Jan ganz groß!. Carlo Andersen
«Das hat herrlich geschmeckt! Und jetzt wäre es schön, wenn man eine Tasse Tee trinken könnte ...»
«Ich denke, du wolltest keinen Tee haben?» neckte ihn Jan.
«Ich habe meinen Beschluss geändert», erwiderte Erling gelassen. «Tee ist ein herrliches und erfrischendes Getränk.»
Das Lagerfeuer brannte lustig, und die vier Buben waren sich darin einig, dass das Zelten dem Übernachten in einem langweiligen Hotelbett bei weitem vorzuziehen wäre. Ausserdem war es ja viel billiger!
Die Sonne war untergegangen und die Dämmerung brach an. Hin und wieder fuhr ein Radfahrer vorüber und winkte den vier Freunden zu. Schliesslich wurde es so dunkel, dass man nur noch Schatten vorüberhuschen sah. Die Lichtkegel der Autos schnitten durch die Finsternis und tauchten die Baumstämme für eine kurze Weile in ein unnatürlich weisses Licht. Erling gähnte herzhaft und sagte: «Ihr müsst mich entschuldigen, Freunde, aber ich lege mich hin. Meiner Meinung nach hat die menschliche Leistungsfähigkeit ihre Grenzen. Gute Nacht alle miteinander!»
Erlings breite Hinterfront verschwand durch die Zeltöffnung. Wenige Minuten später folgte ihm Jesper. Jan und Carl blieben noch draussen und genossen den schönen Sommerabend. Da Tau gefallen war, benutzten sie ihre Regenmäntel als Unterlage. Eine Weile lagen sie schweigend. Dann fragte Jan: «Nun, Carl? Gefällt es dir? Freust du dich, dass du mitgekommen bist?»
«Sehr!» erwiderte Carl voller Überzeugung. «Du weisst ja, dass ich immer mächtig gern mit euch zusammen bin. Aber ...»
«Aber?»
Carl wurde verlegen und konnte sich offenbar nicht entschliessen, zu erklären, was er auf dem Herzen hatte. Jan liess ihm Zeit. Schliesslich sagte Carl mit etwas unsicherer Stimme: «Ja, siehst du ... Ich habe es nie richtig verstehen können, dass ihr ... na ja, du weisst ja, was ich meine. Ihr seid sogenannte ‚Jungen aus besserem Hause‘ und ich ... ich war ja Laufbursche in einem Milchgeschäft, als wir uns kennenlernten ...»
«Hör doch bloss mit dem Unsinn auf!» unterbrach ihn Jan ärgerlich. «Was bedeutet das denn, wenn man aus ‚besserem Hause‘ ist? Glaubst du vielleicht, man ist ein besserer Mensch, weil man einen Vater mit einem Bankguthaben oder einer Villa hat? Worauf es ankommt, ganz allein ankommt, ist, dass man als Mensch etwas wert ist. Alles übrige ist Nebensache. Und dass du etwas taugst, weisst du selbst genau so gut wie wir.»
«Ich danke dir, Jan», murmelte Carl. «Ich will nur hoffen, dass ich euch einmal für alles, was ihr für mich getan habt, durch eine Tat danken kann ...»
«Hast du ein schlechtes Gedächtnis?» fiel Jan ungeduldig ein.
«Ein schlechtes Gedächtnis? Nein. Weshalb?»
«Hast du denn schon vergessen, dass du vor wenigen Tagen einen unserer Kameraden gerettet hast, als er in Gefahr war, zu ertrinken?»
«Das ist doch wirklich nichts Besonderes.»
«Nichts Besonderes?» rief Jan. Dann fügte er lachend hinzu: «Lieber Carl, du bist grossartig! Du denkst, man ist ‚fein‘, weil man in eine höhere Schule geht. Wenn aber einer sein Leben wagt, um einen anderen zu retten, dann ist das deiner Meinung nach ‚nichts Besonderes‘. Doch wir wollen davon nicht länger reden. Bist du nicht müde?»
«O nein ... Wo soll die Fahrt morgen hingehen?»
«Nach Alsen. Wir wollen uns einmal die Karte ansehen.» Jan breitete eine Landkarte auf dem Gras aus, und die beiden studierten sie im Schein des Lagerfeuers. Jan zeigte mit dem Finger: «Erst wollen wir uns in Sonderburg etwas umschauen. Dann fahren wir nach Kegnäs. Jack sagte ja, dort sei ein schöner Badestrand. Wir werden sicher keine Mühe haben, einen guten Lagerplatz zu finden.»
«Merkwürdig, dass Jack und die andern nicht mitwollten.»
«Ja, sehr merkwürdig», stimmte Jan nachdenklich zu.
Die beiden Freunde plauderten noch eine halbe Stunde miteinander. Aus dem Zelt drangen friedliche Schnarchlaute in die Nacht heraus. Es war Erling, der nach den Strapazen des Tages den Schlaf des Gerechten schlief.
