Der Fall Özil. Dietrich Schulze-Marmeling

Der Fall Özil - Dietrich Schulze-Marmeling


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seit mehr als einem Jahrzehnt nach einem Spieler wie Mesut Özil gesehnt. Es hatte ja mal Männer, die mit dem Ball was anfangen konnten, Häßler, Schuster, Netzer, Walter. Jetzt heißt der Mann, der im deutschen Mittelfeld den Ball bekommen sollte, Özil.“

      Deutschland wurde Dritter, musste aber in der Gruppenphase nach einem 4:0-Sieg gegen Australien und einer 0:1-Niederlage gegen Serbien zunächst mächtig zittern. Im letzten Vorrundenspiel besiegte die DFB-Elf dann Ghana mit 1:0. Torschütze: Mesut Özil, der aus 18 Metern mit links ins Toreck traf. Die in Skopje im ehemaligen Jugoslawien geborene Schauspielerin Nermina Kukic erinnerte sich acht Jahre später in der Wochenzeitung „Der Freitag“: „Mesut Özil schoss bei der WM im Jahre 2010 das erste Tor eines Gastarbeiterkindes für die deutsche Fußballnationalmannschaft. Noch nie zuvor hatte es ein Gastarbeiterkind in die deutsche Nationalmannschaft geschafft. Und er schoss dieses Tor. Und ich stand in München im Restaurant ‚Reitschule‘ und habe geweint und geweint und gejubelt und geweint. Und es war, als hätte ich dieses Tor geschossen.“

      Gegen die Afrikaner und bei den folgenden spektakulären Begegnungen mit England (4:1) und Argentinien (4:0) gehörte Özil zu den besten deutschen Akteuren. Die Welt zeigte sich begeistert von der neuen deutschen Fußballkultur. Özil stand bei allen sieben Begegnungen auf dem Platz.

      Nach der WM wechselte Özil zu Real Madrid, wo Trainer José Mourinho später von ihm schwärmte: „Özil ist einzigartig. Es gibt keine Kopie von ihm, nicht mal eine schlechte. Er ist der beste Zehner der Welt. Jeder liebt ihn und sieht in ihm etwas von Luís Figo und Zinédine Zidane.“ Zidane war das Vorbild des jungen Özil gewesen.

      Allerdings sprach Mourinho auch ein Defizit an: Özils Zweikampfverhalten. In der Halbzeitpause eines Meisterschaftsspiels gegen Deportivo La Coruña wurde der Spielmacher von seinem Trainer heftig kritisiert. Für Özil war es „der wichtigste Anschiss meines Lebens“, denn anschließend begann er sich „radikal zu hinterfragen, wie ich es zuvor nie getan hatte“.

      Seit dem Beginn seiner Profikarriere war seine Körpersprache ein permanentes Thema. So natürlich auch während der WM 2018. Jérôme Boateng brach eine Lanze für seinen Kollegen: „Mesut hat seinen Spielstil und seine Körpersprache nicht seit gestern. Er ist ein Künstler am Ball, kein Kämpfer in der Abwehr wie ich. Vielleicht kommt er deswegen manchmal falsch rüber, aber das heißt nicht, dass er nicht will oder mit Absicht Fehler begeht.“

      Fotosession mit der Kanzlerin

      Am 8. Oktober 2010 empfing die Nationalelf in der Qualifikation zur EM 2012 die Türkei. Spielort war das Berliner Olympiastadion, das sich an diesem Freitagabend fest in der Hand der Fans der Türkei befand. Die komplette Westkurve des Olympiastadions war in Rot gehüllt, aber nicht nur hier waren die Augen auf Mesut Özil gerichtet. Deutschland besiegte die Türkei durch Tore von Miroslav Klose und Mesut Özil hochverdient mit 3:0. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb in ihrem Spielbericht: „Zweimal bereitet Özil exzellente Möglichkeiten vor. (….) Das Beste hob sich Özil bis zum Schluss auf. Der in der zweiten Halbzeit großartige Lahm verschaffte dem Spieler des Tages selbst einmal freie Bahn – und Özil blieb so cool, wie man sich das nur wünschen kann. Er schob den Ball an Torwart Demirel vorbei zum 2:0.“ Die türkischen Fans hatten Özil bei jeder Ballberührung gnadenlos ausgepfiffen. Aber: „Pfiffe lassen Özil kalt“, meldete ntv.de. Die „Bild“-Zeitung wusste: „Es war für ihn eines der schwersten Spiele seiner Karriere! Zum ersten Mal spielt Mesut Özil (21) gegen die Türkei. Das Land, aus dem seine Familie stammt.“ Trotz der Pfiffe habe „unser Mittelfeld-Star wieder einmal im Deutschland-Trikot brilliert“. Özil sei „der Mann des Abends“ gewesen. Nach seinem Tor habe Özil auf einen ausgelassenen Torjubel verzichtet. „Er lächelt nur kurz, zwinkert seinen Mitspielern zu, breitet verhalten die Arme aus.“ Die türkischen Spieler verhielten sich anders als ihre Fans. Özil: „Ich habe bei keinem meiner Gegenspieler Verärgerung gespürt, weil ich mich für Deutschland entschieden habe. Der türkische Mannschaftskapitän Emre kam nach dem Spiel zu mir und wollte das Trikot mit mir tauschen. Das hat mich sehr gefreut.“

