Mein Freund Jim. W. E. Norris
wiederholen, und auch in den zwei folgenden Jahren von Zeit zu Zeit da erschien, wo eine Schar Gleichgesinnter stets bereit war, ihn willkommen zu heissen, und wo sein Erscheinen jedesmal zu einem Ringkampf von ungewöhnlicher Ausdehnung das Zeichen gab. Am andern Tag kehrte Bracknell nach London zurück und überliess es dem armen Jim, den hohen Würdenträgern des Kollegs die Stirn zu bieten, die ihn jedoch meist glimpflich behandelten. Ich bilde mir ein, dass sie so gut wie wir wussten, dass Jim dazu erlesen war, in jeder Lage der Sündenbock zu sein; und überdies war es keinem nur halbwegs fühlenden Menschen gegeben, mit Jim Leigh hart zu verfahren.
Hie und da erhielt Jim einen Tag Urlaub, um nach London zu gehen, von wannen er jedesmal etwas blass und angegriffen, aber hoch entzückt über die Gastfreundschaft des vierten Garderegiments zurückkehrte, dessen Treiben seiner Schilderung nach ein überaus fröhliches war. Ich kann darüber aus eigner Erfahrung nichts berichten. Weder forderte Bracknell mich auf, ihn in London zu besuchen, noch nahm ich an den vorerwähnten Ringkämpfen Anteil. Einmal war ich ein Bücherwurm, und zweitens konnte ich mich der Gefahr, zu verwildern und meiner Mutter Herz dadurch zu brechen, nicht aussetzen. Jim war, wie schon gesagt, Waise, und das Schlimmste, was ihm widerfahren konnte, war deshalb lange nicht so bedenklich.
Mit einundzwanzig Jahren trat er vorschriftsmässig den Besitz seines Gutes und seines Vermögens an, wonach er sich jährlich auf etwas über fünftausend Pfund stellte, so dass er in des Wortes vollster Bedeutung unabhängig war. Seinem Wunsch gemäss blieben jedoch sein Onkel und seine Tante, die Elmhorst während seiner Minderjährigkeit verwaltet hatten, dort wohnen bis zu seiner Verheiratung, einem Ereignis, das ich allen Grund hatte, für nahe bevorstehend zu erachten. Die Sache war freilich ein tiefes Geheimnis — ich war eingeweiht, weil Jim von unsrer ersten Kindheit an kein Geheimnis vor mir hatte. Ausser mir ahnte keine Menschenseele von seinen Hoffnungen — am allerwenigsten die, welche der Gegenstand derselben war.
Ich wünschte sehnlich, mit vollkommener Unparteilichkeit über Hilda Turner sprechen zu können; wäre ich dessen fähig, so würde ich dem Leser wahrscheinlich einen weit günstigeren Begriff beibringen von einem Wesen, das ihn, wenn er ihr im Leben begegnete, zweifellos bezaubern würde, wie es den meisten geschah, ja, in das er sich vielleicht verlieben würde, was so vielen passierte. Aber ich muss ehrlich bekennen, dass dies Mädchen mir immer unerträglich war, und dass mein Zeugnis also nur als das eines sehr zu ihren ungunsten voreingenommenen Zeugen zu betrachten ist. Dennoch gestehe ich ohne Widerstreben zu, dass sie hübsch war, wenn auch keine regelmässige Schönheit, und dass ihr Wesen einen grossen Reiz besass, wenn auch nicht für mich. Sie war eine jener Blondinen mit blendend weissem Teint und rosig angehauchten Wangen, jenem Teint, der sich bis in ein hohes Alter frisch und faltenlos erhält. Man belehrt mich, dass die letztere beneidenswerte Eigenschaft der Dicke der Epidermis zu verdanken ist, und ich habe mich zuweilen des Gedankens nicht erwehren können, dass solche Menschen auch ein gewisses Mass von moralischer Dickhäutigkeit besitzen, welches zur Erhaltung der jugendlichen Glätte das seinige beitragen mag — ich will diese Behauptung aber nicht allzu ernsthaft aufrecht erhalten. Hilda hatte goldblondes Haar und blaue Augen, und wenn Zähne wie die ihrigen häufiger vorkämen, müssten die Herren Zahnärzte sich nach einem andern Beruf umsehen. Trotz alledem hatte ihr Gesicht Mängel genug, wenn man sich einmal ans Kritisieren machte; ihre Nase zum Beispiel war zu kurz, ihr Kinn zu breit und ihre Lippen ein wenig zu dünn. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich diese Fehler einmal hervorhob, mir kopfschüttelnd bemerkte, dass ich kaum jemals eine Frau finden werde, wenn ich absolute Vollkommenheit verlange — Thatsache ist, dass ich bis auf den heutigen Tag unverheiratet bin, wenn auch freilich nicht aus diesem Grunde; aber ich bin überzeugt, dass selbst meine Mutter es vorzöge, mich als Hagestolz sterben zu sehen, als dass ich mich in Hilda Turner verliebte.
