Der Fall Özil. Dietrich Schulze-Marmeling
an einer WM teilnahm. Asamoah anschließend: „Für mich ist das mit das Größte, was man als Fußballer erleben kann. Ich bin immer noch sehr stolz, dass ich im Endspiel einer WM auf dem Rasen stand. Mit 24 Jahren – ein Traum. (…) Es war für viele Menschen in Ghana großartig, mich bei dieser WM zu sehen. Ein Ghanaer im WM-Finale! Das war gut für das Selbstwertgefühl der Leute.“ Asamoahs Mitwirken war auch ein Signal gegen den Rassismus: „Ich wurde danach mit mehr Respekt behandelt, viele andere Farbige in Deutschland auch. Aber ich habe mich nicht deshalb für das DFB-Team entschieden. Dieser Effekt ist eine äußerst positive Nebenwirkung.“
David Odonkor erblickte im westfälischen Bünde das Licht der Welt. Der Vater ist Ghanaer, die Mutter Deutsche. Der in Hamburg geborene Patrick Owomoyela, gegen den die NPD eine hässliche Kampagne lostrat, ist der Sohn eines Nigerianers und einer Deutschen. Nigerias Verband interessierte sich ebenfalls für seine Dienste. Auch Spanien ist in der Nationalelf vertreten: Mario Gomez (VfB Stuttgart), im schwäbischen Riedlingen geboren, ist der Sohn eines aus Granada stammenden Spaniers und einer Deutschen aus dem Schwabenland. Gonzalo Castro (Bayer Leverkusen), in Wuppertal geboren, ist spanischer Herkunft und wurde zunächst auch zu Lehrgängen der Juniorenauswahl Spaniens eingeladen.
Besonders „bunt“ ging es bei Kevin Kuranyi (VfB Stuttgart, anschließend Schalke 04) zu, der in Rio de Janeiro zur Welt kam, in Panama aufwuchs und drei Staatsbürgerschaften besitzt. Väterlicherseits stammt die Familie ursprünglich aus Ungarn, der Großvater wurde in Budapest geboren, weshalb sich auch der ungarische Verband um den Stürmer bemühte, der für vier Länder hätte spielen können. Kuranyi entschied sich für das DFB-Team, „weil ich hier meinen Lebensmittelpunkt habe. Mein Vater wollte, dass ich Deutsch lerne.“ Tief im Herzen sei er aber „Brasilianer, dem Sonne und Copacabana über alles gehen“.
Mit den U21-Nationalspielern Eugen Polanski (Eltern aus Polen), Marvin Matip (Vater aus Kamerun), Kevin-Prince und Jérôme Boateng (geboren in Berlin, Mutter Deutsche, Vater Ghanaer, Kevins Großvater mütterlicherseits ein Cousin von Helmut Rahn), Ashkan Dejagah (geboren in Teheran, aufgewachsen in Berlin), Dennis Aogo (geboren in Karlsruhe, Eltern aus Kamerun) und den türkischstämmigen Spielern Baris Özbek (geboren in Castrop-Rauxel) und Mesut Özil (geboren in Gelsenkirchen) klopften in den folgenden Jahren weitere Akteure mit Migrationshintergrund ans Tor zur Nationalelf. Der Journalist Daniel Theweleit: „Diese multikulturelle Mischung ist ein wichtiges Merkmal für die lange Zeit herbeigesehnte Rückkehr des deutschen Fußballs an die Weltspitze. Denn international erfolgreiche Teams weisen fast ausnahmslos solch ein Sammelsurium internationaler Einflüsse auf. Beispiele dafür sind Brasilien (indianische, afrikanische und europäische Wurzeln) und Frankreichs Nationalelf mit vielen Spielern mit afrikanischen Vorfahren.“
Dass die Nationalmannschaft ihren ethnisch-exklusiven Charakter suspendierte, war gleich in zweifacher Hinsicht ein Segen. Nach der Pleite bei der EM 2004 hatten Jürgen Klinsmann und Jogi Löw die Regie übernommen. Beiden schwebte nicht weniger als eine grundlegende Reform der altbackenen deutschen Fußballkultur vor. Spieler mit einem anderen kulturellen Background konnten hierzu einen Beitrag leisten. Und außerdem: Nach dem Bosman-Urteil von 1995 und dem Fall vieler Ausländergrenzen hatten die Top-Klubs ihre spielerische Qualität durch ausländische Profis erhöht. Was zur Folge hatte, dass die Klubs den Nationalmannschaften in puncto Spielqualität davonrannten.
Noch 1998 hatte Arrigo Sacchi erklärt: „Fußball sollte immer auf dem höchstmöglichen Level gespielt werden, und kein Klub wird jemals das Niveau einer Nationalmannschaft erreichen.“ Heute muss man sagen: Keine Nationalmannschaft wird jemals das Niveau einer der Top-Adressen des Klubfußballs erreichen. Schon gar nicht eine ethnisch-exklusive. Würden Belgien, Deutschland, England, Frankreich etc. nicht ihre Einwandererkinder mitspielen lassen, hätte dies negative Folgen für die Attraktivität und Vermarktung der nationalen Ensembles. Die Integration von Einwandererkindern verhinderte auch, dass die Kluft zwischen den Top-Teams des europäischen Fuß-balls und den Nationalmannschaften ins Unermessliche stieg.
