Der Stand der Dinge. Odd Klippenvåg
die Zeit kommt, in der er selbst so hilflos sein wird. Dass Hermansen dort auf dem Rücken liegt. Die dünnen, weißen Beine ausgestreckt. Sein Glied unter dem Nachthemd.
«Bist du eingeschlafen, Simon?»
«Nein, das nun wirklich nicht», antwortet er.
«Willst du dann nicht aufstehen?», fragt sie.
«Du musst mir dabei helfen, bitte», sagt er.
Sie ist zu abrupt und grob, das merkt er, und weil sie ihn an der Raubvogelkralle hochziehen will, muss er Protest einlegen.
«Die andere», sagt er.
Ihm wird immer ein wenig schwindlig, wenn er sich aufrichtet, und immer hat er Angst zu fallen.
«Kannst du jetzt von selbst stehen?», fragt sie.
«Das hoffe ich», antwortet er.
Dann lässt sie ihn los und geht zum Waschbecken, um für ihn Wasser einlaufen zu lassen.
Im Spiegel sieht er die runzligen Tränensäcke unter seinen Augen, die Altersflecken auf den Wangen und die viel zu struppig gewordenen Augenbrauen. Als er seinen elektrischen Rasierapparat hervornimmt, fällt ihm ein, dass Annar den für ihn gekauft hat; ein Geschenk zum sechzigsten Geburtstag, wenn er sich nicht irrt.
Die ersten maskulinen Gerüche. Rasierschaum und Rasierwasser.
Ich habe immer Onkel Gustav beim Rasieren zugesehen, nicht Vater. Denn an den Wochenenden oder wenn wir nicht in Ferien waren, durfte ich manchmal den Onkel in der Stadt besuchen. Was mein Vater allerdings nicht gern sah. In der Regel holte der Onkel mich mit seinem alten Lastwagen ab. Er betrat nur selten das Haus meiner Eltern, er hielt am Tor, hupte und wartete, bis ich angerannt kam. Wenn ich losstürzte, kam ab und zu meine Mutter hinterher und plauderte ein wenig mit dem Onkel, nie kam Vater, manchmal blieb Mutter auch auf der Treppe stehen und winkte, bis wir losfuhren. Das Trittbrett zum Führerhaus war zu hoch für mich, aber weil Onkel Gustav die Tür bereits geöffnet hatte, konnte ich Anlauf nehmen und fast im Sprung auf dem schwarzen, gesprungenen Ledersitz landen.
Die kleinen Figuren, die an einer Schnur an der Windschutzscheibe baumelten. Eine rote Papierrose und drei blanke Schlüssel, die zu nichts mehr passten, sagte mein Onkel, und ein Zentaur aus patinagrünem Metall. Normalerweise lebten Zentauren tief in den griechischen Wäldern, hatte mein Onkel mir erzählt, diesen hier aber hatte er zu seiner Zeit als Seemann gekauft, in einem Hafen namens Piräus.
In dem dunklen Treppenhaus in Onkel Gustavs Wohnblock roch es anders als zu Hause, feucht und schimmelig. Oft roch es auch nach Essen. Nach gebratenem Fisch und gekochtem Kohl. Die Dunkelheit lag an den Fenstern mit getöntem Glas. Eigentlich war es auch schön, wenn sich die Augen erst daran gewöhnt hatten. Kleine Fenster in allen möglichen Farben. Ich konnte mit der Hand über das glatte Holz des Geländers fahren, während ich die Treppe hochging. Darunter gab es ein Muster aus schwarzem Schmiedeeisen. Einige Male nahm ich zwei Stufen auf einmal, nur um schneller oben zu sein als der Onkel. Vor den Türen in jedem Stockwerk standen Schuhe und Stiefel und viele andere Dinge. Leere Margarinekisten und Jutesäcke voll Kohle oder Holz. Manchmal waren hinter den Türen Stimmen zu hören. Erwachsene, die sich stritten, Kinder, die schrien. Radiomusik. Onkel Gustav wohnte im fünften Stock. Über ihm gab es nur den unheimlichen Dachboden, wo ein Gespenst umging, ein Mann, der unter den Wäscheleinen zwischen den Verschlägen hin und her lief.
Als Erstes kniete ich mich auf einen Holzstuhl vor dem Fenster in der engen Küche. Um zu sehen, ob die Straßenbahn durch die Thorvald Meyers gate fuhr, aufwärts oder abwärts. «Siehst du was?», fragte Onkel Gustav und trat manchmal hinter mich und hielt ebenfalls Ausschau.
War es ein Kuss, wenn Onkel Gustav dabei die Lippen auf meine Haare drückte? Für einen Moment spürte ich eine warme feuchte Stelle mitten auf dem Kopf.
Onkel Gustav kannte einen Mann. Damals redete man nicht darüber. Auch nicht in den fünfziger Jahren. Im Krieg ...
