Mein Freund Jim. W. E. Norris
Zeit höchst vergnüglich mit Lady Mildred von Kindheitserinnerungen, und nur hie und da ruhten seine Blicke mit einem fast komischen Ausdruck von Stolz und Liebe auf Hilda; ohne Zweifel dachte er, wie unendlich gut es von ihr sei, sich so viel Mühe mit der Erheiterung des alten Herrn zu geben. Der Herr Pfarrer und ich verzehrten unsre Mahlzeit, die nebenbei vorzüglich war, ohne dass irgend jemand sich um uns gekümmert hätte.
Als wir später im Salon wieder bei einander waren, wurde Lord Staines abermals ernst und schweigsam — die Sorge mochte wohl wieder die Oberhand gewonnen haben. Er brachte eine undeutliche Entschuldigung hervor und schlich sich davon — vielleicht versuchte er noch einmal, Ausgaben und Einnahmen in Einklang zu bringen. Lady Mildred hatte Jim Photographieen zu zeigen — möglich dass er sich wirklich so sehr für dieselben interessierte, als es den Anschein hatte, vielleicht war es auch nicht der Fall. Mr. Turner würdigte in Ermanglung bessrer Zuhörer mich, seine Gedanken über weltliche Erziehung zu vernehmen, und während er mir dieselben in einiger Ausführlichkeit entwickelte, beobachtete ich, dass es genau so kam, wie ich erwartet hatte. Bracknell setzte sich auf ein Sofa neben Hilda, die ihren Fächer in die Hand nahm und ihn mit einem halb übermütigen, halb aufmunternden Seitenblick empfing. Er redete sie halblaut an, der Ton klang vorwurfsvoll: vermutlich drang er in sie, ihr zu gestehen, weshalb sie ihn mit so auffallender Kälte behandelt habe, denn plötzlich vernahm ich ein leises Auflachen und die Antwort: „An Ihrer Stelle, Lord Bracknell, würde ich die Frage unerörtert lassen. Wenn nicht, so darf ich mir vielleicht Ihre Lesart gewisser Anekdoten ausbitten, die ich in London über Sie erzählen hörte.“
„Was für Anekdoten?“ versetzte er eifrig. „Verlassen Sie sich darauf, es war kein wahres Wort daran. Sie werden doch auf solchen Klatsch keinen Wert legen?“ Und so weiter, und so weiter.
Das Zwiegespräch wurde nun mit so gedämpften Stimmen fortgesetzt, dass die Beredsamkeit des Herrn Pastors, der sehr nahe neben mir stand und seinen Worten durch gelegentliches Betippen meiner Weste mit seinem Zeigefinger Nachdruck verlieh, dasselbe meinem Gehör entzog. Ich war aber nicht einmal neugierig, mehr zu hören, eher möchte ich wissen, wie oft dieser Dialog wörtlich so wiederholt worden ist, seit die Welt steht, und wie oft er sich noch wiederholen wird? In der Regel dauert es etwa fünf oder zehn Minuten, bis die Dame ein unumwundenes Bekenntnis als Vorbedingung einer etwa möglichen Absolution begehrt, und dann sagt ihr der Mann — nun, vermutlich sagt er ihr zuweilen die Wahrheit, obwohl dies zu den Ausnahmefällen zählen wird. Was Bracknell Hilda sagte, nachdem sie sich langsam auf die offne Balkonthüre zu bewegt hatten und durch dieselbe verschwunden waren, kann ich mir schwer vorstellen, ist aber auch ganz unwesentlich. Was ich dagegen weiss, ist, dass sie nicht viel weniger als eine Stunde unsichtbar blieben, dass Jim lange vor Ablauf dieser Zeit unruhig wurde und dass Lady Mildred ängstlich dreinsah, dass Mr. Turner den Schlaf des Gerechten schlief und dass der bescheidene Chronist vollständig erschöpft war von seinen verzweifelten Anstrengungen, ein Gespräch in Gang zu erhalten, das nach jedem Versuch sofort aufs neue erstarb.
Endlich erschien Lord Staines wieder. Sein Haar sah sehr zerwühlt aus, woraus ich schloss, dass er immer noch kein Rechnungsverfahren entdeckt hatte, vermittelst dessen man die grössere Summe von der kleineren abziehen kann, und wenn ich mich nicht täusche, so lag ihm bei unserm Anblick der Ausruf: „Wie, noch da?“ stark auf der Zunge. Er war aber ein viel zu höflicher Mann, um so etwas laut werden zu lassen, und machte artig Konversation, bis Bracknell und Hilda wieder erschienen, was von ihrer Seite aus ohne das leiseste Zeichen von Verlegenheit geschah. Der alte Turner erwachte nun plötzlich, rieb sich die Hände und versicherte, dass sie einen reizenden Abend verlebt hätten, nun aber den Wagen nicht länger warten lassen könnten, worauf wir einander gegenseitig mit grosser Lebhaftigkeit gute Nacht wünschten und aufbrachen.
