Operation Führerhauptquartier. Will Berthold

Operation Führerhauptquartier - Will Berthold


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Begleiter; sein Horizont reicht über Kimme und Korn nicht hinaus.

      Trotz Schellenbergs warnendem Blick mäkelt Müller-Wagenknecht weiter: »Ich komm mir wie nackt vor ohne Ballermann.«

      Das Wetter ist düster. Uniformierte vor und hinter der Grenze. Sie geben sich sorglos. Auffallend viele Zivilisten mit Hunden, unschwer zu erraten, daß ihre Spaziergänge Dienstrunden darstellen. Die Zeit beginnt an Schellenbergs Nerven zu sägen. Gelingt es ihm nicht, den Führerbefehl auszuführen, kann er gleich ganz in den Niederlanden bleiben.

      15 Uhr. Aus Richtung Venlo kommt ein großer grauer Wagen, nähert sich rasch der Grenze. Dr. Schemmel ist schon aufgesprungen, dann sieht er, daß es kein Buick ist. Einen Moment lang fürchtet der Agent, seine Kidnapper könnten sich die falschen Insassen greifen, aber der Sturmbannführer hat aufgepaßt. Er hat ja seine Grenzerfahrung; aber es ist wohl leichter, im eigenen Land Wehrlose zu töten, als sich Bewaffnete jenseits der Grenze lebend zu greifen.

      15.08 Uhr. Der Buick hat das holländische Stadthuis passiert und rollt an pittoresken Giebelhäusern aus dem XVI. Jahrhundert vorbei. Major Stevens setzte sich durch. Mit Rückendekkung aus London. Es ist, als wollte der erfahrenste Geheimdienst der Welt in dieser Sache keinen Fehler auslassen: Die SIS-Offiziere sind unbegleitet. Vier Mann in einem Wagen, so daß im Falle eines Überfalls bei der Gegenwehr einer den anderen behindern wird.

      Die Briten lassen sich von dem holländischen Leutnant Klop in der Öffentlichkeit begleiten, obwohl das ihren Gegenspielern die Chance gibt, ein Zusammenspiel der neutralen Niederländer mit den kriegführenden Engländern zu beweisen. Und sie fahren in unmittelbare Nähe der Grenze, obwohl man ihnen mitteilte, daß Dr. Schemmels Begleiter durchaus nicht wie ein deutscher General aussieht. Aber wie sieht ein deutscher General aus? Außerdem gibt es unter Hitler Offiziere unter 30, die diesen Rang bekleiden.

      15.14 Uhr. In scharfer Fahrt prescht der graue Buick über die Landstraße, schwenkt mit quietschenden Bremsen zum Grenzcafé ein. Dr. Schemmel und sein Begleiter springen auf und laufen den Holländern entgegen.

      Gleichzeitig setzt sich hinter der deutschen Grenze der Kommandowagen in Fahrt. Er rollt langsam auf die Beamten der holländischen Seite zu.

      Plötzlich tritt der Fahrer das Gaspedal durch.

      Die Uniformierten springen zur Seite, um nicht überfahren zu werden.

      Das schwere Gefährt nimmt Kurs auf den Buick, als wollte es ihn rammen.

      Der englische Fahrer versucht, seinen Wagen herumzureißen. Zu spät. Captain Best verliert sein Monokel. Major Stevens wird bleich. Leutnant Klop springt aus dem Wagen, reißt die Pistole hoch, zerschießt die Windschutzscheibe.

      Gleichzeitig ballern deutsche MPs auf. Der Holländer faßt sich mit beiden Armen an den Oberkörper, knickt in den Knien ein, knallt dann kopfüber auf den Boden. Querschläger zischen über die Köpfe der Grenzbeamten hinweg.

      Bis die verblüfften Holländer dazu kommen, ihre Waffen zu entsichern und gezielt zu schießen, ist der Spuk bereits zu Ende.

      Schellenberg und Müller-Wagenknecht erreichen ihren Wagen und jagen unter Feuerschutz zur deutschen Grenze zurück. Harte Fäuste zerren Stevens und Best aus dem Buick, halten sie fest wie im Schraubstock, als das Kidnapper-Gefährt entkommt – erst jetzt erfassen die Holländer voll das Gangsterstück.

      Leutnant Klop stirbt in Düsseldorf auf dem Operationstisch. Stevens und Best werden in das KZ Sachsenhausen bei Berlin eingeliefert. Der Reichsrundfunk feiert Orgien: »Attentäter von München 18 Stunden nach dem Anschlag gefaßt«, überschlägt sich die Propaganda.

