Der Fall Özil. Dietrich Schulze-Marmeling

Der Fall Özil - Dietrich Schulze-Marmeling


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sein Vater zog 1979 nach Deutschland. Wie bei Özil wurde auch Gündogans Talent erst relativ spät gewürdigt. Zwar wechselte er als Achtjähriger vom SV Gelsenkirchen-Hessler zu Schalke 04, blieb dort aber nur eine Spielzeit, da er aufgrund von Verletzungsproblemen kaum zum Einsatz kam und seine Trainer ihr für zu schmächtig hielten. Gündogan kehrte zu seinem Stammverein zurück, für den er die nächsten fünf Jahre spielte. 2004 wechselte er zum SSV Buer, einem weiteren Gelsenkirchener Amateurklub. Im Sommer 2005 verpflichtete der VfL Bochum den nun fast 15-Jährigen.

      In der Winterpause der Saison 2008/09 holte ihn sein ehemaliger Jugendtrainer und Entdecker Michael Oenning aus der 2. Mannschaft des VfL zum Zweitligisten 1. FC Nürnberg. Oenning hatte schnell gesehen, dass Gündogan „nicht einen goldenen Fuß hatte, sondern zwei. Er hat so außergewöhnliche Sachen mit dem Ball gemacht, dass ich zu ihm hin bin und gesagt habe: Du wirst mal Profi.“ Der Trainer war aber nicht nur von Gündogans Technik beeindruckt, sondern auch von dessen Charakter: „Er war schon damals sehr fokussiert und hat sich nur aufs Sportliche konzentriert. Dass ihn Schalke in der E-Jugend quasi heimgeschickt hat, weil er angeblich zu klein war, hat ihn gewurmt, und das war ein Ansporn.“ Zur Saison 2011/12 wechselte Gündogan zu Borussia Dortmund und wurde dort rasch ein Thema für die Nationalelf.

      Erstmals für die A-Elf des DFB durfte Gündogan am 11. Oktober 2011 auflaufen. Deutschland empfing im letzten Qualifikationsspiel für die EM 2012 Belgien und gewann in der Düsseldorfer Esprit Arena mit 3:1. Tor Nummer eins erzielte Mesut Özil. Gündogan durfte nur wenige Minuten mitwirken. In der 84. Minute kam er für Philipp Lahm aufs Feld und war durch diesen Pflichtspieleinsatz fortan nur noch für die DFB-Elf spielberechtigt.

      Rassistische Hetze

      Zur EM 2012 in Polen und der Ukraine nahm Bundestrainer Jogi Löw sowohl Özil wie Gündogan mit. Letzterer blieb ohne Einsatz, während Özil als Stammspieler zur Zielscheibe rassistischer Hetze wurde. Vor dem letzten EM-Gruppenspiel in Lemberg gegen Dänemark wurde per Twitter die Behauptung verbreitet: „Özil ist garantiert kein Deutscher! Ein Stück Papier ändert nicht die Abstammung.“ Außerdem wurde getwittert, dass in der Nationalmannschaft nur noch Spieler mit deutsch klingenden Namen spielen sollten. Özils Vater Mustafa, Manager seines Sohnes, erstattete Anzeige und bezeichnete diesen Schritt als eine Präventivmaßnahme: „Es geht ja hier nicht allein um Mesut. Morgen ist es vielleicht Boateng, übermorgen Khedira, dann auch noch Gündogan und am Ende Podolski. Das geht doch nicht. (…) Mesut ist in Deutschland geboren, hat mehr für Deutschland getan und auch für die Integration anderer Menschen als viele andere. Er ist ein wunderbarer Junge, der seinen Teil dazu beigetragen hat, dass dieses Bild des modernen Deutschland nach außen getragen wurde.“ Laut Mustafa Özil war die rassistische Beleidigung „nicht der erste Fall oder ein Einzelfall“.

      Beim Spiel gegen die Dänen entrollten deutsche Fans ein Banner mit der Aufschrift „Gott sei mit uns“. Dieser Spruch zierte im Zweiten Weltkrieg die Gürtelschnallen der Wehrmachtssoldaten. Volker Goll von der Koordinationsstelle Fanprojekte bestätigte später der Presse, dass es während des Turniers noch weitere Vorfälle mit rechtsradikalen Fans gegeben habe. Der Fotograf und Autor Florian Schubert, Mitglied des Bündnisses Aktiver Fußballfans (BAFF), berichtete in seinem Blog von rassistischen Parolen und Neonazi-Symbolen. Fotos zeigten deutsche Fans in Thor-Steinar-Pullovern oder mit Pickelhaube sowie im deutschen Trikot mit der Nummer „88“ (die „8“ steht für den achten Buchstaben im Alphabet, die „88“ für „Heil Hitler“).

      Ebenfalls von der EM-Partie gegen Dänemark berichtete ein Werder-Bremen-Fan, dass in einem Bus das bei Rechtsradikalen beliebte „U-Bahn-Lied“ gesungen wurde, in der Variante: „Eine U-Bahn bauen wir, von Lemberg bis nach Auschwitz“. Fotograf Schubert selbst hörte, wie zur Melodie von „Jingle Bells“ „Besiktas, Trabzonspor, Galatasaray, Fenerbahce Istanbul – wir hassen die Türkei!“ geschmettert wurde. Der „taz“ erzählte er: „Diejenigen, die rassistische Gesänge anstimmen und den Hitlergruß zeigen, sind natürlich eine Minderheit, aber eine akzeptierte. Wirklich erschreckend ist, dass sich andere Fans einen Scheißdreck darum kümmern.“

      Als mittlerweile „normal“ galten die stumpfen „Sieg“-Stakkatos, bei denen viele der Rufenden das „Heil“ mitdachten. Sogar Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) verurteilte diese Schreie.

