Der Stand der Dinge. Odd Klippenvåg
eine Bedeutung haben?, fragt er sich.
Ich habe solche Angst davor, mein Gedächtnis zu verlieren. Im Grunde habe ich jetzt Angst vor allem. Dass die Wörter verschwinden. Wörter für ganz normale Dinge. Zutaten heißt das, woraus eine Mahlzeit besteht. Zwiebeln und Tomaten, in Streifen geschnittenes Schweinefleisch. Solche Alltagsdinge. Ein Regenschirm, zum Beispiel. Wann habe ich zuletzt einen Regenschirm benutzt? Wann habe ich eine Glühbirne berührt? Oder einen Schraubenzieher. Aber diese Alltagsworte vergesse ich. Die lieben alten Dinge dagegen sind in meiner Erinnerung festgenagelt. Ich kann sie wie auf Knopfdruck aufrufen: eine barocke Truhe, ein Schöpflöffel, ein Jugendstil-Zuckerstreuer, ein norwegisches Bierhuhn.
Am zweiten Weihnachtstag kam Inger mit dieser Freundin zu Besuch.
Wie hieß die Freundin noch gleich? War das nicht irgendein Name mit S?
Ich weiß noch, dass sie über die Hinrichtung Saddam Husseins im Irak diskutierten, als ich den Nachtisch servierte. «Das war nur richtig so», sagte Inger. «Der Mann hatte doch einen Völkermord begangen.» – «Genau», stimmte Annar zu. Da musste ich ihn ansehen, sein freundliches Gesicht, jetzt so verbissen und verkniffen, als er das sagte. «Egal», sagte die Freundin, «wir haben nicht das Recht, einen anderen Menschen zu töten.» Ihre Worte, so ruhig und entschieden, brachten die beiden anderen zur Besinnung. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich nun Vanilleeis und duftende flambierte Multebeeren servierte.
Anne, so hieß sie, die Freundin.
Und nach dem Essen, als wir alle vier vor dem Kamin saßen, fragte Anne mich, wie ich dazu gekommen sei, mich für Antiquitäten zu interessieren. «Ach, das ist eine lange Geschichte», antwortete ich. «Ich hatte einen Onkel in dieser Branche.» Dann musste ich mich korrigieren und erklären, dass Onkel Gustav eher einen Trödelladen hatte als ein Antiquitätengeschäft, ganz anders als Annar und ich. «Ich habe Onkel Gustav beerbt», erzählte ich.
Annar war mir zum ersten Mal wirklich aufgefallen, als ... Es war ein feuchtkalter Morgen gleich nach Ostern 1966, mit Regen und Wind in der Luft. Als ich aus dem Lieferwagen stieg, sah ich, dass Annars Mutter Wäsche auf die Leine hängte. Ich musste sie natürlich begrüßen, und ich ging zum Lattenzaun, um eine Runde zu plaudern. Als wir dort standen, mit dem Zaun zwischen uns, schaute ich zufällig an dem Mietshaus hoch, in dem sie wohnte. Dabei sah ich Annar in einem Fenster im ersten Stock. Weil ich den Eindruck hatte, Annar sei splitternackt, geriet ich in ziemliche Verwirrung. Natürlich konnte ich seinen Körper nur von den Hüften aufwärts sehen, oder eigentlich nicht einmal das. Ich glaube nicht, dass seine Mutter meine Verwirrung bemerkt hatte, denn ich ließ meinen Blick sofort zu ihr weiterwandern. Als sie sich über den Wäschekorb bückte, musste ich natürlich doch zu ihrem Fenster hochblicken und nachsehen, ob Annar noch dort stand. Und das tat er. Annar starrte auf uns herab, trotzig, fand ich, herausfordernd. Hätte der Junge jetzt nicht in der Schule sein müssen, überlegte ich und zog meine Taschenuhr heraus. An der Leine wehten Bettwäsche und Handtücher. Und Annars Unterhosen. Als ich zu Lieferwagen und Schuppen schlenderte, wusste ich, dass Annar mich im Auge behielt. Und das gab meinem Körper eine seltsame Unruhe.
Dann ist er wieder eingenickt.
Es ist heller geworden. Alles ist deutlicher, wenn auch mit vagen, verschleierten Konturen. In der Ecke der neue Schlafrock, den Annar ihm gekauft hat, er liegt über der Stuhllehne. Die Handtücher beim Waschbecken. Die Druckgrafik an der Wand.
Hermansen hustet. Vom Fenster her, das auf Kipp steht, hört er Vogelzwitschern. Um diese Jahreszeit gibt es nur Spatzen.. Unten auf der Straße ein Auto.
Manchmal, wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht, kann er so früh am Morgen eine Lokomotive heulen hören. Das sind die Nachtzüge, die die Stadt erreichen. Außerdem Flugzeugdröhnen bei Tag und bei Nacht.
Warum rede ich nicht häufiger mit Hermansen, überlegt er und dreht sich auf den Rücken. Vermutlich, weil Hermansen diesen leeren Blick schon hatte, als er gekommen ist. Anfangs hat er es immerhin versucht. Er hielt es nicht für möglich, sich zusammen mit einem anderen Menschen in einem Zimmer aufzuhalten, ohne dass einer von beiden etwas sagte. Zuerst hatte er Hermansen seine ganze Krankheitsgeschichte erzählen wollen. Aber als Hermansen keine Antwort gab, verstummte auch er.