      Zwei der wichtigsten Geheimnisträger des Secret Service befinden sich in den Händen von rsha-Männern, denen man nachsagt, sie brächten Steine zum Reden. In München erleidet das zuerst Georg Elser; sie drehen ihn durch die Mangel, zunächst mit brutalen, dann mit subtilen Methoden. Als sich Gestapo-Müller, der kahlgeschorene Chef der Schläger- und Schlächtertruppe, die Fingerknöchel an dem geständigen Attentäter des Bürgerbräukellers wundgeschlagen hat, übernehmen ›Fachärzte‹ seine Arbeit: Sie pumpen Elser mit Pervitin voll, erzeugen einen künstlichen Redeschwall. Der Mann in den Händen seiner Feinde schwäbelt darauflos, erzählt, was immer sie hören wollen, doch kein Wort über eine Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst. Auch unter Hypnose bleibt der Verhaftete ein Alleintäter. Widerwillig kommen Gestapo-Müller und Heydrich zu der Ansicht, daß er die Wahrheit sagt.

      Himmler schreibt an den Rand des Protokolls: »Welcher Idiot hat diese Vernehmung geführt?« Er greift selbst ein.

      Der Bluthund des Dritten Reiches, der sonst kein Blut sehen kann, trampelt in Münchens Wittelsbacher Palais, dem Sitz der Gestapo-Leitstelle, auf dem gefesselten Elser herum, schlägt ihn mit der Peitsche. Seine Fäuste wuchten dem Wimmernden ins Gesicht. Er tritt den Aufschreienden in die Hoden, dreimal, viermal.

      »Reichsführer, bringen Sie den Mann nicht um«, sagt einer der Gestapo-Spezialisten: »Er wird noch gebraucht.«

      Das Geständnis, das Hitler haben will, um Major Stevens und Captain Best in einem Schauprozeß der deutschen Öffentlichkeit vorzuführen, ist nicht zu beschaffen, weil es keinen Zusammenhang zwischen Elser und den SIS-Offizieren gibt. Das ist für die Engländer kaum ein Lichtblick. Die Katastrophe, die ihnen widerfuhr, könnte nicht schlimmer sein. Zwar ist an Härte, Loyalität und Patriotismus der Entführten nicht zu zweifeln, aber London muß damit rechnen, daß die Gestapo nach und nach alle Informationen über das britische Agentennetz in Deutschland aus ihnen herauspressen wird.

      Hitler läßt sich täglich über den Gang der Vernehmungen berichten. Er will Resultate sehen, deshalb werden die Methoden so verschärft, daß Major Stevens versucht, sich das Leben zu nehmen, vergeblich. Von nun an wird er, ebenso wie Best, im KZ Sachsenhausen mit Ketten an Eisenringe geschmiedet.

      Keine Frage: Zu diesem Zeitpunkt, da England dringend Nachrichten aus Hitler-Deutschland benötigt, ist das Netz aufgeflogen. Soweit sich die englischen Agenten nicht von sich aus absetzen, müssen sie zurückgerufen werden.

      Der Chef des holländischen Geheimdienstes wird in die Wüste geschickt. Auch in London kommt es zu Umbesetzungen. M.I.-6 setzt Captain Howard Preston, einen der fähigsten Untergrundoffiziere, als Konkursverwalter in Deutschland ein; er soll vor Ort feststellen, ob einzelne Zellen noch zu retten sind.

      Der Experte muß gleich einem Krebschirurgen »weit im Gesunden« schneiden, ohne Gewähr, daß die amputierten Glieder jemals wieder zu ersetzen sein werden.

      Hinter verschlossenen Türen spricht man in London von nun an von einem Venlo-Komplex. Tatsächlich handelt es sich bereits um ein Venlo-Syndrom, damit ist gemeint, daß sich Fachleute von Außenseitern hereinlegen lassen, daß sie echten Oppositionellen mißtrauen und auf SS-Agenten hereinfallen, und das Schlimmste von allem, daß die Arbeit an der unsichtbaren Front grellem Tageslicht ausgesetzt wird.

      Alle Aktivitäten des weitverzweigten englischen Geheimdienstes münden in die Anstrengung, die blamable Scharte wieder auszuwetzen und dem Reichssicherheitshauptamt die größte Niederlage, die der Secret-Intelligence-Service jemals während des Zweiten Weltkriegs hinnehmen mußte, heimzuzahlen. Zunächst freilich müssen die SIS-Offiziere ihre Revanche auf die lange Bank schieben und ums schiere Überleben kämpfen.

      Das Jahr 1940 bringt den verschobenen Blitzkrieg im Westen. Zuerst das Fiasko in Dänemark und Norwegen; dann die Überrumpelung Hollands, Luxemburgs und Belgiens. Dünkirchen. Den Fall von Paris. Die Kapitulation Frankreichs. England steht allein und muß mit einer deutschen Invasion rechnen.

      Streng geheim untersucht man bereits, ob und wie der Krieg nach dem Fall der Insel von Kanada und den Kolonien fortgesetzt werden könnte. Joseph Kennedy, der Botschafter des US-Präsidenten Roosevelt in London, warnt Washington vor der Unterstützung der britischen Vettern, da er es für zweckdienlicher hielte, den Deutschen die Waffen gleich direkt zu liefern, da sie ihnen in England ohnedies in die Hände fallen würden.

      Am 15. August beginnt die Luftschlacht um England; sie wird entscheiden, ob die Verteidigungskraft der Engländer größer ist als der Defätismus des amerikanischen Botschafters.


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