Die große Fälschung. P. M.

Die große Fälschung - P. M.


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der Malvasier stur fort, »und im Frühling schüttelt ihr und das Land Schnee, Frost und Rebellion ab. Rodulf ist wieder Ritter in seiner Burg, der Bischof kommt zurück, die Bauern bestellen ihre Äcker wie früher, alle tun, als ob nichts gewesen wäre. Dann verwandeln wir diesen denkwürdigen Winter in eine Legende und feiern ihn als Karneval. An einem bestimmten Tag wählen wir den ärmsten Schweinehirten zum Fasnachtskönig, und einen Tag lang steht die Welt kopf – zur Erinnerung. Vielleicht wird der Karneval von Tuckstett sogar weltberühmt und zu einem ausgezeichneten Geschäft. So kann das Schlamassel, in dem ihr steckt, entsorgt werden. Kein Massaker, kein Krieg, keine Endzeit. Gewöhnliches Leben, etwas enttäuschend, aber erträglich.«

      »Nieder mit dem Karneval!«, ruft Leo aus.

      »Du machst Witze«, antwortet Unna dem Monemvasier. »Zu viel ist schon geschehen. Herzog Lothar wurde getötet. Was, meinst du, wird seine Familie dazu sagen, wenn wir ihr vorschlagen, einfach zur Tagesordnung überzugehen?«

       »Sie wird glücklich sein. Sein Sohn Bernhard wird Herzog, ein munterer Bursche von achtzehn Jahren, gut ausgebildet, sympathisch. Auch überall sonst werden Lebendige nur zu gern für die Toten nachrücken. Die Pfaffen werden sich über die Bußprozessionen freuen, die Händler über ihre schön renovierten Stadthäuser … Man wird die Bauern und die kleinen Ritter hinfort mehr respektieren, denn alle wissen natürlich, dass hinter der Legende mehr steckt. Sagen wir es so: Ihr werdet auf den Putz gehauen haben, und alle werden das verstehen. Aber nicht, wenn ihr das ganze Haus in Schutt legt. Einen Aufstand muss man im richtigen Moment beenden können, das ist die große Kunst. Jetzt ist die letzte Gelegenheit zum Ausstieg.«

      »Und die kaiserlichen Truppen?« frage ich, »werden die sich in Luft auflösen?«

       »Die ziehen gerne ohne unliebsame Verzögerungen nach Italien. Ja, der Hof in Aachen wird euch dankbar sein, dass ihr ihm mit eurem Aufstand indirekt zu mehr Geld und zu größerem Zuzug verholfen habt. Der kleine Otto will von euch nur hören, dass ihr zu seinem Römischen Reich gehört. Er träumt. Weckt ihn nicht auf. Enttäuschte junge Kaiser können besonders grausam werden. Man soll schlafende Löwen nicht wecken.«

      Theodoros gibt sich Mühe. Er liebt das Leben, wie es ist, unvollkommen, tragisch, aber ohne allzu große Leiden. Er versucht, uns aus unserem Wahn zu befreien, appelliert an unsere Vernunft, unsere Lebenserfahrung, unser Erwachsensein. Ein richtiger Sozialdemokrat. Selbstverständlich hat er in unserem Kindergarten nicht die geringste Chance.

      »Und das ist der neueste Vorschlag der Geschäftsleitung?«, erkundige ich mich.

      Er zögert, legt die Fingerspitzen aufeinander.

       »Nicht direkt, aber ich bin sicher, dass er gute Chancen hätte. Es wird danach kein besseres Angebot mehr geben.«

      Unna schüttelt ihren edlen Kopf und sagt verärgert:

       »Gut zu wissen, dass wir noch eine Wahl haben. Nur teilen wir deine Einschätzung nicht. Es gibt keinen Grund, den Aufstand gerade jetzt abzuwürgen. Er breitet sich mit jedem Tag ungebremster aus. Es wird lange keine solch gute Gelegenheit mehr geben, den Wahnsinnspfad der Firma zu verlassen. Es wäre unverzeihlich, dieses historische Fenster nicht zu nutzen. Unser Untergang ist keineswegs programmiert. Der Kaiser hat Mühe, seine Truppen zusammenzubekommen – unsere Überfälle behindern ihn überall. Der Frühling wird eine Welle von Stadtrebellionen bringen, bis weit nach Frankreich und Italien hinein. Prag wird in wenigen Tagen fallen – so vernehmen wir gerade. Die Lawine ist losgetreten; auch wenn wir wollten, könnten wir sie nicht mehr aufhalten.«