      Weltmeister Özil

      Im September 2013 wechselte Mesut Özil für ca. 50 Mio. Euro zu Arsenal London und war damit der bis dahin teuerste Verkauf in der Geschichte von Real und der teuerste Einkauf der „Gunners“. Außerdem war dies zu diesem Zeitpunkt der teuerste Wechsel eines deutschen Spielers. Özils neuer Coach hieß Arsène Wenger. Dessen argentinischer Kollege Ángel Cappa hatte mal Trainer in zwei Kategorien eingeteilt: „Es gibt Menschen, die essen, um zu genießen. Und es gibt Menschen, die essen nur, um zu scheißen.“ Wenger, der eindeutig zur ersten Kategorie zählt, war ein Özil-Fan: „Ich liebe Mesut Özil, und ich liebe sein Spiel.“

      Beim Turnier 2014 in Brasilien wurde Deutschland Weltmeister – mit sechs Migrantenkindern: Jérôme Boateng, Shkodran Mustafi, Sami Khedira, Mesut Özil, Lukas Podolski und Miroslav Klose. Beim Finale gegen Argentinien standen in der Startelf drei Akteure mit Migrationshintergrund: Jérôme Boateng, Mesut Özil und Miroslav Klose. Ein vierter, Sami Khedira, musste wegen einer Verletzung kurzfristig passen. Bester Mann auf dem Platz war Boateng, der einen Innenverteidiger und einen „Sechser“ in Personalunion spielte.

      Nahezu jeder Weltmeister hat auf dem Weg zum Titel mindestens ein Spiel, das arge Zweifel an seiner Siegerqualität weckt. Manchmal droht in diesem Spiel sogar das vorzeitige Scheitern. Dass ein Weltmeister in jeder Begegnung eines WM-Turniers überzeugt und souverän siegt, das gibt es kaum. Bei der WM 2014 in Brasilien waren es Deutschlands 128 Minuten und 21 Sekunden im Achtelfinale gegen Algerien, in denen alle Träume zu zerplatzen drohten. Wäre da nicht Keeper Manuel Neuer gewesen. Der Torhüter glänzte in Porto Alegre nicht durch tollkühne Paraden, er war in diesem Spiel nicht der Keeper mit den tausend Händen. Er berührte den Ball vor allem mit dem Fuß und spielte neben dem Torwart auch noch einen überragend antizipierenden Libero. Aber auch Mesut Özil sorgte dafür, dass die deutsche Mission nicht vorzeitig scheiterte. In der 119. Minute erzielte er das erlösende 2:0.

      Der historische 7:1-Sieg über Brasilien diente Özil später als Beispiel für gelungene Integration: „Integration ist gut. Integration ist wichtig. Ich wünsche mir, dass Integration immer so verläuft, wie unser Spiel beim WM-Halbfinale 2014, als wir Brasilien mit 7:1 schlugen. Unser Spiel wurde nicht von Egoismus blockiert, sondern durch das Miteinander beflügelt. So muss es auch in der Gesellschaft insgesamt funktionieren, ganz gleich, welche Wurzeln die Mitbürger haben: Zusammen funktionert es immer.“

      Für Özil war es kein einfaches Turnier. In der Regel spielte er nicht auf der „Zehn“, wo er seine Fähigkeiten am besten entfalten konnte, sondern auf der „Acht“. Auf der „Zehn“ besaß Löw ausreichend Alternativen, weshalb er seinen ballsichersten Akteur auf die defensivere Position schob. Auf der Außenposition hinter ihm spielte mit Benedikt Höwedes kein gelernter Linksverteidiger, sondern ein Innenverteidiger, der kaum für Angriffsschwung sorgen konnte. Worunter insbesondere Özils Spiel litt. Ohne die Unterstützung durch Höwedes blieb ihm häufig nur die Aufgabe, den Ball zu halten.

      Guardiolas Wunschspieler

      Ilkay Gündogan war in Brasilien nicht dabei. Sein letztes Länderspiel hatte er am 14. August 2013 gegen Paraguay bestritten. In Kaiserslautern war die deutsche Elf damals schnell mit 0:2 in Rückstand geraten. In der 18. Minute konnte Gündogan mit einem platzierten Schuss aus 18 Metern Entfernung auf 1:2 verkürzen. Neun Minuten später machte der Rücken des Torschützen nicht mehr mit. Gündogan spielte zwar nur 27 Minuten, aber diese reichten, damit der „Kicker“ ihm mit einer „2“ die beste Note aller deutschen Spieler erteilte. Gündogan präsentierte sich agil, ideenreich und lauffreudig. Eine ominöse Rückenverletzung setzte ihn nun über ein Jahr lang matt. Sein nächstes Länderspiel bestritt er erst 586 Tage nach seiner kurzen Galavorstellung auf dem Betzenberg. Am 25. März 2015 war er in einem Testspiel gegen Australien dabei. Beim 2:2 gehörte er mit der Note 3,5 zu den stärkeren Akteuren, der „Kicker“ bewertete nur Reus (2,5) und Khedira (3,0) noch besser.

      Gündogan bestritt fünf der


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