Mein Freund Jim. W. E. Norris

Mein Freund Jim - W. E. Norris


Скачать книгу
erwiderte er mit einem Seufzer, „das ist sonnenklar, meine ich. Und doch — ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass sie mich lieb gewonnen hätte, wenn Bracknell nicht gekommen wäre. Doch wozu nun all das Gerede. Ich denke, ich werde die paar nächsten Monate nicht hier sein — könntest du dich nicht entschliessen, mit mir in die Schweiz zu gehen, und dann vielleicht den Winter in Italien zuzubringen?“

      Ich erinnerte ihn daran, dass ich kein unabhängiger Mensch sei, und dass ich meinen Winter in der bedeutend weniger reinen Atmosphäre der Gerichtssäle zubringen werde, redete ihm aber eifrig zu, den Reiseplan auszuführen. Er war so reich an Freunden, dass er schwerlich lange ohne Gefährten bleiben würde. Ich fürchte, er fand mein Mitleid etwas kühl, und es kostete mich auch die grösste Ueberwindung, ihn nicht zu seiner Rettung zu beglückwünschen.

      Plötzlich sagte er, dass er meiner Mutter guten Morgen sagen möchte, wenn sie wohl genug sei, ihn zu empfangen, und ich hütete mich, ihn zu ihr zu begleiten. Von dieser Seite konnten alle, die an Leib oder Seele betrübt und zerschlagen waren, auf warme Teilnahme oder gar Trost rechnen, und als Jim nach einer halben Stunde von ihr wegging, stand so viel weniger Lebensüberdruss auf seinem Gesicht zu lesen, dass ich Angst bekam, meine Mutter möchte so unvorsichtig gewesen sein, ihm zu einem erneuten Versuch zu raten; dem war aber nicht so.

      „O nein,“ sagte er ruhig, als ich ihn darüber ausforschte, „sie hat mir gar keine Hoffnung gemacht. Sie war aber riesig gut gegen mich, und ich glaube, sie hat recht: ich werde einmal damit fertig werden. Wenn nur Bracknell ein bisschen ehrlicher gegen mich gehandelt hätte.“

      Das schien mir die vernünftigste Art und Weise, sein Leid aufzufassen, und als ich ihn die Treppe hinabgeleitete, sagte ich mir, dass die Wunde vielleicht nicht so gefährlich sei, als ich mir vorgestellt. Ich öffnete die Hausthüre und wen fanden wir vor derselben, Jims Pferd streichelnd und sich liebenswürdig mit dem Reitknecht unterhaltend — wen anders als Miss Hilda Turner in Person!

      Jim erschrak heftig, während ich sie im stillen zu allen Teufeln wünschte, denn dass sie nicht ohne bestimmte Absicht in dieser auffallenden Weise aussen gewartet hatte, stand bei mir fest.

      „Weshalb sind Sie nicht hereingekommen?“ fragte ich ziemlich scharf. „Sie wollten doch wohl meine Mutter besuchen, nicht?“

      „Gewiss,“ erwiderte sie mit vollständiger Ruhe, ohne im geringsten die Farbe zu wechseln; „als ich aber Jims Pferd sah, beschloss ich, auf ihn zu warten und Mrs. Maynard ein andermal zu besuchen, weil ich weiss, dass zwei Besuche zu gleicher Zeit sie ermüden. Jim, wenn Sie nichts andres vorhaben, so begleiten Sie mich vielleicht nach Hause.“

      „Grosser Gott, hat sie im Sinne, sich ihm anzutragen?“ fragte ich mich. Ich nahm mir die Freiheit, meine Augenbrauen sehr auffällig in die Höhe zu ziehen, aber ich fürchte, dass auch die kühnste gymnastische Leistung meiner Gesichtsmuskeln nicht im stande gewesen wäre, ihren Gleichmut zu stören. Sie hielt meinen Blick voll aus, und schliesslich war ich es, der die Augen senkte.

