Ein unerwartetes Geständnis. Christa Wagner
in sich hinein. »Und zwar ein sehr guter!«
Gedankenverloren kramte sie nach einer Zigarette, ließ es dann aber doch lieber sein. Offensichtlich wollte sie ihren Bruder nicht unbedingt verärgern.
»Würzburg ist mir ein zu unsicheres Pflaster für so ein unerfahrenes junges Mädchen wie Bärbel. Die ganzen Studenten – und erst die Amis!«
»Ich bin achtzehn, Vater. Hab ich dir nicht immer bewiesen, dass ich gut auf mich selbst aufpassen kann?«
»Außerdem wohnt sie schließlich bei mir, ihrer Tante. Da kannst du ganz beruhigt sein, Erich.«
Vaters Blick suchte Trost in der ihm vertrauten Landschaft, dann brummte er etwas in seinen Bart hinein von wegen Bock und Gärtner.
Seine Schwester ging nicht darauf ein. Wieder sprach eine Zeitlang niemand.
Dann stand mein Vater ruckartig auf und sah Alice an. »Also, ich muss wieder an die Arbeit. Und wegen der Sache mit Würzburg, seid euch da nicht zu sicher. Da muss ich erst mit Marga reden.«
Meine Tante zwinkerte mir zu.
Mir wurde heiß vor freudiger Erregung. Wir kannten beide Mutter und wussten: Die Schlacht war geschlagen.
Tatsächlich täuschten wir uns nicht. Sie brachte für meinen Wunsch mehr Verständnis auf als Vater und hatte auch sofort größeres Vertrauen in mich und weit weniger Bedenken ihrer Schwägerin Alice gegenüber. So wurde noch am Abend mit meiner Tante vereinbart, dass ich von Anfang Oktober 1966 bis Ostern 1967 bei ihr wohnen und unter ihrer Aufsicht stehen würde. Ich könnte ja ab und zu an den Wochenenden und natürlich zu Weihnachten mit dem Zug nach Hause kommen. Der Bahnhof mit einer direkten Verbindung nach Würzburg war nur eine Viertelstunde mit dem Auto von unserem Dorf entfernt, die Bahnfahrt selbst dauerte eine gute halbe Stunde.
Außerdem sagte Tante Alice mir einen Job als Bedienung in einem renommierten, seriösen Weinhaus in Würzburg zu, in dem auch ihr Freund Fritz Kellner sei, sodass ich zu keiner Zeit allein und ohne den Schutz eines Erwachsenen arbeiten müsste, was meiner Mutter sehr wichtig war.
Schließlich konnte auch Vater kein Argument gegen meinen Aufenthalt in Würzburg mehr vorbringen, und das Ganze war beschlossene Sache.
Freudig winkte ich Alice nach, als sie gegen Abend mit ihrem Auto wieder Richtung Würzburg losfuhr.
Später jedoch wälzte ich mich in meinem Bett hin und her und fragte mich, ob ich mich von meiner Tante nicht vielleicht doch hatte überrumpeln lassen.
Hatte ich wirklich Lust, monatelang als Bedienung zu arbeiten? Was, wenn ich mich zu dumm anstellte, mich gar als Dorftrampel blamierte? Ich kannte doch niemanden dort, nicht einmal den besagten Fritz. Und Tante Alice? Ich mochte sie, aber wie gut kannte ich sie wirklich?
In ihrer hübschen Drei-Zimmer-Wohnung war ich schon öfter gewesen. Mir hatte es dort immer gefallen. Anders als bei uns zu Hause waren die Zimmer modern und farbenfroh eingerichtet. Aber wie wäre es, wenn ich dauernd bei ihr wohnen würde?
Bei all diesen schweren Gedanken schlug mein Herz schneller, und ich hatte Mühe, nach dem aufregenden Tag einzuschlafen.
In den nächsten Wochen jedoch traten die Bedenken, die ich natürlich niemandem gegenüber äußerte, immer mehr in den Hintergrund, und in mir machte sich eine freudige Erregung breit, wenn ich an das Abenteuer Würzburg dachte, das mit jedem Tag näherrückte.
3
Meine Eltern brachten mich im Oktober 1966, am Sonntag, bevor ich meinen Job antreten sollte, in unserem VW Käfer nach Würzburg. Es war nur eine knappe Stunde Fahrt mit dem Auto.
Tante Alice hatte sich für unseren Empfang tüchtig ins Zeug gelegt. Sie hatte einen Kuchen gebacken und einen echten Bohnenkaffee aufgebrüht. Sogar eine Schale mit Schlagsahne stand auf der sorgfältig gedeckten Kaffeetafel.