Die beiden Lebensmittelhändler in Telemark, jeder auf seiner Seite des Heddalsvei. Immer sah ich sie, wenn wir Tante Aste und Onkel Jarmund besuchten.
Meine Tante und mein Onkel hatten auf Nesøya ein Krähenschloss, dort, wo der Tinnå ins Heddalsvann mündet. Auf dem anderen Flussufer lag das Eisenwerk Tinfoss, wo Onkel Jarmund als Kranführer und Mann für alles tätig war. In Nesøya gab es zudem unbebaute Gebiete, voll von Kohlenstaub. Hier hatten die Deutschen ein Exerziergelände, und wenn wir einkaufen gingen, konnten wir den rhythmischen Gesang hören, wenn die Soldaten zu ihrem Lager weiter oben in der Stadt marschierten. «Die Fahne hoch», sangen die Soldaten, oder «Alte Kameraden».
Weshalb machte ich mir Gedanken über die beiden Lebensmittelhändler? Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwer mir erzählt hätte, dass sie Junggesellen waren. Dass sie zusammen ein Ferienhaus gebaut hatten. Wusste ich es einfach so? Samstags fuhren sie immer gemeinsam mit dem Bus. Jeder mit seinem Rucksack und einer am Rucksack hängenden Milchkanne. Immer hatte jeder einen Liter frisch geseihte Milch gekauft. Sie waren damals so um die vierzig. Scheinbar Konkurrenten. In Wirklichkeit Freunde.
«Kannst du dich jetzt anziehen, Simon?», fragt die junge Neue.
Er ist so weit weg in Gedanken, deshalb zuckt er zusammen. Aber weil er sieht, dass Hermansen schon angezogen ist, dass sie ihn zum Warten auf einen Stuhl neben dem Bett gesetzt hat, bleibt er ganz ruhig.
«Nur noch schnell etwas Duft unter die Arme», sagt er.
Er ist selbst von sich überrascht, als er sich vom Waschbecken abwendet und Hermansen einen guten Morgen wünscht. Als Antwort bekommt er nur diesen ängstlichen Blick, und auch die Neue scheint nicht zu hören, dass er sich Mühe gegeben hat. Sie läuft zu seinem Kleiderschrank und fragt:
«Sollen wir heute ein neues Hemd nehmen, Simon?»
«Ja», antwortet er und geht vorsichtig los, indem er sich zuerst an Hermansens Bettkante festhält, dann stützt er sich auf sein eigenes Bett.
«Findest du vielleicht ein weißes Hemd», bittet er, «schließlich ist Sonntag.»
Als sie eins gefunden hat, sieht er, dass sie bereits erschöpft ist, denn ihr Gesicht ist schweißnass und rot angelaufen.
«Setz dich auf den Stuhl, damit du nicht fällst, Simon», sagt sie und fängt an, ihn anzuziehen.
Wieder muss er sie bitten, mit seinem kranken Arm vorsichtig umzugehen.
«Tut es weh?», fragt sie.
«Na ja, was heißt schon weh», antwortet er.
Hermansen trägt ein hellblaues Hemd, und plötzlich merkt er, dass etwas nicht stimmt.
«Du hast Hermansens Hemd falsch geknöpft», sagt er.
Sie schaut kurz zu Hermansen hinüber, bringt das Hemd aber nicht in Ordnung. Sie sagt nur:
«Und jetzt die Hose, Simon.»
«Und die Schuhe», sagt er, «das ist das Schwierigste.»
Er kann ihren Atem hören, als sie sich aufrichtet, nachdem sie seine Schnürsenkel zugebunden hat. Für einen Moment sieht er, wie sie sich reckt und die Hände ins Kreuz presst, dann lächelt sie und sagt:
«Dann wären wir so weit, Jungs! Du findest den Weg doch selbst, Simon?»
«Glaub schon», sagt er und erhebt sich, als sie Hermansen vom Stuhl hochzieht, um ihn in den Aufenthaltsraum zu bringen. Sie sind schon weit vorn im Gang, als er hinterherkommt. Allein vom Zimmer zum Aufenthaltsraum zu gehen, ist eine Belastung, denkt er und hält sich am Geländer an der Wand fest. Er weiß, dass er beim Gehen seltsame Bewegungen mit dem linken Fuß macht. Er hebt den Fuß zu hoch und dreht ihn nach innen, ehe er ihn aufsetzt. Das muss ja vielleicht komisch aussehen, denkt er.
Am Ende hat auch er seinen festen Platz am Fenster neben Hermansen erreicht, und Hermansen starrt ihn verwundert an, als ob er ihn nicht wiedererkennt. Noch eine halbe Stunde bis zum Frühstück, sieht er. Und Frau Roll ist nicht gekommen. Bei Hermansen fehlt die Orientierung, denkt er, und bei mir die Motorik.
Ein