Der Fall Özil. Dietrich Schulze-Marmeling

Der Fall Özil - Dietrich Schulze-Marmeling


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Spieler wurde auf ein Podest gehoben, das er selber gar nicht erklimmen wollte. Und bekam einen Auftrag, um den er nicht gebeten hatte. Wenige Wochen nach Düsseldorf erzählte der Grünen-Politiker Cem Özdemir, selber ein Deutscher mit türkischen Wurzeln, der „taz“: „Ich werbe aktiv dafür, dass sich hier aufgewachsene türkischstämmige Fußballer für eine sportliche Karriere in Deutschland entscheiden. Dafür ist es auch wichtig, dass es die ersten Eisbrecher wie Mesut Özil gibt. So wird in ein paar Jahren die Diskussion beendet sein, ob die deutsche Nationalmannschaft auch die Nationalmannschaft von Deutschtürken oder anderen Migrantengruppen ist.“

      Mesut Özil hatte zuvor elf Spiele für die U19 und 16 für die U21 des DFB absolviert und dabei neun Mal getroffen. Der offensive Mittelfeldspieler hatte in den Nachwuchsteams des DFB erst relativ spät debütiert, nämlich am 5. September 2006 beim Auswärtssieg der U19 gegen Österreich. Da waren es nur noch wenige Wochen bis zum 18. Geburtstag des Talents.

      Im Jahr 2006 hatte der nun volljährige Özil seine Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft beantragt, was notwendig war, um das deutsche Papier zu erlangen. Im türkischen Konsulat in Münster trafen Özil und sein Vater Mustafa auf einen zornigen Beamten, der ihnen vorwarf, sie hätten „überhaupt keinen Stolz“ und würden die Türkei nicht lieben.

      Der türkische Nationaltrainer Fatih Terim warb zunächst weiterhin um Özils Dienste, weshalb mit Spannung erwartet wurde, für welches Land sich das Talent entscheiden würde. Im Februar 2009 wollte Terim ihn für ein Spiel der A-Elf der Türkei gegen die Elfenbeinküste nominieren. Der türkische Verband schickte Hamit und Halil Altintop zu Özil, um diesen für die türkische Nationalelf zu überzeugen. Aber Özil gab Terim einen Korb, da er sich auf die U21 des DFB und die U21-Europameisterschaft konzentrieren wolle. Der DFB war an Özil extrem interessiert, zumal in der A-Elf mittelfristig die Rolle des Spielmachers neu zu besetzen war. Özil galt mittlerweile als talentierteste Nachwuchskraft im deutschen Fußball.

      Am 29. Juni 2009 wurde die deutsche U21 durch einen 4:0-Sieg über England Europameister. Der Spielmacher Mesut Özil bereitete zwei Tore vor, erzielte das 2:0 selber und wurde anschließend zum „Man of the Match“ gekürt. Der „Kicker“ gab Özil als einzigem Finalteilnehmer eine glatte „1“: „Besonders stark präsentierte sich Mesut Özil, der gleich an drei Treffern beteiligt war.“ Die Seite Spox.com schrieb in Özils Turnierzeugnis: „Özil war mit vier Assists der Top-Vorbereiter des Turniers, hätte aber deutlich mehr als nur ein Tor erzielen können. Dennoch das Hirn der deutschen Offensive, wenn sich seine genialen Momente auch mit einigen Phasen der schöpferischen Ruhe abwechselten. Hat die Stärken am Ball und nicht vor dem Mikrofon.“

      Am 12. August gab Özil auch sein Pflichtspieldebüt in der A-Nationalmannschaft, als diese in der Qualifikation für die WM 2010 gegen Aserbaidschan spielte. Deutschland gewann in Baku mit 2:0. Özil kam erst in der 83. Minute aufs Feld, als er Mario Gomez ablöste. Aber mit dem ersten Pflichtspieleinsatz war Özil nun nur noch für Deutschland spielberechtigt.

      „Es gibt nur schwarz oder weiß“

      Viele türkische Fans nahmen Özil seine Pro-DFB-Entscheidung übel, wie er in seiner 2017 veröffentlichten Autobiografie „Die Magie des Spiels“ erzählt: „In den Tagen vor meinem ersten Länderspiel mussten wir meine Homepage sogar für eine Zeit schließen, weil mich ein paar Verständnislose aufs Übelste beleidigten. Weil sie sich hinter Pseudonymen verstecken konnten, waren ihre Vorwürfe noch viel heftiger als die Unterstellungen, die der Beamte im türkischen Konsulat mir und meinem Vater gemacht hatte.“

      Fragen der Journalisten nach seiner „nationalen Zugehörigkeit“ nervten Özil: „Man wird von den Medien oftmals dazu gedrängt, sich ausschließlich auf etwas festzulegen. Nach dem Motto: Los, sag schon! Was bist du? Deutscher oder Türke? Wo gefällt es dir besser? In Deutschland oder in der Türkei? Du musst dich für eines entscheiden. Los, leg dich fest! Beides geht nicht. Es gibt nur schwarz oder weiß. Es gibt nur Türken und Deutsche. (…) Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht – bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutschtürke? Warum denken wir immer so in Grenzen? Ich will als Fußballer gemessen werden – und Fußball ist international, das hat nichts mit den Wurzeln der Familie zu tun. (…) Ich bin stolz, mich trotz des Drucks für die deutsche Nationalmannschaft entschieden zu haben. Und ich bin froh, der Türkei dabei nie den Rücken gekehrt zu haben.“