Mutter und ich machten ihr Komplimente, und selbst Vater rang sich zu einer löblichen Erwähnung der Mühen seiner Schwester durch.
Wir ließen es uns schmecken und plauderten in einer angenehmen Atmosphäre.
Später trug Vater meinen Koffer in das kleinste Zimmer der Wohnung, ein Raum vom Zuschnitt einer Schuhschachtel, doch hell mit einem bequem aussehenden, frisch bezogenen Bett, einem kleinen Nachttisch mit Lämpchen, einem schmalen Schrank und sogar einem Waschbecken. So brauchte ich nur für Dusche und Toilette das Bad der Tante mitzubenutzen. Man konnte dank eines Elektroboilers jederzeit duschen; bei uns zu Hause musste der Badeofen erst mit Reisig und Holz mühevoll angeschürt werden. Hier war das ein Luxus! Meine Eltern zeigten sich beeindruckt.
Nach dem Kaffeetrinken führte uns Tante Alice in die Weinstube, nur ein paar Straßen weiter. Sie bestand aus einem großen, dunklen Saal, der in mehreren Nischen abgeteilt war. Daran schlossen sich weitere kleinere Gasträume an. Alles war gediegen eingerichtet. Überall saßen Menschen, die fröhlich tranken, plauderten, rauchten.
Meine Mutter fand es gut, dass auch viele Frauen darunter waren; bei uns im Dorfgasthaus wäre das undenkbar gewesen.
Tante Alice winkte zur Theke, und eine resolut wirkende, ältere Frau, ihr graues Haar zu einem strengen Knoten frisiert, kam auf uns zu. Ihre ganze Erscheinung strahlte Führungsstärke aus.
Alice stellte uns gegenseitig vor. Es war Frau Hartmann, meine künftige Chefin. In ihrem geröteten Gesicht funkelten lebhafte, freundliche Augen.
Sie dirigierte uns zu einem leeren Tisch; ein Kellner eilte sofort herbei, um unsere Wünsche aufzunehmen. Selbstverständlich waren wir eingeladen.
Mit ihrer dunklen, fast männlich wirkenden Stimme wandte sie sich an mich: »Sie heißen also Bärbel. Was für ein schöner Name! Meine Mutter hieß auch so. Sie ahnen gar nicht, liebe Bärbel, wie dringend wir Sie brauchen. Alice hat mir schon viel über Sie erzählt, wie flink und tüchtig Sie sind. Ich freue mich auf Sie.«
Sie umschloss mit ihren großen, warmen Händen meine blassen, kalten und nahm mir mit dieser Geste etwas von meiner Aufregung.
Natürlich versuchte ich abzuwiegeln, unterstrich, dass ich keine Ahnung vom Bedienen hätte, man mir erst noch alles beibringen müsse.
»Das ist doch gar kein Problem. Nach ein paar Stunden können Sie’s. Das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an.« Sie lachte und tätschelte meinen Arm.
Es musste sich in der Weinstube herumgesprochen haben, dass eine neue Kollegin bei der Chefin am Tisch sitze, denn nach und nach kamen die anderen Bedienungen zu uns her, stellten sich kurz vor, reichten mir und meinen Eltern die Hand und wünschten mir einen guten Start. Sie waren adrett mit schwarzer Hose oder Rock und weißem Hemd beziehungsweise Bluse gekleidet, so wie ich mich ab morgen auch bei der Arbeit anzuziehen hatte. Alle machten sie einen freundlichen, recht sympathischen Eindruck.
Meine Eltern und meine Tante waren bestens gelaunt, als wir gingen. Selbst Vaters Bedenken schienen zerstreut; auch mir war es leichter ums Herz.
»Nur schade, dass ihr Fritz nicht kennenlernen konntet«, meinte Tante Alice. »Er hat heute erst ab 18 Uhr Dienst und ruht sich immer gern vorher etwas aus.«
Dafür hatten meine Eltern Verständnis. Zufrieden fuhren sie in ihrem Auto nach Hause.
»Wenn ich jetzt zurückdenke, Simone, mein Schatz, bin ich froh, dass meine Eltern Fritz nicht begegnet sind. Sie haben eine gute Menschenkenntnis, und sie wären nicht so beruhigt nach Hause gefahren.«
»War es denn so schlimm mit ihm, Mama?«
»Nein, das nicht, aber nervig. Er war ein schleimiger, mir unsympathischer Typ mit anzüglichen Sprüchen, der auch noch glaubte, meinen Aufpasser spielen zu müssen.« Bärbel lachte. »Aber ich habe ihn schon in die Schranken verwiesen. Jedoch ist mir nie ganz klar geworden, was Tante Alice an ihm gefunden hat.«
Sie schloss