Der Stand der Dinge. Odd Klippenvåg
eine Weile da und hielten einander fest, die Hände auf der weißen Tischdecke, neben meinem fettigen Teller. «Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt», sagte Annar, «du musst doch an dein Alter denken.» Und ich schwieg. So war es immer, wenn er mich an mein Alter erinnerte, an die siebzehn Jahre, die uns trennten. Statt aufzustehen, wie ich es vorgehabt hatte, bat ich Annar darum. «Nimm die olivgrünen Murano-Schälchen», sagte ich und spürte, wie wichtig es mir vorkam, alles so zu machen, wie wir es immer gemacht hatten, den Heiligabendritualen zu folgen und das Dessert nicht zu überspringen. Ich hörte die Sängerknaben, die hellen Knabensoprane, auf einer CD, die wir immer einlegen, wenn wir uns zu Tisch setzen, schon seit vielen Jahren. Ich nahm die Düfte im Haus wahr, Räucherstäbchen und Weihnachtsessen, Tannennadeln und die Dekoration auf dem Tisch mit den silbernen Hyazinthenzwiebeln, sogar den Geruch des brennenden Birkenholzes im Kamin. Wenn ich jetzt sterben müsste, dachte ich, und dann wusste ich, dass ich mich davor gefürchtet hatte, als plötzlich der Schmerz gekommen war, davor, das alles hier verlassen zu müssen.
«Wie fühlst du dich jetzt?», fragte Annar, als er sich setzte. «Fast normal», sagte ich. Mein linker Arm tat nicht mehr weh, und der Schmerz in der Brust war nicht schlimmer als die Nachwehen eines heftigen Sodbrennens. Nur mein Nacken fühlte sich seltsam an, noch immer steif, bis in den Hinterkopf hinein. «Greif zu», sagte ich und schob ihm die Schüssel mit der Multecreme hin. «Nein, du zuerst», widersprach Annar, «du hast die Beeren gepflückt.» Ich bediente mich und dachte an den wunderschönen Herbsttag, ich war barfuß durch das Moor unterhalb der Hütte gegangen, zusammen mit dem Hund, und hatte Beeren gepflückt. Solche Tage im Gebirge, mit Sonne und klarer Herbstluft, sind ein Geschenk, dachte ich, mit Multebeeren in einem blanken Aluminiumeimer, so reif, dass ich mir gleich die Finger ablecken musste. Ich konnte mich an alles so deutlich erinnern, an den Hund, der mit flatternden Ohren loslief, wann immer ich mich aufrichtete und mich umschaute, deshalb fragte ich: «Wo ist Caro?» – «Caro?», wiederholte Annar, überrascht von meiner Frage. Weil der Hund seinen Namen gehört hatte, stand er plötzlich in der Wohnzimmertür und sah uns an. Der sieht so schön aus, dachte ich, ein prachtvoller irischer Setter. Ich winkte Caro zu mir, und er stellte sich neben meinen Stuhl, legte mir die Schnauze auf den Oberschenkel und schaute aus warmen braunen Hundeaugen zu mir hoch. Später, als wir die Mahlzeit beendet hatten und vor dem Kamin saßen, verspürte ich plötzlich ein leichtes Unbehagen. Ich dachte, es liege daran, dass ich zu viel gegessen hatte, und deshalb nickte ich, als Annar Kaffee kochen wollte, und dachte, der könnte doch belebend wirken. «Auch einen Cognac?», fragte Annar. «Ja, danke», sagte ich, aber als Annar in der Küche verschwunden war, bereute ich das und wusste, ich hätte den Branntwein ablehnen sollen. Trotzdem rief ich nicht hinter Annar her, dass ich mir die Sache anders überlegt hätte. Ich tat es nicht, weil ich wollte, dass alles so wäre wie immer am Heiligen Abend, auch Kaffee und Cognac gleich nach dem Essen. Ich stand auf und legte ein Holzscheit in den Kamin, dann zog ich eine neue CD aus dem Regal, Händels Klaviersuiten. Als ich an der Stereoanlage stand, fühlte ich mich für einen Moment schwindlig, deshalb ging ich sicherheitshalber zu meinem Sessel zurück. Der Schweiß trat mir wieder auf die Stirn, und weil ich glaubte, das werde helfen, öffnete ich noch einen Knopf an meinem Hemd. In diesem Moment brachte Annar die Kaffeetassen und die Schale mit dem Mandelkranz. «Ist dir heiß?», fragte Annar. «Sollen wir ein wenig lüften?» – «Gern», antwortete ich, obwohl ich wusste, dass nicht die Wärme im Haus an meinem Schweiß schuld war.