      Hamit Altintop, wie Özil in Gelsenkirchen geboren, kritisierte Özils Entscheidung: „Ich bin ein toleranter Mensch und respektiere Mesuts Weg, aber unterstützen kann ich ihn nicht.“ Nuri Sahin kommentierte Özils Pro-Deutschland-Entscheidung anders, nämlich pragmatischer: „Ich bin mit Mesut, Serdar (Tasci) und Jérôme (Boateng) befreundet, aber ich habe von der U15 an für die Türkei gespielt. Mesut, Serdar und Jérôme haben in den U-Mannschaften für Deutschland gespielt.“ Es hätte „nicht gepasst“, wenn er sich dann für Deutschland entschieden hätte, und umgekehrt auch nicht. „Die Jungs haben es nicht bereut, und ich habe es auch nicht bereut. Und das Wichtigste ist, dass man sich wohlfühlt.“

      Auch in der Familie Özil war die Pro-Deutschland-Entscheidung umstritten. Mutter Gulizar hätte Mesut lieber im Trikot der Türkei gesehen, Onkel Erdogan ebenfalls. Der Onkel erzählte ihm von den Gefühlen, die ein Besuch im Heimatort Zonguldak auslöse, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz an der türkischen Schwarzmeerküste. Mesut Özil: „Ich konnte seine Gefühle überhaupt nicht nachvollziehen. Schließlich war ich bis zu meinem 17. Geburtstag erst zweimal in den Sommerferien in Zonguldak gewesen. Ich fühlte mich dort zwar wohl, aber nicht heimisch. Es löste bei mir kein Gefühl des Ankommens aus, wenn ich mich dort ans Meer stellte und tief einatmete.“ Vater Mustafa plädierte für die DFB-Elf, da sein Sohn in Deutschland geboren und dort zur Schule gegangen war und in deutschen Vereinen das Fußballspielen erlernt hatte.

      Ein Jahr nach seinem Debüt begründete Özil seine Entscheidung für die DFB-Elf in einem Interview mit Mike Glindmeier so: „Ich lebe in dritter Generation in Deutschland und habe meine ersten Länderspiele in den U-Nationalmannschaften für Deutschland absolviert, und daher war es für mich einfach klar, dass ich für Deutschland spiele.“ Auf die Frage, was ihm besonders an der Türkei gefalle und was er an Deutschland besonders möge, antworte Özil: „Die deutsche Disziplin mit den positiven südländischen Charakterzügen ergibt meiner Meinung nach eine ideale Mischung.“ Ob er der These zustimmen würde, dass Fußball eine der effektivsten Integrationsmöglichkeiten ist? „Auf jeden Fall.“ Den türkischen Fans hatte er längst verziehen: „Sie sind extrem fußballverrückt – im positiven Sinne. Am Anfang haben natürlich einige überreagiert, aber das hat sich schnell gelegt. Sie respektieren meine Entscheidung und unterstützen mich weiterhin.“ Özil lobte die Antirassismus-Politik des DFB: „Ich denke, dass es weltweit einzigartig ist, was der DFB bisher getan hat. Die vielen Aktionen gegen Rassismus haben gezeigt, dass der DFB hier auf dem richtigen Weg ist. Diesen sollte der Verband konsequent weitergehen.“

      „Was Özil macht, ist einzigartig“

      Jogi Löw war ein großer Fan des Talents: „Mesut hat überragende Fähigkeiten, wie kaum ein anderer Spieler auf der Position. Er ist für uns extrem wertvoll. Diese Technik und diese letzten Pässe sind einfach genial.“ Für den Bundestrainer war Özil ein zentraler Baustein seiner Fußballphilosophie: weg von den sogenannten „deutschen Tugenden“, die eher Sekundärtugenden waren. Hin zu mehr Spiel im deutschen Spiel. Was nicht nach dem Geschmack aller Fans war. Der Wert des Spielers Özil blieb vielen von ihnen verschlossen.

      Für Özil änderte Löw sogar seine taktischen Überlegungen. Der Bundestrainer wollte zunächst mit zwei Stürmern spielen, in einem 4-4-2-System ohne echten Spielmacher hinter den Spitzen. Nun verzichtete Löw auf einen Stürmer und übergab dafür Özil die Rolle eines zentral und offensiv operierenden Mittelfeldspielers, einer klassischen „Zehn“.

      Bei der WM 2010 in Südafrika hatten elf der 23 Spieler des deutschen Kaders einen Migrationshintergrund: Dennis Aogo, Jérôme Boateng, Serdar Tasci, Sami Khedira, Marko Marin, Mesut Özil, Piotr Trochowski, Cacau, Mario Gomez, Miroslav Klose und Lukas Podolski. Özil hinterließ bei seinem ersten WM-Turnier einen starken Eindruck. Franz Beckenbauer schwärmte: „Was Özil macht, ist einzigartig.“


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