      Nach dem Spiel suchte Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit Bundespräsident Christian Wulff, dessen Tochter Annalena sowie Regierungssprecher Steffen Seibert die deutsche Kabine auf. Wulff hatte einige Tage zuvor aus Anlass des Tags der Deutschen Einheit eine bemerkenswerte Rede gehalten, aus der anschließend vor allem eine Passage zitiert wurde: „Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung: ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Dass der Islam zu Deutschland gehöre, sahen und sehen viele anders. Bis heute hält sich das Gerücht, dass der Bundespräsident wegen dieser Aussage von der „Bild“-Zeitung „abgeschossen“ wurde.

      Merkel hatte ihren Kabinenbesuch zuvor mit Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff abgesprochen. DFB-Boss Theo Zwanziger wusste indes nichts davon. In der Kabine schüttelte Merkel dem halbnackten Özil die Hand. In seiner Autobiografie erinnerte sich Özil an diese Szene: „‚Glückwunsch zum Sieg, Mesut‘, sagte sie. ‚Und natürlich zu Ihrem Tor.‘ Sie sprach mich mit meinem Vornamen an und siezte mich. ‚Ich kann mir vorstellen, dass es kein einfaches Spiel war. Diese ständigen Pfiffe, wann immer Sie am Ball waren, scheinen Ihnen aber nichts ausgemacht zu haben.‘ Sie sprach ruhig. Und hatte ein sehr freundliches Wesen. Sie schaute einem in die Augen. ‚Ich hatte schon leichtere Spiele‘, entgegnete ich. Und: ‚Ich habe extra nach meinem Tor nicht gejubelt, weil ich niemanden provozieren wollte.‘ ‚Das haben Sie gut gemacht‘, sagte die Kanzlerin.“

      Ein Fotograf des Bundespresseamtes hielt die Begegnung zwischen Özil und Merkel fest, und das Foto ging um die Welt. So wie acht Jahre später das Foto vom Treffen Özils und Ilkay Gündogans mit dem türkischen Staatschef Recep Erdogan. Nicht nur der „Tagesspiegel“ sah darin „ein Bild mit Symbolwert angesichts der Dauerdebatte um Migranten“. Theo Zwanziger war vom Fotoshooting allerdings wenig begeistert. Laut „Sport-Bild“-Angaben beklagte er intern, dass sich der DFB nicht von der Politik instrumentalisieren lassen dürfe. Dem „Kicker“ erzählte er: „Ich wünsche mir, dass sich die Politik um den Fußball kümmert, wenn es der Fußball braucht.“ Bierhoff sah das Ganze entspannter: Das Foto sei „so symbolträchtig, was Integration und Stellenwert der Nationalmannschaft betrifft, dass wir es positiv betrachten“.

      Zweifelsohne wurde Özil von der Kanzlerin und vom DFB-Manager politisch instrumentalisiert, wenngleich für eine gute Sache. Aber vorher gefragt wurde er nicht. Da das Foto im Kontext einer Begegnung mit der Türkei zustande gekommen war, konnte man es auch als „Unser Mesut“ lesen. Merkel hätte ja auch ein anderes Spiel für eine Begegnung mit dem Kicker wählen können. In Deutschland war die politische Rechte über das Foto empört, da Mesut Özil nicht zu Deutschland gehöre. In der Türkei gingen die Nationalisten auf die Barrikaden, die Özil als Verräter brandmarkten. Özil war das Foto mit der deutschen Kanzlerin keineswegs peinlich. Im Gegenteil: Er war stolz darauf, ließ sich Abzüge davon machen und hängte eine Vergrößerung des Bildes in seinem Büro in der Düsseldorfer Königsallee auf.

      In den folgenden Monaten und Jahren gab es kaum eine Diskussion über die Themen Zuwanderung und Integration, in der nicht der Name Mesut Özil fiel. Die „Zeit“ kürte ihn zum „Meister-Immigranten“. Ganz anderer Meinung war die US-amerikanische TV-Moderatorin Heather De Lisle, die sich als Sympathisantin der Republikaner bezeichnet. Als in Frank Plasbergs „Hart aber fair“-Sendung diskutiert wurde, wie deutsch dieser Mesut Özil eigentlich sei, meinte De Lisle, Özil sei mitnichten ein Beispiel für gelungene Integration, weil er ja Deutscher sei. Für Bayerns CSU-Innenminister Joachim Herrmann („Roberto Blanco war immer ein wunderbarer Neger“) war Özil „jemand, der tolle Fähigkeiten einbringt in unsere Gesellschaft“, und folglich „in diesem Land alle Chancen“ bekomme.

      Özil äußerte sich in diesen Debatten nicht.

      Der Denker des Spiels

      Als die deutsche Nationalelf am 10. August 2011 ein Testspiel gegen Brasilien bestritt, stand erstmals auch der 20-jährige Ilkay Gündogan im Kader.


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