Und als ich ein Stück Mandelkranz aus der Schale nahm, glitt es mir aus der Hand, ehe ich hineinbeißen konnte. Verwirrt sah ich zu, wie es auf dem Boden zerbrach, ich begriff nicht, wie ich es hatte verlieren können, und gleich war der Hund da und verschlang die Brocken. Annar starrte mich fragend an, und ich brachte es nicht über mich, mir noch ein Stück Gebäck zu nehmen, ich erhob mich und sagte: «Caro, wollen wir ein wenig frische Luft schnappen?» Der Hund wedelte mit dem Schwanz und lief vor mir her in die Diele, und als ich hinterherging, hatte ich das Gefühl, mich in einem Traum zu bewegen. Ich musste einige Sekunden warten, ehe ich mich bücken und Caros Halsband fassen konnte. Dann öffnete ich die Tür und spürte die kühle Luft im Gesicht. Ich befestigte die Leine am Halsband, und als der Hund vor mir hersprang, blieb ich stehen und schaute hinter ihm her. In der Luft wirbelten einige leichte Schneeflocken. Über der Stadt lag ein gelblicher Lichtschein. Plötzlich verspürte ich eine Art Wehmut, ohne zu begreifen, warum, denn alles war mir so vertraut: die Aussicht von der Treppe, auf das Neonlicht der Tankstelle, den geschlossenen Imbiss und die Autowerkstatt. Von der Autobahn her hörte ich ein gleichmäßiges Rauschen, wenn auch nicht so deutlich wie an anderen Abenden.
Er begreift, dass er ein wenig geschlafen hat, denn als er die Augen öffnet, ahnt er die Wand hinter dem Fußende des Bettes, und im Spiegel über dem Waschbecken sieht er das Fenster, obwohl die Vorhänge geschlossen sind.
Ich habe etwas geträumt, denkt er, etwas Weißes.
Er würde gern Wasser lassen, beschließt aber, bis zur Morgenwäsche durchzuhalten, oder bis die Nachtschwester noch einmal hereinschaut. Als er sich mühsam auf die Seite gedreht hat, weiß er, dass das nicht gehen wird, er kann es nicht schaffen, und deshalb muss er an der Leine ziehen.
Zum Glück ist an seinem Geruchssinn nichts auszusetzen, denn er kann den Duft der Chrysanthemen in der Vase auf dem Nachttisch riechen, als er nun wartet. Diese Blumen hat Annar bei seinem letzten Besuch mitgebracht, einen kleinen Strauß.
«Was ist los, Simon?», fragt die Nachtschwester.
«Ist heute Sonntag?», antwortet er.
«Ja», sagt sie. «Das weißt du doch.»
Dann kommt Annar, denkt er, weil Sonntag ist.
«Hast du deshalb geklingelt?», fragt die Nachtschwester und will schon wieder gehen.
«Nein», sagt er eilig, «du musst mir die Flasche geben.»
Sie knipst die Lampe über dem Bett an, und das Licht ist so grell, dass er die Augen zukneifen muss. Weil er das tut, kann er die Urinflasche nicht selbst entgegennehmen, und dann merkt er, wie die Schwester eilig die Decke hebt und sein Glied packt wie einen Wurm. Als er wieder hinschauen kann, kehrt sie ihm den Rücken zu.
«Fertig», sagt er und spürt, wie gut es tut, wenn die Blase leer ist.
«Jetzt musst du schlafen, Simon», sagt die Nachtschwester, als er ihr die Flasche reicht.
Er bittet sie, das Licht zu löschen, und als sie an der Tür steht, glaubt er, sie nicht auch noch um einen Schluck Wasser bitten zu dürfen, ehe sie verschwindet. Hermansen wimmert, das hört er jetzt.
Er hätte gern gewusst, was Hermansen träumt, wenn er im Schlaf so sehr stöhnt. Träumt er von einem Schäferstündchen mit seiner Frau oder von einer köstlichen Sahnetorte? Vielleicht gibt es da für ihn ja kaum einen Unterschied. Er hat nämlich gehört, dass Hermansen früher Konditor war, auch wenn es ihm schwerfällt, das zu glauben. Denn ab und zu, wenn sie ein seltenes Mal zum Nachmittagskaffee ein wirklich leckeres Stück Kuchen bekommen und nicht nur trockenen Sandkuchen, dann hat er versucht, Hermansen zu beobachten. Hat der eine andere Art zu essen, hat er sich gefragt, aber jedes Mal wird er enttäuscht, es ist nämlich unmöglich, irgendeinen Unterschied zwischen Hermansen und den anderen zu entdecken, und zu den anderen gehört auch er selbst. Hermansen bohrt den Teelöffel mit derselben Gier in das Kuchenstück und führt ihn ebenso zitternd zum Mund wie die anderen. Und er kaut und schmatzt hemmungslos. Er hätte geglaubt, er würde feststellen können, ob Hermansen wirklich die Qualität eines Kuchens bewertet, ob zum Beispiel ein deutliches Lächeln über sein Gesicht gleitet, wenn er auf dem Tisch eine köstliche Marzipantorte sieht, oder ob Hermansen sich vorbeugt, um sich in den Anblick der Verzierungen auf der Torte zu vertiefen, eine Sahneborte um den Rand, rote Marzipanrosen oder eine elegante Aufschrift in Karamell. Aber nein! Nie hat er gesehen, dass Hermansen zuerst die Füllung gekostet hätte, ehe er sich über den eigentlichen Kuchen hermachte. Hermansen müsste doch ganz andere Voraussetzungen haben, um eine reichhaltige Nusscreme zu bewerten ...
Dann fällt ihm ein, was er eben geträumt hat: Er stand in einem großen weißen Zimmer, ohne zu wissen, wo er war. Denn es waren weder seine eigenen Räumlichkeiten im alten Haus noch die seiner Eltern. Plötzlich fror er, und dann stand er in einer kalten Schneelandschaft. Kein Haus,