Jan ganz groß!. Carlo Andersen

Jan ganz groß! - Carlo Andersen


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woher hast du denn das Geld?» rief Erling verblüfft.

      «Ich habe es ehrlich verdient», lächelte Carl. «Aber ich spüre auch alle meine Knochen im Leib. Noch nie in meinem Leben war ich so zermürbt!»

      «Du warst im Zirkus, nicht wahr?» warf Jan schnell ein.

      «Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen», gestand Carl. «Es klang aber auch gar verlockend, dass man sich bei einer Ringkampfkonkurrenz dreihundert Kronen verdienen könnte. Ich dachte an das Geld, das ich dir schulde, Erling, und da ... na ja ... da mass ich meine Kräfte mit denen von mindestens zwanzig anderen ... Und jetzt bin ich so müde, dass ich mich kaum noch aufrecht halten kann. Meine Gegner sind nicht gerade sanft mit mir umgegangen.»

      Jan und Erling wechselten einen schnellen Blick. Sie dachten beide dasselbe. Carl stammte aus einem armen Hause. Aber er war einer der prächtigsten Menschen, die sie jemals kennengelernt hatten.

      4.

      Am nächsten Morgen waren die Buben zeitig auf den Beinen. Carl taten nach dem schweren Kampf noch alle Glieder weh. Doch als er ein erfrischendes Bad genommen hatte, fühlte er sich wieder ganz auf der Höhe. Beim Frühstück war die Unterhaltung noch lebhafter als sonst, denn Carl musste natürlich erzählen. Er tat es nicht gern; aber seine Freunde liessen ihm keine Ruhe. So begann er schliesslich mit verlegener Miene: «Ich muss zugeben, dass ich noch nie in meinem Leben eine so schwere Arbeit verrichtet habe. Es hatten sich gegen fünfzig Leute zu dem Wettbewerb gemeldet. Wir kamen paarweise in die Manege. Die Leute brüllten und johlten, wenn wir uns in den Sägespänen herumwälzten. Der Zirkusdirektor war Schiedsrichter. Als ich die ersten sieben oder acht Gegner geworfen hatte, begann ich müde zu werden. Aber da ...»

      «Da dachtest du an das Geld, das du Erling schuldest», half Jan ihm weiter.

      «Ja. Ich fand, es war furchtbar nett von dir, Erling, dass du ohne weiteres ein neues Rad für mich kauftest, und ich wollte das Geld gern bald zurückzahlen. Es ging im Zirkus alles so schnell, dass man kaum Zeit hatte, zwischen einzelnen Kämpfen einmal richtig aufzuschnaufen. Als ich mich bis zum Schlusskampf durchgequält hatte, war ich so müde, dass ich kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Aber mein Gegner war natürlich ebenso müde, denn er hatte ja genau so viele Kämpfe überstehen müssen wie ich. Es war ein grosser, starker Kerl, und ich kann sagen, er leistete zähen Widerstand. Aber ... na ja ... schliesslich schaffte ich es doch. Als ich seine Schultern niedergedrückt hatte, wurde es mir einen Augenblick schwarz vor den Augen. Aber es dauerte nicht lange, und ich stand wieder auf den Beinen ...»

      «Das Publikum war natürlich begeistert?»

      «Mächtig! Sie brüllten alle wie verrückt, und viele wollten mich durchaus ins Wirtshaus einladen. Aber aus Zechgelagen mache ich mir ja nichts. Alkohol ist ein elendes Zeug für junge Menschen ... Ich stahl mich also heimlich davon und stieg auf mein Rad. Ihr könnt glauben, ich war froh ...»

      «Weshalb wolltest du nicht, dass wir mit dir in den Zirkus gingen?»

      «Ich wusste ja nicht, ob ich es schaffen würde, und ihr brauchtet doch nicht zu sehen, wie ich ausgelacht wurde. Es konnte ja nur einer gewinnen. Alle, die unterlagen, wurden ausgepfiffen und ausgelacht ...»

      «Da war es ja gut, dass du siegtest», sagte Jan lächelnd. «Ich gäbe viel dafür, wenn ich deine Kräfte hätte.»

      «Dafür habt ihr etwas anderes», entgegnete Carl bescheiden. «Ich will Erling gern meine Kräfte abtreten, wenn er mir dafür seinen Verstand gibt.»

      «Die Güter dieser Erde sind ungleich verteilt», lächelte Jan. «Auf allen Gebieten kann man nicht der Erste sein.»

      Der Vormittag verging für die Buben auf die angenehmste Weise. Einen grossen Teil der Zeit hielten sie sich in dem herrlichen salzreichen Meerwasser auf. Als die Essenszeit gekommen war, fuhr Jesper nach Sönderby, um einzukaufen. Eine halbe Stunde später kehrte er in höchster Aufregung zurück.

