Der Fall Özil. Dietrich Schulze-Marmeling
in Deutschland einen Bärendienst erwiesen. „Ich glaube, dass Mesut Özil eine vorbildhafte Figur für junge Deutschtürken war. Aber damit ist es jetzt vorbei.“
Der Rassismus, mit dem Özil seinen Rücktritt begründete, war von der allgemeinen politischen Entwicklung in Deutschland nicht zu lösen. Weshalb Christian Spiller auf Zeit.online schrieb: „Im Jahr 2018 tritt ein deutscher Nationalspieler wegen Rassismus zurück. Was ist nur los mit diesem Land? Mesut Özils Rückzug ist ein fatales Signal in einer besorgniserregenden Zeit.“ In der „taz“ betrachtete Jan Feddersen den Rücktritt als Indiz für einen größeren Kulturkampf: „Özils wütender Hilferuf ist auch ein Symbol für die Wünsche im DFB (und Deutschland), aus der Fußballmannschaft wieder eine kernige Truppe früherer Tage zu gestalten – ohne ‚Multikulti-Kuddelmudel‘.“ Auch die Politik meldete sich zu Wort. Bundesjustizministerin Katarina Barley: „Es ist ein Alarmzeichen, wenn sich ein großer deutscher Fußballer wie Mesut Özil in seinem Land wegen Rassismus nicht mehr gewollt und vom DFB nicht repräsentiert fühlt.“
Einen Tag nach Özils Rücktritt veröffentlichte das DFB-Präsidium eine Erklärung und wies darin den Rassismus-Vorwurf „in aller Deutlichkeit“ zurück – „mit Blick auf seine Repräsentanten, Mitarbeiter, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtlichen.“ Des Weiteren wurde die Verleihung des Integrationspreises und die Kampagne „1:0 für ein Willkommen“ erwähnt, mit deren Hilfe Zehntausende Flüchtlinge in die Fußballfamilie integriert worden seien. Der DFB habe in den vergangenen 15 Jahren „eine vielschichtige Integrationsarbeit etabliert, die bis in die Amateurvereine wirkt“. Diese Dinge hatten aber weder Özil noch sonst jemand angegriffen. Es ging um das konkrete Verhalten von Reinhard Grindel, der sich nun, mittels dieser Erklärung, hinter der Arbeit der Basis versteckte.
Ansonsten wurde lediglich bedauert, „dass Mesut Özil das Gefühl hatte, als Ziel rassistischer Parolen gegen seine Person nicht ausreichend geschützt worden zu sein, wie es bei Jérôme Boateng der Fall war.“ Soll heißen: Wenn Mesut dieses Gefühl hat, ist das sein Problem, hat aber nichts mit uns zu tun. Keine Spur von Schuldbewusstsein, das der DFB seinerseits vom Spieler in der Foto-Frage permanent gefordert hatte. Für das Präsidium war nicht Özil das Opfer, sondern der Verband, der durch den Rassismus-Vorwurf diskreditiert werde.
Der Rassismus gegen Özil blieb für den DFB weiterhin nicht wirklich ein Thema. Dem Spieler wurde nach seinem Statement ein Mangel an Selbstkritik vorgeworfen. Für den DFB galt dies zumindest im gleichen Maße. An keiner Stelle ging die Erklärung konkret auf Özils Vorwürfe ein. Stattdessen erzählte das Präsidium, was für ein toller Verband der DFB sei. Und machte klar, „dass die Beachtung der im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, das Eintreten für Meinungs- und Pressefreiheit sowie Respekt, Toleranz und Fair Play, ein Bekenntnis zu diesen Grundwerten (…) für jede Spielerin und für jeden Spieler erforderlich (sei), die für Deutschland Fußball spielen“.
Hehre Worte. Wenn das von den aktiven Spielern erwartet wird, so muss man es von Funktionären und Altgedienten erst recht verlangen. Im Vorfeld der WM 2022 in Katar darf man also auf den großen Auftritt des Menschenrechtlers Grindel hoffen. Auch dürfte es nur noch eine Frage von Wochen sein, bis Lothar Matthäus wegen seiner Zusammenkünfte mit diversen Despoten die Binde des Ehrenspielführers der Nationalmannschaft abgeben muss.
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Der „Fall Özil“ war für mich auch eine Reise in meine Vergangenheit, die Anlass gab, die eigene Ignoranz zu begutachten. Ich bin in einer kleinen Industriestadt aufgewachsen, in der während meiner Jugendjahre ein Schwung türkischer Gastarbeiter eintraf, die nun im lokalen Bergbau arbeiteten. Die Neuankömmlinge wurden in Häuser eingepfercht, die dem berüchtigten Immobilienhai Günter Kaußen gehörten. Wir demonstrierten gegen Kaußen und für bessere Lebensbedingungen der türkischen Gastarbeiter, kannten aber die Menschen nicht, für die wir uns engagierten.