       »Es ist keine Lawine. Die Leute hören auf euch, ihr habt einen großen Einfluss und könntet sie zur Vernunft bringen. Ich weiß, dass die Firma alles vorbereitet hat, um euch darin zu unterstützen. Ihr braucht nur ja zu sagen, und die Operation ‚ultima ratio‘ wird ausgelöst. Noch habt ihr Sympathisanten im Innern der Firma, die euch schützen. Doch sie werden abspringen, wenn sie sehen, dass ihr bis zum Letzten gehen wollt. Der Wunsch nach Veränderungen ist überall groß, da habt ihr Recht. Aber niemand will das Kind mit dem Bad ausschütten. Ihr kennt doch unsere Kollegen: Sie murren gerne einmal ein bisschen, spielen gerne ein paar böse Streiche und fluchen über die Chefs, aber Pensionsanspruch, Krankenkasse und ein gefülltes Bankkonto behalten doch die Oberhand. Ihr müsst auch an euch selbst denken: Ihr seid auf dem Weg, Kriminelle zu werden. Jetzt bietet man euch eine Amnestie an, wenn ihr umkehrt. Wollt ihr den Rest des Lebens in ständiger Angst verbringen? Ihr riskiert noch mehr als all jene, die nicht in der Firma sind.«

      »Wer von euch ist denn nicht in der Firma?«, fragt Hilda laut.

      »Per aspera ad astra!«, schallt es rund um uns herum und endet im Gelächter.

      »Ein Hoch auf den Generaldirektor!« ruft einer, der schon etwas mehr Malvasier getrunken hat.

      Theodoros starrt uns wütend an – doch sein Hals wird für meinen Geschmack nicht rot genug. Er gibt sich verärgert, ganz wie ein missverstandener, aber im Herzen radikaler Gewerkschaftsfunktionär, dem dumme Extremisten die Mitglieder verhetzt haben.

      »Wisst ihr wirklich, was ihr tut?«, fragt er uns enttäuscht.

      »Wissen wir«, versetzt Unna forsch.

       »Wollt ihr bis zum Ende gehen? Seid ihr ganz sicher?«

       »Ganz.«

      Theodoros nickt düster. Dann hellt sich sein Gesicht plötzlich auf, und er sagt fröhlich grinsend:

       »Okay, ihr habt den Test bestanden. Ich bin dabei. Und mit mir haufenweise Leute in allen Etagen der Firma. Nun aber wollen wir seriös an die Sache herangehen …«

      »Was soll das heißen?«, empört sich Hilda. »Woher nimmst du das Recht, uns zu testen?«

       »Das musste ich. Ich habe Dutzende von Leuten zum Mitmachen überredet und dadurch die Firmenspitze völlig desinformiert. Sie alle riskieren Kopf und Kragen. Da wollen wir doch wissen, woran wir sind. Ob wir es mit einem seriösen Aufstand oder nur mit etwas Bürgerschreck zu tun haben. Von Antiochia bis Trapezunt, von Warna bis Kiew, in Smolensk, Ladoga, Kolberg, Wollin, Hamburg, Bremen und Haithabu haben wir Leute in Filialen und Außenposten. Wir haben Vertrauensleute in Susa, an den Höfen von Kairuan, Cordoba, Kairo und Bagdad. Ich habe ein Informationsnetz aufgebaut, über das wir aus dem Kaiserhof, aus allen Fürstenhöfen und aus Rom unterrichtet werden können. Das Ganze ist durch Handelsbeziehungen getarnt. All diese Leute müssen endgültig aktiviert werden. Das werden wir nun tun. Was ich hier gesehen und gehört habe, überzeugt mich restlos. Gute Arbeit! Bravo!«

      »Merci«, murmeln wir.

      »Das tönt ja wie die Gründung einer neuen Firma«, sagt Leo spöttisch grinsend, »ein neuer Stern am historischen Firmament, eine Supernova.«

      »Richtig«, nickt Theodoros grinsend, »die Chrisostomos Trading Company – CTC – verknüpft östliche und westliche Märkte und Diwane, sichert den Zugang zum indischen Ozean und wird demnächst die ersten Saatkartoffeln aus Mittelamerika einführen. Der Kaffee ist im Prinzip schon erfunden – zufällig fielen einige grüne Bohnen in die Glut –, und bald werdet ihr den ersten anständigen Espresso unter einem Tannenbaum genießen können.«

      »Perfekte Tarnung«, lobe ich Theo.

      »Na gut«, sagt Unna abgründig lächelnd, »du traust uns nun. Warum aber sollen wir dir trauen?«

      Theodoros nickt und zieht eine lederne Kapsel von der Größe eines Zigarrenetuis aus den Tiefen seiner schwarzen Tunika.

       »Das da ist das größte Geheimnis des byzantinischen Reichs, ein wertvolles Rezept.«

      Er holt ein Pergamentröllchen aus dem Behälter, entrollt es und schwenkt es. Viele Neugierige stoßen zu unserer Gesellschaft.

       »Dieses Rezept darf unter Androhung der Todesstrafe den Hof von Konstantinopel nicht verlassen.


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