Vermutlich hat es seit Welterschaffung keinen schlechteren Menschenkenner gegeben als mein gutes Mütterlein. Teils rührte dies wohl davon her, dass sie von der Nachtseite der menschlichen Natur wenig zu sehen bekam — sie war fast seit meiner Geburt gelähmt und unfähig, einen Schritt zu machen — teils von ihrem unerschütterlichen Glauben an die Weisheit und Gnade einer alles lenkenden Vorsehung, der sie an jeglichem Ding die beste Seite herausfinden lässt, sogar an ihrem eignen Leiden — dazu kommt noch ihre gut und glücklich angelegte Natur, die sie, glaube ich, völlig ausser stand setzt, sich von bewusster Bosheit einen Begriff zu machen, und die sie die Menschen erblicken lässt, wie sie sie haben möchte, und nicht, wie dieselben wirklich sind. Aber trotzdem gab sie mir bei einer Gelegenheit äusserst zögernd und mit vielen Umschweifen zu verstehen, dass sie fürchte, dass Hilda Turner nicht ganz aufrichtig sei. Was ihr Veranlassung gegeben, dies furchtbar harte Urteil auszusprechen, konnte ich ihr nicht entlocken, aber ich vermute, dass sie die junge Dame bei einer unzweideutigen Lüge ertappt hatte. Ich hätte ihr versichern können, dass dies kein vereinzelter Fall gewesen, aber wenn ich es vermeiden kann, sie in dieser Richtung aufzuklären, thue ich es, weil die einzige Wirkung einer derartigen Mitteilung ist, ihr weh zu thun.
Wenn sie über Hilda einige Zweifel hegte, so hatte sie in Bezug auf deren Vater durchaus keine — er war der Ortsgeistliche, und meine Mutter sprach nie anders von ihm, als von „dem guten Mr. Turner“. Der gute Mr. Turner war ein absoluter Dummkopf, aber harmlos. Er machte sich mit seiner Gemeinde hie und da zu schaffen, arbeitete ein weniges, hielt uns Predigten, die wenigstens den Vorzug der Kürze hatten, und war von einem passiven Wohlwollen. Hilda herrschte über ihn — ich will nicht gerade sagen mit eiserner Rute, denn eine solche Waffe war in so zarter Hand undenkbar, aber sie beherrschte ihn vollständig.
Da unsre Nachbarschaft keine sehr zahlreiche war, kannten die paar Familien sich natürlich genau. Hilda, Jim und ich waren von klein auf Spielgefährten gewesen, und wenn Lord Staines auf seiner Besitzung anwesend war, verkehrten Bracknell und seine Schwester ebenfalls viel mit uns. Nach Lady Staines’ Tod stand das grosse Herrenhaus jedoch häufig leer, denn Lord Staines hielt sich in London, Schottland, Newmarket oder an irgend einem jener Orte auf, wo er sein Geld zu verschwenden liebte, und nur in langen Zwischenräumen kam die stille, kleine Lady Mildred mit ihrer Erzieherin und einer der Tanten, die sich ihrer annahmen, aufs Land. Sie war ein wohlerzogenes kleines Mäuschen, mit glänzenden braunen Augen, die weit mehr sahen, als man gewöhnlich voraussetzte, und dem besten Herzen von der Welt; da sie aber ziemlich schüchtern war und ihre Ansicht gewöhnlich für sich behielt, nahm niemand viel Notiz von ihr. Sie und Hilda galten für Freundinnen, obwohl kaum eine wirkliche Zuneigung zwischen ihnen bestanden haben kann, und als Hilda achtzehn Jahre alt war, hatte Lady Petworth, Mildreds Tante, die Gutmütigkeit, dieselbe für die Ballsaison nach London einzuladen und bei Hof vorzustellen.
„Ich bin froh,“ pflegte Mr. Turner in seiner bedächtigen, ehrlichen Weise zu sagen, „dass meine gute Hilda ihre Beziehungen zu Lady Mildred immer frisch erhalten hat. Ich habe sie darin bestärkt,“ (er glaubte vielleicht wahr und wahrhaftig, dass seine Wünsche irgend welchen Einfluss in dieser Frage gehabt hätten!) „weil ein gebildeter, feiner Umgang für die Jugend nur förderlich sein kann, und weil ich es für wünschenswert halte, dass Hilda einigermassen in die — nun eben in die beste Gesellschaft kommt.“
Ohne Zweifel hielt auch Hilda dies letztere Resultat ihres Verkehrs mit Lady Mildred für äusserst wünschenswert. Was den gebildeten Umgang betraf, so hätte sie diesen Zwang wohl mit Vergnügen abgeworfen.
Ich weiss nicht, ob es nach Miss Turners Einführung in die „beste Gesellschaft“ war, dass Jim die Entdeckung machte, dass er bis über die Ohren in sie verliebt sei, aber es war etwa um jene Zeit, dass er mich zu meinem Leidwesen, aber nicht zu meiner Ueberraschung, von seinem Herzenszustand in Kenntnis setzte. Aber erst mehr als ein Jahr später, nachdem wir beide Oxford verlassen hatten, kam die Sache zu einer Krisis. Bis dahin waren Jims Aufmerksamkeiten höchst bescheidener und schüchterner Natur gewesen; er hatte eine sehr geringe Meinung von seiner persönlichen Anziehungskraft und litt lieber die Qual der Ungewissheit, als dass er sich der Gefahr einer Zurückweisung aussetzte. Zu diesem Zögern trug ich meinerseits auch ein gut Teil bei, denn ehrlich gestanden, ich dachte mir, es müsste in den Sternen geschrieben sein, dass eine so bezaubernde junge Dame wie Hilda in London jemand begegnen würde, dessen Anspruch auf ihr Interesse grösser wäre, als der des armen Jim. Es war dies aber nicht der Fall — fünftausend Pfund jährlich ist kein sehr glänzendes Einkommen, aber wenn man sich die Mühe gibt, seine Bekannten Revue passieren zu lassen, so wird man finden,