Operation Führerhauptquartier. Will Berthold

Operation Führerhauptquartier - Will Berthold


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hohen Stirn und den blauen Augen weiß, daß er in diesem Moment die gefährlichste und schwächste Stelle seines Anschlags durchstehen muß; er hofft, daß die deutschen Grenzbeamten sich im Gemeinschaftsempfang von dem Verführer vernebeln lassen und daß ihn die Grenzer auf der schweizerischen Seite übersehen, so daß der eidgenössische Fremdenkommissar, Hitlers Liebediener, nicht mehr berechtigt ist, ihn postwendend an seine Mörder auszuliefern.

      Er steht am Zaun. Ein letzter Blick. Hitlers Stimme gibt ihm das Geleit; sie kommt jetzt halblaut aus einem Volksempfänger, den zwei Grenzbeamte auf Wache mitgenommen haben. Die Uniformierten haben den Führer im Ohr und das Niemandsland im Auge.

      Sie sehen im letzten Moment den Grenzgänger, der am Zaun hochklettert, schleichen sich an ihn heran, Waffe im Anschlag. »Herunter!« ruft einer. »Hände hoch, oder ich schieße.« Keine Chance. Der kleine Mann läßt sich nach unten fallen und ergeben festnehmen; damit beginnt sein Todeskampf, der sich über fünf Jahre hinziehen wird.

      Die Grenzbeamten stellen fest, daß es sich um einen gewissen Georg Elser handelt, Schreiner und Uhrmacher aus dem Württembergischen. Für sie ist er zunächst ein kleiner Fisch, kein großer Fang.

      20.40 Uhr. Schon jetzt merken die Zuhörer, daß es der Führer diesmal kürzer machen wird als sonst. Er will am nächsten Morgen in Berlin sein. Da mit einer Wetterverschlechterung zu rechnen ist, die das Fliegen problematisch macht, wird er die Rückreise in die Reichshauptstadt in seinem Sonderzug antreten, der in einem ständigen Leerfahrplan eingesetzt ist. Abfahrtszeit: 21.31 Uhr. Erreicht Hitler bis zu diesem Zeitpunkt den Hauptbahnhof, hat er freie Fahrt bis Berlin. Andernfalls drohen dem Sonderzug erhebliche Verspätungen. Wenn alle Verkehrsampeln auf Grün stehen, schafft eine rasch fahrende Wagenkolonne den Weg vom Bürgerbräukeller bis zum Münchner Hauptbahnhof in längstens zehn Minuten.

      21.07 Uhr. Die Führerrede geht zu Ende, um mindestens eine halbe Stunde gekürzt. Hitler läßt minutenlangen Beifall über sich ergehen. Noch während der Nationalhymne kämpfen ihm und seiner Kamarilla die Bewacher den Weg zum Ausgang frei.

      Die Veteranen der Saalschlachten sind wieder unter sich, die Silhouetten ihrer Gesichter verschwimmen im Dunstkreis, in dem die braune Bewegung einst entstanden ist. Seit die Macht von den Fäusten der Rabauken an die hintergründigeren Schaltzentralen der SS übergangen ist, fühlen sich viele von ihnen als verstaubte Ladenhüter der Bewegung, die man nur noch an den Gedenktagen aus der Reichs-Requisitenkammer holt und zur Schau stellt.

      Die Führerkolonne erreicht den Marienplatz, rollt weiter durch die Kaufingerstraße. Die Begleitfahrzeuge setzen sich an die Spitze, um die Menschenmauer am Stachus zurückzudrängen. Der Zeitplan funktioniert reibungslos. Um weitere Verzögerungen auszuschließen, macht die Führer-Begleitkompanie bereits den Vorplatz am Hauptbahnhof frei.

      21.20 Uhr. Ein greller Blitz. Ein gewaltiger Donnerschlag. Der Pfeiler ist geborsten; die herunterstürzende Galerie begräbt die unter ihr sitzenden Ehrengäste. Die Höllenmaschine ist auf die Sekunde genau explodiert, doch 13 Minuten zu spät, um den Lauf der Weltgeschichte von Grund auf zu verändern. Im Saal verwandelt das Attentat die Gefolgsleute des Führers in eine kopflose, vielköpfige Horde, die über Verwundete und Sterbende hinwegtrampelt, einer auf Kosten des anderen, boxend, rudernd, stoßend, um nach draußen zu flüchten.

      Die Führerkolonne schwenkt zum Hauptbahnhof ein. Hitler steigt aus und betritt, gefolgt von Himmler und Goebbels, seinen Salonwagen. Heilrufe hinter der Absperrung quittiert er flüchtig mit dem ausgestreckten Arm. Der Sonderzug fährt ab, ohne daß die NS-Größen erfahren, daß ein Anschlag den Biersaal in ein Inferno verwandelt hat. Die ersten Rettungstrupps vom Krankenhaus rechts der Isar gelangen nicht an die Unglücksstätte, weil die Panik der Flüchtenden sie niederwalzt. Die Kommandos der Besonnenen im Saal werden von den gräßlichen Schreien der Verwundeten und Sterbenden überlagert. Niemand weiß, ob fünf oder 50 Hoheitsträger unter den Trümmern liegen, und niemand fragt in diesen ersten Minuten, wem der Anschlag gegolten hat und wie er möglich war.

