezeichnet (Kebeck & Lohaus, 1985). Werden die Erwartungen der teilnehmeden Personen in einem Experiment »ausgeschaltet« oder minimiert, spricht man von »einfacher Versuchsblindheit«, da die Personen nichts über die (wahren) Ziele der Studie erfahren. Werden zusätzlich die Erwartungen der Person, die den Versuch leitet, eliminiert, indem dieser ebenfalls keine (wahren) Informationen über das Untersuchungsziel gegeben werden, liegt eine »doppelte Versuchsblindheit« vor.
Ethische Aspekte von Experimenten
Es kann in Experimenten schließlich vorkommen, dass Erwartungseffekte dadurch reduziert werden, dass man den teilnehmenden Personen ablenkende Informationen über das Ziel der Studie vermittelt. Dies liegt beispielsweise dann nahe, wenn sozial besonders erwünschte (wie z. B. prosoziales Verhalten) oder unerwünschte Verhaltensweisen (z. B. aggressives Verhalten) untersucht werden sollen. Dabei ist zu vermeiden, dass sich das Verhalten der Personen ausschließlich oder vorwiegend am Aspekt der sozialen Erwünschtheit orientiert (sonst reagieren sie in der Untersuchung bevorzugt prosozial bzw. vermeiden aggressives Verhalten). Ethische Richtlinien für die Durchführung von Experimenten und anderen Forschungsaktivitäten in Deutschland finden sich beispielsweise auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (www.dgps.de; insbesondere in Abschnitt C.III. Grundsätze für Forschung und Publikation). Eine knappe Zusammenfassung ethischer Grundsätze für empirische Untersuchungen geben Spaeth-Hilbert & Imhof (2013). Speziell für die Forschung in der Sozialen Arbeit gibt es auf den Internetseiten der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) seit 2020 den Forschungsethikkodex »Forschungsethische Prinzipien und wissenschaftliche Standards«.
Auswahl der Untersuchungsteilnehmer
Unter einer Grundgesamtheit (auch Population oder Kollektiv) versteht man alle Personen, die gemeinsam ein definierendes Merkmal aufweisen. Diese Merkmal (es können auch mehrere sein) wird in erster Linie durch die Fragestellung bestimmt: Eine Hypothese kann sich spezifisch auf eine Untergruppe von Menschen (sog. Merkmalsträger oder statistische Einheiten) beziehen, z. B. auf Personen mit Migrationshintergrund, alkoholkranke Menschen, Schulkinder, obdachlose Menschen, über 65jährige Personen, Menschen mit Behinderung usw. (z. B. »Über je mehr Geldmittel MigrantInnen verfügen, desto zufriedener sind sie«), die dann die jeweilige Population darstellen, oder auch auf alle Menschen, was bei Allaussagen der Fall ist (z. B. »Je ärmer Menschen sind, desto schlechter ist ihr Gesundheitszustand«). Merkmalsträger sind in sozialwissenschaftlichen Studien i. d. R. einzelne Personen oder auch soziologische Einheiten (wie Familien, Haushalte, Unternehmen etc.). Populationen lassen sich nach zeitlichen (z. B. »Personen, die am 1. Januar 2013 …«), sachlichen (»… mit ihrem Hauptwohnsitz …«) und/oder räumlichen (»… in der Stadt X gemeldet waren«) Gesichtspunkten charakterisieren. Der Begriff Untersuchungseinheit bezeichnet diejenigen MerkmalsträgerInnen, über die die Studie Aussagen treffen möchte (z. B. Familien oder Haushalte), während sich die Bezeichnung Erhebungseinheit auf diejenigen MerkmalsträgerInnen bezieht, an denen die Daten erhoben werden (z. B. die Haushaltsvorstände).
Am günstigsten für sozialwissenschaftliche Untersuchungen ist es, wenn die gesamte Population erfasst werden kann (sog. Voll- oder Totalerhebung). Dies ist eher möglich, wenn die entsprechende Population sehr klein ausfällt (z. B. Mädchen im Grundschulalter, deren Eltern nach 2005 aus Syrien nach Deutschland emigriert sind) bzw. wenn für die Personen Teilnahmepflicht besteht (z. B. alle Mitglieder einer Organisation). In diesem Fall muss nicht von einer Stichprobe auf die Population geschlossen werden, da die Befunde direkte Aussagen über die Grundgesamtheit zulassen. Allerdings können auch hier Einschränkungen auftreten, etwa wenn Personen nicht erreichbar sind (z. B. weil sie erkrankt sind) oder eine Teilnahme verweigern (sog. Nonresponder oder Dropouts). Die Anzahl der