      «Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie erschrocken ich war!» erzählte er atemlos. «Als ich gerade aus dem Kaufmannsladen trat, fuhr ein grosses Auto vorbei. Und wer, glaubt ihr, sass neben dem Chauffeur? Der Mann mit der Narbe!»

      Die Buben waren so überrascht, dass sie alle durcheinandersprachen. Jan fragte: «Hast du nicht etwa Gespenster am hellichten Tage gesehen, Krümel? Bist du ganz sicher, dass es der Mann mit der Narbe war?»

      «Klar!» ereiferte sich Jesper. «Wenn ich es doch sage! Ich habe den Mann mit der Narbe mit meinen eigenen Augen gesehen.»

      «Natürlich!» bemerkte Jan trocken. «Mit den Augen eines andern konntest du ihn nicht gut sehen. In welcher Richtung fuhr denn das Auto?»

      «Es muss hier in der Nähe vorübergekommen sein ...»

      «Vor etwa einer Viertelstunde sah ich auf der Landstrasse ein grosses Auto vorbeisausen», warf Carl ein. «Auf den Vordersitzen sassen zwei Männer.»

      «Konntest du einen von ihnen erkennen?»

      «Nein. Dazu war die Entfernung zu gross.»

      «Hm, da wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als die Polizei in Sonderburg zu unterrichten», meinte Jan nachdenklich. «Bist du bereit, deine Aussage vor der Polizei zu wiederholen, Krümel?»

      «Ja ... ich ... natürlich ...» sagte Jesper etwas kleinlaut.

      «Ganz sicher bist du also doch nicht?» fragte Jan.

      «Das Auto fuhr ziemlich schnell, und ich konnte es nur wenige Sekunden beobachten. Aber ich glaube ganz bestimmt, dass es der Mann mit der Narbe war.»

      «Wenn ich den Kerl erwische!» rief Carl. «Er soll es büssen, dass er meinen besten Freund niedergeschlagen hat ...»

      «Und dass er dein Rad stahl», fügte Jesper hinzu.

      «Das ist nicht so schlimm, ich habe ja jetzt ein besseres. Aber dass er sich an Jan vergriffen hat, werde ich ihm nie vergessen!»

      Jan breitete die Karte aus und studierte sie eine Weile stumm. Die andern betrachteten ihn gespannt. Schliesslich fragte Erling: «Worüber grübelst du, grosser Sherlock Holmes? Mit bangen Ahnungen sehe ich neuen Verwicklungen und abenteuerlichen Begebenheiten entgegen. Können wir denn nicht den blöden Kerl mit der Narbe vergessen und uns dem wohlverdienten Genuss unserer Ferien hingeben?»

      Jan antwortete nicht, sondern faltete die Karte wieder zusammen. Er sah sehr nachdenklich aus. Die andern waren natürlich neugierig, bekamen aber auf ihre vielen Fragen keine Antwort. Schliesslich sagte Jan: «Sollten wir uns nicht wieder etwas Bewegung machen? Ich schlage eine kleine Tour nach Augustenburg und Nordburg vor. Dabei bekommen wir Appetit, und das Abendessen wird um so besser schmecken.»

      «Könnten wir uns nicht mit Augustenburg begnügen?» fragte Erling missmutig. «Bis Nordburg ist es scheusslich weit, und ich kann euch versichern, dass es dort überhaupt nichts zu sehen gibt.»

      «Woher weisst du das, Dicker?»

      «Zufälligerweise ist mir die Geschichte des Schlosses nicht unbekannt. Ursprünglich wurde es als eine Trutzburg zur Abwehr der Wenden gebaut. Aber aus jener Zeit ist natürlich kein einziger Stein mehr übrig. Das bisschen Schloss, das es noch gibt, beherbergt eine Fortbildungsschule. Was interessiert uns eine Schule? Wir wollen doch nicht vergessen, liebe Freunde, dass wir Ferien haben.»

      Das Ergebnis einer kurzen Beratung war, dass man beschloss, den Abstecher nach Augustenburg zu machen. Carl fragte etwas bedenklich, ob man das Zelt ohne Bewachung lassen könnte. Aber Jan beruhigte ihn: «Mit dem Zelt wird bestimmt niemand davonlaufen. Und alles Wertvolle nehmen wir mit.»

      In aufgeräumter Stimmung machten sich die vier Freunde auf den Weg. Als sie eine halbe Stunde später durch die kleine Stadt Mintebjärg fuhren, fuchtelte Jesper wild mit dem rechten Arm und rief: «Das Auto, Jan! Das Auto!»

      «Welches Auto?»

      «Das Auto, von dem ich euch erzählt habe. Dort hält es!»

      Vor einem kleinen


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