Er weiß, dass es noch lange dauern wird bis zum Frühstück. Viele Jahre lang, das weiß er noch, hat er manchmal morgens nach dem Aufstehen den Plattenspieler eingeschaltet, ehe er Kaffeewasser aufsetzte. Dann strömte Brahms aus den Lautsprechern über dem Küchenschrank. Oder ein anderer. Sogar Bruckner, so früh am Morgen. Er ließ alle die Großen laufen, je nach Lust und Laune. Auch die Dirigenten. Furtwängler. Böhm. Oder Karel Ančerl. In einem Herbst waren er und Annar nach Amsterdam gefahren, um Haitink Mahlers Achte dirigieren zu hören.
Die größten Musikerlebnisse habe ich doch in meinem eigenen Wohnzimmer gehabt, denkt er.
Wenn Annar kommt, dann in der Regel gleich nach dem Essen. Plötzlich steht er am Tisch, ehe ich aufs Zimmer zurückgehen kann. Die anderen starren ihn an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätten. Hermansen natürlich und Frau Roll. Eigentlich müsste Annar kommen, wenn ich besser in Form bin, nicht wenn ich gleich nach dem Essen am liebsten schlafen würde. Das habe ich ihm auch gesagt. «Kannst du nicht vormittags kommen», habe ich gefragt, «oder ein bisschen später?» Und er bittet um Entschuldigung, sagt, das sei nicht immer so leicht. «Komm abends», sage ich. «Komm nachts.» Dann lächelt er und drückt mir die Hand.
Eines Tages höre ich eine Pflegerin flüstern, dass Frau Roll offenbar neun Leben hat.
Werde ich nie wieder reisen? Oder wenigstens kleine Ausflüge machen? Im Auto zusammen mit Annar. Nach Hause vielleicht. Nicht nach Telemark ...
Ich bin gestürzt. Im März bin ich plötzlich gestürzt. Damit änderte sich alles. Nach dem kurzen Krankenhausaufenthalt kamen viele Wochen der Reha.
Auf der Heimfahrt von der Reha, als wir an der Ausfahrt nach Drøbak vorbeikamen, dachte ich daran, wie wir auf früheren Touren hier abgezweigt waren, um in einem Restaurant zu essen, das uns so gut gefiel. Aber Annar drosselte weder das Tempo, noch deutete er auf irgendeine Weise an, dass er sich daran erinnerte, wie unser Leben früher ausgesehen hatte. Mir fiel einfach nicht ein, wie das Restaurant hieß, nur, dass es gleich beim Parkplatz neben der Kirche lag, nicht weit entfernt von der Post, in einem niedrigen alten Holzhaus mit gemütlichen, ziemlich kleinen Räumen. Dass ich mich an den Namen nicht erinnern konnte, machte mich traurig, obwohl ich doch auf dem Weg nach Hause war. Bin ich jetzt auch noch senil geworden, fragte ich mich, zusätzlich dazu, dass mir diese Raubvogelkralle verpasst worden ist? Denn obwohl ich darüber erleichtert war, dass Annar mich endlich abholen konnte, war ich nicht wirklich froh. Natürlich fuhr Annar. Ich hätte ihn gern angefasst, die ganze Zeit hätte ich das gern getan, aber ich tat es nicht. Ich sah ihn nur immer wieder von der Seite an, und es kam vor, dass Annar es bemerkte und mir einen Blick zuwarf und aufmunternd lächelte. Ich hätte ihm am liebsten die Hand aufs Knie gelegt und liebevoll zugedrückt, so wie früher, aber ich wollte das Knie, so wie wir da saßen, nicht mit der rechten Hand anfassen: Ich hätte mich halbwegs auf dem Sitz umdrehen müssen, um das zu schaffen, so kam es mir vor, auch wenn das gar nicht stimmte, das sah ich doch, aus einer Art Verlegenheit heraus, oder, das gebe ich jetzt zu, weil es unser neues Leben gar zu deutlich illustriert hätte. Deshalb saßen wir seltsam schweigend da, Kilometer für Kilometer. Wir sprachen kaum über andere Dinge als über den Laden, über An- und Verkauf, zu gedämpfter Jazzmusik aus der Stereoanlage, wie Annar sie gern hörte.
«Wo möchtest du essen?», fragte Annar aus der Küche, als wir nach Hause gekommen waren. «Egal», antwortete ich, «gerne am Küchentisch.» Ich stand aus dem Sessel auf, blieb stehen und stützte mich gegen den Rahmen der Verandatür. Der Hund sprang sofort auf, er hatte, seit ich gekommen war, zu meinen Füßen gelegen, und ein wenig unsicher bückte ich mich und streichelte ihn, ließ die weichen Hundeohren mehrmals über die Handfläche meiner gesunden Hand gleiten. «Ich finde, wir nehmen den Esstisch im Wohnzimmer», sagte Annar und lief durch das Zimmer, «heute ist doch ein Tag, den wir feiern müssen!» Weil ich merkte, dass Annar mich besorgt anblickte, während er den Tisch deckte, ging ich vorsichtig hinaus auf die Veranda. Es war ziemlich warm für Mai, diesige Sonne, ein wenig schwül. Sofort stand Annar in