KAPITEL 2
Özil, Gündogan und die deutsche Nationalelf
Trotz der Öffnung der Nationalmannschaft für Kicker mit Migrationshintergrund: In der Regel entschieden sich Deutschtürken zunächst weiterhin für die Auswahl der Türkei.
Am 8. Oktober 2005 spielte Nuri Sahin, ein Dortmunder Borusse mit türkischen Wurzeln, erstmals für die A-Elf der Türkei – ausgerechnet gegen Deutschland, das in Freundschaft mit 2:1 bezwungen wurde. Sahin erzielte den Siegtreffer. Das erste Tor der Türken ging auf das Konto von Halil Altintop. Mit dessen Bruder Hamit und Yildiray Bastürk kickten auf türkischer Seite zwei weitere Spieler mit, die in Deutschland geboren waren und dort lebten. In diesen Jahren war es gang und gäbe, dass sich die Kinder der nach Deutschland eingewanderten Türken für die türkische Auswahl entschieden.
Bei der WM 2002 war die Türkei Dritter geworden. Vier Akteure, Bastürk, Ümit Davala, Tayfur Havutcu und Ilhan Mansiz, waren in Deutschland geboren. Der türkische Verband unterhielt in Dortmund ein „Europabüro“, von dem aus fünf hauptamtliche Talentsucher und 15 nebenberufliche Scouts Jugendteams in Deutschland, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern nach Emigrantenkindern abgrasten, die für die türkischen Auswahlteams in Betracht kamen. Die fußballerische Sozialisation fern der Heimat wurde als großer Vorteil betrachtet, weil, so der damalige Europa-Büroleiter Hakan Eseroglu, die „deutsch-türkischen“ Akteure „disziplinierter und pflichtbewusster“ seien: „Sie machen das, was der Trainer sagt.“
„Man muss sich wohlfühlen“
Hamit Altintop begründete seine Entscheidung für die Türkei wie folgt: „Ich bin Deutschland sehr, sehr dankbar, ich habe hier sehr viel gelernt und sehr viele Chancen bekommen. Aber meine Mama kommt aus der Türkei, mein Vater kommt aus der Türkei, ich bin Türke.“ Und Nuri Sahin erklärte gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Man muss sich wohlfühlen. (…) Meine Eltern und meine Familie sind türkisch, deshalb fühle ich mich als Türke.“ Außerhalb des Elternhauses sei er aber in der deutschen Kultur aufgewachsen: „Mit vier Jahren bin ich in den Fußballverein gegangen, ich war im Kindergarten, in der Grundschule und auf dem Gymnasium, wo nur wenige Türken waren. Mit zwölf habe ich angefangen, mit Borussia Dortmund zu reisen, da habe ich viel mitbekommen von Deutschland und Europa. Ich ziehe das Beste aus beiden Kulturen.“ Im Hause seiner Eltern sei deutsch und türkisch geredet worden, „eigentlich sogar mehr deutsch“. Die Eltern hätten darauf bestanden, dass die Kinder die deutsche und die türkische Sprache beherrschten. Sie hätten ihnen mitgeteilt, dass die türkische ihre Muttersprache sei und die deutsche die Sprache des Landes, in dem sie lebten. Sahin kritisierte Ausländer, „die seit sechs, sieben Jahren in Deutschland spielen, aber die Sprache nicht beherrschen“.
Die Altintops und Sahin sprechen fließend deutsch, besser als mancher „Bio-Deutsche“. Trotz ihrer Entscheidung für die Türkei behauptete kaum jemand, sie seien nicht integriert. Aus westdeutscher Sicht waren sie integrierter als so mancher Sachse.
So richtig traf nur Sahins Entscheidung auf Bedauern und Widerspruch. Denn er galt als großes Talent, für einige war er das größte in Europa. Mit der Türkei hatte er 2005 die U17-EM gewonnen und war anschließend als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet worden. Am 6. August 2005 feierte er beim Spiel des BVB in Wolfsburg sein Bundesligadebüt – im Alter von nur 16 Jahren und 335 Tagen. Sahin war damit der jüngste Debütant in der Geschichte der Liga.
Das größte Talent des deutschen Fußballs
Mesut Özil wurde am 15. Oktober 1988 in Gelsenkirchen geboren. Die Großeltern waren von der türkischen Schwarzmeerküste ins Ruhrgebiet ausgewandet. Özils Vater Mustafa war damals zwei Jahre alt gewesen. Im Alter von sieben Jahren trat Mesut Özil, ein echter Straßenfußballer, der DJK Westfalia Gelsenkirchen bei, einem Sportverein der katholischen Sportbewegung. Als Özil 14 war, nahm ihn Schalke 04 unter seine Fittiche, 2008 wechselte er zu Werder Bremen.
Am 11. Februar 2009 lief der nun 20-jährige Mesut Özil erstmals in der deutschen A-Nationalelf auf, als diese in Düsseldorf ein Testspiel gegen Norwegen bestritt, das mit 0:1 verloren ging. Özil wurde in der 78. Minute für Piotr Trochowski eingewechselt.