Ein unerwartetes Geständnis. Christa Wagner
1966 veränderte sich meine Welt mit einer Kette von Ereignissen, von denen du keinerlei Ahnung hast. Damals war ich knapp achtzehn Jahre alt, hatte meine landwirtschaftliche Lehre bereits hinter mir und bewirtschaftete zusammen mit meinen Eltern unseren kleinen Hof.«
2
Ende August 1966 besuchte uns Tante Alice aus Würzburg. Ich freute mich immer, sie zu sehen, denn sie brachte mit ihrem Temperament frischen Wind in unser Haus. Sie war, wie du vielleicht noch weißt, Vaters Halbschwester, mehr als zehn Jahre jünger als er, schlank, modisch gekleidet, geschminkt.
Wenn Vater sie diesbezüglich anspitzte, entgegnete sie schnippisch, als Verkäuferin im Kaufhof sei gutes Aussehen unverzichtbar, doch davon verstehe er wohl nichts.
Als Alice diesmal an einem strahlenden Spätsommernachmittag ankam, lief Mutter ihr gleich entgegen und erklärte, ihr Bruder Erich sei im Weinberg.
»Ach, Mensch, da würde ich auch gern mal wieder hin«, sagte Alice. »Nach der Autofahrt tut mir ein kleiner Spaziergang gut. Bärbel, kommst du mit?«
Nichts lieber als das. Ich hätte ansonsten bloß wieder meiner Mutter helfen müssen: Hof kehren, putzen, Abendessen richten.
Kaum hatten wir das Dorf hinter uns gelassen, zündete sich Alice eine Zigarette an, inhalierte und blies mit einem tiefen Wohllaut den Rauch wieder hinaus.
»Herbstzeitlosen! Schau mal dort rüber, Tante Alice!« Ich zog sie mit an den Wegrand. »Es sind die ersten, die ich dieses Jahr sehe. Was für ein zartes Violett!«
»Ja, wirklich schön, Bärbel. Aber sie sind eben auch ein Anzeichen, dass der Sommer bald vorbei sein wird.«
Wir gingen weiter. Sie schaute mich an. »Ach, Bärbel, langweilst du dich denn nicht in diesem Kuhdorf? Vor zwanzig Jahren wollte ich nur noch weg von hier.«
Ich kicherte: »Du hast auch nie so recht hierher gepasst. Sogar Vater gibt zu, dass die Stadt das Richtige für dich ist.«
Sie grinste. »Na, dann muss es wohl stimmen.« Dann schaute sie mich fragend an. »Und wie ist das bei dir?«
»Klar ist es hier oft öde. Aber was soll ich denn machen? Ich hab doch gar keine Wahl. Die Eltern schaffen die Arbeit nicht allein. Und Mama ist, wie du weißt, nicht die Gesündeste.«
»Ist denn in Zukunft der kleine Hof überhaupt eine Lebensgrundlage für dich?«
»Kaum. Das wissen auch meine Eltern.« Halb im Spaß fügte ich hinzu: »Aber Vater hofft, ich heirate einen von den großen Jungbauern, dann könnten wir die Höfe zusammenlegen.« Angesichts der Vorstellung schüttelte ich den Kopf und musste grinsen. »Und wenn das nichts wird, ist es das Mindeste, dass ich einen tüchtigen Handwerker heimbringe und den Hof als Nebenerwerb führe.«
»Na, das sind ja vielversprechende Aussichten«, sagte Alice und schürzte die Lippen. »Aber jetzt mal im Ernst: Was möchtest du denn selbst? Hast du nicht manchmal das Bedürfnis rauszukommen aus diesem Kaff, irgendwo anders zu sein, vielleicht einmal Stadtluft zu schnuppern?«
»Irgendwie schon. Aber ich hab ja nur Landwirtschaft gelernt. Das Jahr Fremdlehre auf dem Hof in Gnodsdorf war bereits ein Problem für die Eltern. Sie sind auf meine Hilfe angewiesen.«
»Zum Donnerwetter noch einmal! Ich habe nicht deine Eltern gefragt, sondern dich.«
Betroffen schwieg ich. Was wusste meine Tante schon, welche Rücksichten ich zu nehmen hatte.
Alice legte ihre warme Hand auf meinen Arm. »Du bist eine gute Tochter, die beste. Aber hättest du nicht mal Lust, zu mir nach Würzburg zu kommen? Nur für ein paar Monate. Ich könnte dir einen guten Job vermitteln. Über den Winter könnten deine Eltern doch auf dich verzichten.«
»Vater lässt das nicht zu. Du kennst ihn doch.«
»Schon. Das wird sicher nicht ganz leicht. Aber wenn du wirklich willst …« Sie brach den Satz ab, wandte ihren Blick wieder mir zu.