Später lasen wir Günter Wallraffs aufrüttelnden Bestseller „Ganz unten“, in dem er die Situation türkischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik schilderte, die von Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und Hass geprägt war. Wallraff schrieb in seinem Vorwort: „Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann. Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer ‚Demokratie‘.“ Wallraff hatte sich für seine Recherchen als Türke Levent (Ali) Sigirlioglu verkleidet. Als er sich gemeinsam mit seinen deutschen Arbeitskollegen ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Türkei anschaute, feuerte er nur die DFB-Elf an. Trotzdem konfrontierten ihn die Kollegen mit Rufen wie „Sieg Heil“, „Deutschland den Deutschen“ und „Türken raus“. Wallraff alias Sigirlioglu wurden Zigaretten ins Haar geworfen und Biere über den Kopf gegossen.
Wenn wir ehrlich sind: Mindestens 90 Prozent von uns und auch den deutschen Staat hat es nie wirklich interessiert, wie die drei Millionen türkischstämmigen Mitbürger denken und leben, welche Alltagserfahrungen sie machen. Wie die Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei bei den „Deutschtürken“ ankam, was die Brandstiftungen von Mölln und Solingen sowie die NSU-Morde in der türkischstämmigen Community auslösten, hat auch kaum jemanden interessiert. Was türkische Nationalisten und Islamisten treiben, war ebenfalls lange Zeit nicht wirklich ein Thema – schließlich gehörten diese ja nicht zu uns.
Wir kritisieren die Existenz von Parallelgesellschaften, leben aber selber in solchen. Ansonsten wüssten wir mehr über andere soziale und kulturelle Milieus und über unsere türkischstämmigen Mitbürger. Es sagt schon so einiges über die eigene Person aus, wenn es erst eines Erdogan und der Fehltritte von Nationalspielern türkischer Herkunft bedarf, damit man sich etwas ernsthafter mit der Situation von drei Millionen Mitbürgern befasst.
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Ich hatte im Manuskript dieses Buches Özil, Gündogan und andere pauschal als „Deutschtürken“ bezeichnet – unabhängig von der Frage, ob die angesprochene Person deutscher oder türkischer Staatsbürger ist. Um auf den Migrationshintergrund (ein weiterer schrecklicher Begriff) der Familie hinzuweisen, der Einfachheit halber, vor allem aber: weil mir nichts Besseres einfiel.
Dann belehrte mich Lektor Bernd Beyer (und ich zitiere ungeglättet aus seiner Mail): „Der Begriff ist insofern unpräzise, als normalerweise (und entsprechend den ‚Wortbildungsregeln‘) die zweite Hälfte des Doppelbegriffs die wesentliche Charakterisierung beinhaltet, also in diesem Fall auf die tatsächliche Nationalität/ Staatsbürgerschaft verweisen soll, während die erste Hälfte hier die Region benennt, zu der dieser Personenkreis eine besondere Beziehung hat, also z.B. Afroamerikaner oder Deutschamerikaner. Deshalb wurde der Begriff ‚Deutschrussen‘ auch abgelehnt, weil er eigentlich beinhaltete, dass die Genannten Russen seien. Man nennt sie also ‚Russlanddeutsche’, was auch nicht super klingt, aber präziser und weniger diskriminierend ist. In diesem Sinn stimmt ‚Deutschtürken‘ eigentlich nur für Türken, die in Deutschland leben, aber keine deutschen Staatsbürger sind. Solche mit deutscher Staatsbürgerschaft sind eigentlich ‚Türkendeutsche‘. Der Begriff ‚Deutschtürken‘ betont demgegenüber eine dominierende Identität als ‚Türken‘. Du verwendest ‚Deutschtürken‘ als Oberbegriff für beide Gruppen, die in Deutschland lebenden Türken und die Deutschen mit türkischen Wurzeln. Dies folgt sicherlich dem normalen Sprachgebrauch, zu dem Wikipedia allerdings Folgendes anmerkt (und dabei ausgerechnet Mesut Özil zitiert ...): ‚Abweichend bezeichnet der Begriff ‚Deutschtürke‘ Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die in Deutschland leben. Der Begriff wird von Sozialwissenschaftlern als zum Teil desintegrativ bewertet, da mit diesem Begriff bezeichnete Menschen selbst nach Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin in erster Linie als Türken wahrgenommen würden. Dagegen verwahrt sich z. B. der für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielende Mesut Özil: Nur er werde in der Öffentlichkeit nicht als ‚Deutscher‘ bezeichnet; niemand komme hingegen auf die Idee, z.B. Sami Khedira als ‚Deutsch-Tunesier‘ oder Lukas Podolski als ‚Deutsch-Polen‘ zu bezeichnen.’ Da hat er eigentlich recht, der Mesut.“
Stimmt. Das Problem, bei dem mir auch Lektor Bernd Beyer nicht so recht helfen konnte: Es gibt keinen passenden Kurzbegriff für