Das Lagerfeuer sank langsam zusammen. Bald musste es erlöschen. Da stand Jan auf und trat sorgfältig die letzte Glut aus. Er wusste, dass bei dem saftigen, taufeuchten Gras keine Gefahr bestand. Aber wenn es sich um Feuer handelte, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Jahr für Jahr gingen Millionenwerte in Flammen auf, weil die Leute nicht vorsichtig waren.
Jan und Carl krochen ins Zelt. Jan konnte lange keinen Schlaf finden. Schliesslich wandte er den Kopf nach Carl herum und flüsterte: «Carl, schläfst du?» Es kam keine Antwort. Carl schlief ebenso fest wie Erling und Jesper. Durch den Spalt im Zeltvorhang konnte Jan sehen, dass der Mond aufgegangen war. Hin und wieder hörte er ein Auto auf dem Wege vorüberfahren. Aber es geschah immer seltener, während die Zeit fortschritt.
Es mochten zwei bis drei Stunden vergangen sein, als Jan sich plötzlich aufrichtete und lauschte. Täuschte er sich oder hörte er draussen tatsächlich vorsichtige Schritte? Ja, es war kein Zweifel möglich! Jetzt hielten sie plötzlich an. Wer konnte das sein? Einer von den Leuten auf dem Hof? Oder der Besitzer, der sich vielleicht überzeugen wollte, ob auch alles in Ordnung war?
Plötzlich hörte Jan ein schwaches metallisches Klirren. Und da kam ihm blitzschnell die Erkenntnis: Die Räder!
Er kroch zur Zeltöffnung, schlug den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Was war denn das? Eine hohe, kräftige Gestalt beugte sich über die Räder und war offensichtlich im Begriff, eins zu entwenden.
Jan sauste durch die Zeltöffnung, lief auf den Mann zu und rief: «Heda! Was machen Sie da? Wollen Sie ein Rad stehlen?»
Der Mann drehte sich schnell um und liess das Rad zu Boden fallen. Jan hatte ihn schon beinahe erreicht, blieb aber plötzlich stehen und machte grosse Augen. Das Gesicht des Fahrraddiebes war im Mondlicht deutlich zu erkennen. Und was sah Jan? Vom linken Auge bis zum Hals zog sich eine breite Narbe!
«Der Flüchtling von der Grenze!» rief Jan. Weiter kam er nicht. Denn in diesem Augenblick packte der Mann ihn an der Brust, versetzte ihm einen Hieb auf den Kopf und schleuderte ihn heftig zu Boden. Jan hatte das Gefühl, als würde ihm mit einer Keule auf den Hinterkopf geschlagen. Dann wurde es ihm schwarz vor den Augen ...
Als er zu sich kam, blieb er einen Augenblick still liegen und starrte zum mondhellen Himmel empor. Im ersten Augenblick begriff er nicht, was geschehen war. Wo war er? Und weshalb hämmerte es so in seinem Hinterkopf? Er richtete sich mühsam auf, verharrte in sitzender Stellung und blickte sich verwirrt um. Allmählich erinnerte er sich. Er war von einem Fahrraddieb niedergeschlagen worden ... von dem Mann mit der Narbe ... dem Flüchtling von der Grenze ...
Stöhnend stand er auf und griff sich an den Hinterkopf. Scheusslich, dieses Hämmern und Pochen. Wie lange mochte er im Grase gelegen haben? Vielleicht einige Minuten ... vielleicht eine halbe Stunde! Und das eine Rad war verschwunden! Es war Carls Rad, wie er feststellte.
Sein Gehirn arbeitete jetzt wieder mit völliger Klarheit. Er eilte zum Zelt und rief hinein: «Wacht auf! Wacht auf!»
Die schlafenden Freunde liessen ein unwilliges Brummen vernehmen. Allmählich aber dämmerte ihnen doch, was Jan ihnen zu erklären versuchte. Carl war zuerst munter. Im nächsten Augenblick stand er schon neben Jan draussen vor dem Zelt. Seine Stimme bebte vor Erregung: «Was sagst du, Jan? Ein Strolch hat dich zu Boden geschlagen?»
«Ja, und er hat dein Rad gestohlen ...»
«Was bedeutet das Rad?» unterbrach ihn Carl. «Bist du verletzt?»
«Nicht der Rede wert! In meinem Hinterkopf hämmert es etwas. Sonst fehlt mir nichts.»
Carl ballte zornig die starken Fäuste: «Dieser Halunke! Wenn der Kerl mir in den Weg läuft, mache ich Hackfleisch aus ihm ...»
Erling und Jesper waren inzwischen ebenfalls aus dem Zelt gekrochen. Jan sagte: «Wisst ihr, wer der Mann war, der Carls Rad gestohlen hat? Der Mann mit der Narbe, der über die Grenze geflüchtet ist! Wollen wir ihn verfolgen?»
«Natürlich!»