Ich nickte, so heftig ich konnte.
»Gut! Lass nur mich mal machen«, sagte Alice zufrieden.
Wir näherten uns dem Weinberg von der Bergseite her. Vor uns fielen die Drahtreihen mit den dichten, grünen Rebenzeilen steil den Hang hinunter. Alice zog noch einmal lustvoll an ihrer Zigarette und zertrat sie.
Wir öffneten das schmale Türchen im Zaun und schlüpften hinein. Gleich links davon stand, an der höchsten Stelle des Grundstücks, ein von meinem Vater selbst gezimmertes Weinbergs-Häuschen, auf das er sehr stolz war. Wir ließen uns auf der Terrasse nieder. Vater war weiter unten im Weinberg zu sehen.
Alice formte ihre Hände zu einem Trichter und rief: »Hallo, Erich. Hier sind zwei, die dich von der Arbeit abhalten wollen.« Sie seufzte: »Hatte ganz vergessen, wie himmlisch dieser Blick ist: das Aischtal, die Burg Hoheneck, die Frankenhöhe. Ein Traum!«
»Ich dachte, es ist ein Kaff«, sagte ich grinsend.
Alice knuffte mich in die Seite.
Vater schnaufte die Rebengassen zu uns herauf. »Alice!« Er streckte ihr seine große, schwielige Hand entgegen. Mich beachtete er nicht. Dann setzte er sich zu uns an den groben, ebenfalls von ihm selbst geschreinerten Holztisch. »Gell, das hier ist ein kleines Paradies! Das kann dir die Stadt nicht bieten.«
Alice lachte. Eine Pause entstand.
»Wie wird denn die neue Ernte, Vater?«
Ich wusste, was ihn besonders interessierte.
Zum ersten Mal, seit wir hier waren, sah er mich an.
»Also, wenn kein Hagel kommt, gut. Dann brauchen wir jede Hand zur Lese; auch deine wäre mal durchaus willkommen, Alice.«
»Ja, warum eigentlich nicht? Man soll ja bekanntlich niemals nie sagen. Gib mir einfach Bescheid, wenn’s so weit ist.«
Wir schwiegen eine Weile. Mein Vater ließ den Blick über das Tal schweifen. Dann schaute er seine Schwester an.
»Und, geht’s dir gut? Hast du noch den von der Weinstube?«
»Du meinst Fritz? Ja, wenigstens ab und zu.« Sie grinste.
»Wieder nichts Ernstes, oder?«
»Nö, nicht so, wie du das verstehen würdest, Bruderherz. Aber er bringt mich zum Lachen, das ist doch schon mal was.«
»Zum Lachen?«, wiederholte mein Vater und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Die Weinstube läuft gut. Sie suchen übrigens händeringend Bedienungen, freundliche, verlässliche. Das wär doch etwas für Bärbel. Natürlich nur den Winter über.« Tante Alice sah mich an.
Ich fühlte mich überrumpelt. Das mit der Weinstube war nicht abgesprochen, und ich konnte erst einmal gar nichts sagen.
Mein Vater tat es für mich. »Also, wir brauchen Bärbel hier. Setz ihr keine Flausen in den Kopf!«
»Sie könnte bei mir wohnen. Kostenlos. Was denkst du, was eine tüchtige Bedienung so an Trinkgeldern nach Hause bringt!« Sie ließ das Gesagte sacken.
Inzwischen hatte ich mich gefangen. »Vater, doch nur von Oktober bis März. Im Frühjahr, wenn die Arbeit auf dem Hof wieder losgeht, komme ich wieder heim und helfe euch.«
»Außerdem würde Bärbel mal gern was Anderes sehen als nur das Leben auf dem Dorf. Gönn es ihr doch mal für diese kurze Zeit, Erich!«
»Wer von euch beiden hat sich denn das alles ausgedacht? Du, Alice, oder sie?«
Alice grinste wieder und deutete mit der einen Hand auf sich, mit der anderen auf mich.
»Vater, bitte! Das ist doch eine einmalige Gelegenheit. Ich könnte was sparen.« Ich überlegte kurz, was ihm wohl wichtig sei. »Für die Aussteuer!«
Mein Vater schnaufte laut und kratzte sich hinter dem Ohr. »Also, ihr