      Endlich flammt ein Notlicht auf, illuminiert Szenen des Horrors. In der Wanne mit dem Tropfenbier schwimmt eine abgerissene Hand. Um eine ganzgebliebene Stuhllehne winden sich Eingeweide wie eine Kranzschleife. Eine Kellnerin liegt bäuchlings am Boden; in der Hand hält sie den Henkel eines Maßkrugs wie den Griff einer Notbremse, doch ihre Not ist überstanden.

      Die Braunhemden einiger Besonnener, die sich dem Chaos entgegenstemmen, sind rotgefärbt. Der Rauch beizt ihre Augen, sticht in ihre Lungen. Im Raum hat sich der schwefelige Gestank der Hölle verbreitet. Ein Hilfssanitäter will sich über einen Verletzten zur Mund-zu-Mund-Beatmung beugen und kann sie nicht vornehmen, weil dem Hoheitsträger vom Explosionsdruck der Kopf abgerissen wurde. Einem Gauobmann wurde von einem Holzsplitter die Halsschlagader aufgerissen. Man kann seinen Herzschlag am herausgepreßten Blutstrahl sehen, verfolgen, wie der Puls schwächer wird. Seine aufgerissenen Augen betteln um Hilfe.

      Aber was sollen die Hilfssamariter, in einem Schnellkurs ausgebildet, tun? Sie müßten die Arterie abbinden, aber damit würden sie den Verwundeten erwürgen. Da sie an seinem Tod nicht mitschuldig werden wollen, verfolgen sie mit hängenden Armen sein Sterben, das kein Ende zu nehmen scheint.

      Verletzte, denen der Explosionsdruck das Trommelfell zerfetzt hat, irren wie von Furien gehetzt hin und her.

      Andere, die die gräßlichen, entmenschten Schreie der Verletzten hören, wünschen die Taubheit der letzten Minuten zurück.

      Während ein Gauleiter Erste Hilfe organisiert, tropft ihm von oben etwas gegen die Stirn wie Spatzendreck. Mechanisch wischt er sich mit der Hand sauber, starrt zur Decke, stellt fest, daß ihn Gehirnsubstanz besudelte, dreht durch, überschreit das Gebrüll der Eingeklemmten, rast durch die Reihen wie ein Berserker, reif für die Zwangsjacke.

      Die ersten Toten werden geborgen und in einer Reihe nebeneinander geschichtet. Auf ihren Gesichtern, soweit noch vorhanden, hat sich die letzte Begeisterung ausgeblendet.

      Kurz vor Mitternacht erreicht der Sonderzug des Führers Nürnberg. Der Polizeipräsident der ›Stadt der Reichsparteitage‹ läßt ihn stoppen, flitzt am Bahnsteig entlang, betritt den Salonwagen, stößt auf einen ob der Fahrtunterbrechung unwilligen Hitler. »Mein Führer«, meldet PG Martin aufgeregt: »Mein Führer – ich melde Ihnen: Höllenmaschine im Bürgerbräukeller. Explosion unmittelbar nach Ihrem Weggang. Mindestens zehn bis fünfzehn Parteigenossen nahe der Rednertribüne getötet. Möglicherweise an die Hundert weitere schwer verletzt.«

      Detonation? Höllenmaschine? Attentat? Hitler wäre nicht Hitler, würde er nach dem ersten Schock anstelle einer Reihe unglaublicher Zufälle für seine Rettung nicht unverzüglich die Vorsehung bemühen.

      Auch die nächste Folgerung ist typisch für ihn: »Das war der Secret Service«, sagt er zu Himmler. »Da gibt es keinen Zweifel«, stellt er bereits vor Anlauf der kriminaltechnischen Untersuchung fest. »Wir werden diesen Schurken eine Antwort erteilen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.« Hitler glaubt an Allgegenwart, Tücke und Schlagkraft des britischen Geheimdienstes wie ein Klippschüler an Winnetou, den Apachenhäuptling. »Wir werden jetzt handeln.«

      Himmler nickt eifrig. In dem käsigen Gesicht des Reichspolizisten zeigen sich rote Flecken wie Abdrücke von Ohrfeigen.

      »Rufen Sie Schellenberg an«, ordnet Hitler an: »Ich befehle, die Secret-Service-Offiziere ohne Rücksicht auf Verluste und Folgen unverzüglich von Holland nach Berlin zu schaffen. Ich werde diese Halunken dem deutschen Volk vorführen. Ich werde ihm zeigen, wie hinterhältig die Engländer sind.« Er mustert seinen Reichsführer SS starr und setzt hinzu: »Ich erwarte unverzügliche Vollzugsmeldung.« Himmler stürzt ans Telefon; er wählt die rsha-Filiale in Düsseldorf. »Schellenberg«, reißt er den SS-Oberführer aus dem ersten Schlaf. »Wissen Sie überhaupt, was vorgefallen ist?« ruft er aufgeregt in die Sprechmuschel, als wäre er nicht selbst erst vor einer Minute über den Anschlag informiert worden. »Attentat auf den Führer. Er befiehlt, daß die Holland-Operation nunmehr sofort anläuft. Haben Sie mich verstanden?«

      »Jawohl, Reichsführer«, erwidert der Benjamin der Prinz-Albrecht-Straße und Günstling des rsha-Chefs Reinhard Heydrich, ein verkrachter Jurastudent,


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