Jims Dogcart war da, und er hatte versprochen, mich heimzufahren; als ich aber im Vorsaal nach meinem Ueberrock griff, trat er zu mir und sagte: „Macht es dir etwas aus, noch eine Viertelstunde zu warten, Harry? Ich möchte mit Bracknell eine Cigarre rauchen.“
Natürlich erwiderte ich, dass ich ganz damit einverstanden sei, und wir begaben uns ins Rauchzimmer, wohin Lord Staines uns nicht folgte. Ich glaube, einen so unentwegt auf sein Ziel lossteuernden Menschen wie Jim gibt es nicht noch einmal; einige Umschweife zu machen und etwas auf den Busch zu klopfen, wie wir alle es mehr oder weniger thun, kommt ihm gar nie in Sinn. Wenn er irgend etwas auf dem Herzen hat, darf man ganz sicher sein, dass er keine Minute verlieren und nicht das geringste bei sich behalten wird. Seine Cigarre war kaum angezündet, so hatte er auch Bracknell schon alles so klar gemacht, dass keinerlei Missverständnis möglich war.
„Siehst du, Bracknell, alter Freund,“ sagte er, „ich wünsche nicht, dass du Hilda Turner den Hof machst. Wir sind alte Freunde, deshalb will ich dir ehrlich sagen, dass ich sie heiraten will, bitte dich aber, vorderhand noch mit niemand darüber zu sprechen.“
Es lag etwas in dieser Mitteilung, das Bracknell unwiderstehlich komisch berührte, und seine Heiterkeit war so unmässig und anhaltend, dass Jim sich schliesslich gezwungen sah, hinzuzufügen: „Es ist kein Spass!“
„O doch, es ist einer, mein guter Junge,“ versetzte der andre, immer noch lachend, „ein ganz famoser sogar, nur merkst du ihn nicht. Lass dir raten, Jim, und lass ab von dieser jungen Dame — zieh deine Hand zurück wie von einer heissen Kastanie. Das ist die Frau nicht für dich!“
„Mag sein,“ erwiderte Jim ruhig, „aber jedenfalls ist sie auch die Frau nicht für dich.“
„Sicherlich nicht! ‚Die Frau für mich‘, darunter verstehe ich eine Dame mit fünfzigtausend Pfund disponiblen Vermögens. Wünschenswert wäre es, dass sie mehr hätte, aber fünfzigtausend ist das unumgänglich nötige Minimum, das hat mir mein Alter auseinandergesetzt. Apropos, glaubst du eigentlich, dass die blonde Hilda dich erhören wird?“
Jim ward natürlicherweise rot, gab aber natürlicherweise zu, dass er dies hoffe.
„Nun, es kann wohl sein. Fünftausend im Jahr ist in diesen harten Zeiten nicht zu verachten, und so viel bist du unter Brüdern wohl wert, nicht?“
Jim stand auf und lehnte sich mit dem Rücken ans Kamin. „Weisst du, Bracknell,“ sagte er, „ich kann deine Art zu sprechen nicht leiden. Ich bin überzeugt, dass du mir nicht weh thun willst, aber es ist mir peinlich, von Hilda sprechen zu hören als ob —“
„Als ob sie ein Weib wäre wie die andern. Gut, gut, Jim, ich will deine Gefühle in Zukunft schonen, und ich denke, ich will auch Miss Turner nicht heiraten, danke sehr. Darf ich zuweilen mit ihr sprechen, oder ist es dir lieber —“
„Natürlich darfst du das!“ versetzte Jim vollkommen ernsthaft. „Wenn du mir versprichst, dass du ihr nicht den Hof machen willst, so bin ich ganz zufrieden. Du musst ja selbst einsehen, wie ich’s meine. Wenn du anfängst, Hilda oder einem andern Mädchen Aufmerksamkeit zu schenken, so ist für mich alles vorbei, das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Ich bin nicht hübsch und nicht geistreich, bin überhaupt gar nichts. Nicht einmal mit Harry Maynard würde ich’s riskieren, den Kampf aufzunehmen.“
Mit dieser der unwiderstehlichen Anziehungskraft seines Freundes dargebrachten Huldigung und der etwas beiläufigen Anerkennung meiner Liebenswürdigkeit setzte sich Jim wieder an seinen vorigen Platz.
Bracknell fühlte sich, wie ich glaube, einigermassen geschmeichelt und war vielleicht auch etwas gerührt, wovon ich jedoch weniger fest überzeugt bin. „Glück auf!“ sagte er. „Heiraten ist das Verkehrteste, was der Mensch thun kann, aber wenn er sich’s einmal in den Kopf gesetzt hat, ist nichts zu machen. Lass mich’s wissen, wenn das Ereignis stattfindet, mein Segen soll dir nicht fehlen.“
Es ist hie und da schwer zu sagen, bis zu welchem Grad man sich bei Menschen von Bracknells Art auf ihr Ehr- und Pflichtgefühl verlassen kann. Zweifellos gibt es Dinge, deren sie sich unter keinen Umständen gegen ihren Nebenmenschen schuldig machen würden, bei manch anderm Unrecht dagegen ist es nur eine Frage der Gelegenheit und der Versuchung. Der Wahrheit zu Ehren muss ich sagen, dass die Versuchung, in die Hilda den Erben von Staines Court während der folgenden Wochen versetzte, derart war, dass sie auch die stärkste Widerstandskraft zu erschüttern vermocht hätte. Ihre Taktik war nicht neu, aber die Anwendung derselben war raffinierter,