      Auf dem Gesicht meines einfältigen Jim kämpften Staunen, Zweifel und Freude. Was halfen all meine zahlreichen Rippenstösse und Grimassen? Ein Wink von Hilda und er wäre mit ihr bis ans Ende der Welt gepilgert. Ohne jedes Zögern wenigstens wandelte er, sein Pferd am Zügel führend, unsre kurze Avenue mit ihr entlang, und dann entschwanden sie meinen Blicken. Es bedurfte gerade keines zweiten Gesichtes, um so ziemlich zu wissen, was nun zwischen ihnen vorgehen werde, und ich kehrte zu dem hohen Studium der Rechte mit Ahnungen zurück, die sich nur zu bald bestätigen sollten. Eine Stunde später — ich hatte mich eben in das Prozessrecht versenkt und zermarterte mein Gehirn mit dem abgeschmackten Jargon von Repliken, Dupliken, Tripliken und Quadrupliken und derlei angenehmen Dingen — hörte ich jemand in gestrecktem Galopp aufs Haus zureiten, und unmittelbar darauf flog meine Thüre, wie von einer Dynamitpatrone gesprengt, auf, und da stand Jim — siegreich und triumphierend. Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, dass alles verloren sei.

      „Bitte erlass mir einen Gefühlsausbruch,“ sagte ich herb, „ich weiss alles!“

      „Na aber, mein alter Harry,“ versetzte er, „wie in aller Welt kannst du denn ‚alles‘ wissen?“

      „Wenigstens weiss ich, dass du mit Hilda Turner verlobt bist.“

      Seine Antwort bestätigte mir, dass er in dieser glücklichen Lage sei. „Und weisst du auch,“ fuhr er fort, „es ist wahr, dass sie — ach es ist ja so beseligend, dass ich’s kaum glauben kann, und doch ist mir, als ob ich es allezeit gewusst hätte — es ist wahr, dass sie von Anfang an mich geliebt hat.“

      „Da hat sie eben,“ konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken, „den wunderlichsten Weg gewählt, ihre Gefühle an den Tag zu legen, der mir je vorgekommen ist.“

      Jim aber erklärte: „Keineswegs; das ist eine Geschichte, wie sie hundertmal passiert, das weiss ja jeder. An allem ist meine dumme Schüchternheit schuld. Sie sagte sich natürlich, dass mir nicht viel an ihr gelegen sei, sonst würde ich mich ja aussprechen, und so nahm sie Bracknells Antrag an. Sie sei in einer Stimmung gewesen, in der sie jedes beliebigen Menschen Antrag angenommen hätte, sagte sie mir — und ich verstehe das vollkommen.“

      Dass mit einem solchen Tollhäusler zu streiten, hoffnungslos war, ist klar, trotzdem versuchte ich es zur Beruhigung meines eignen Gewissens.

      „Es scheint,“ sagte ich, „dass sie dich heute aufgesucht hat, um dir ihre Liebe zu bekennen. Wenn sie heute nicht zu stolz dazu war, weshalb in aller Welt hat sie es nicht schon vor ein paar Wochen gethan?“

      „Grosser Gott!“ stiess Jim hervor, „was für eine erbärmlich niedrige Meinung du von den Menschen hast. Mich aufgesucht! Ach, lieber Freund, wenn du nur wüsstest, wie schwer es war, ihr das Geständnis zu entreissen. Weshalb sie mich aufgesucht hat — das heisst, sie hat mich ja gar nicht gesucht — war, um mich um meine Vermittlung zwischen ihrem Vater und dem alten Lord zu bitten. Natürlich kamen wir dadurch auf Bracknell zu sprechen, und ich weiss nicht, wie es kam, aber ich konnte nicht anders, ich musste ihr sagen, wie ich sie geliebt habe, und dann gestand sie mir endlich, dass sie ihm ihr Wort nur aus Verzweiflung gegeben. Aber sie war sehr abgeneigt, mich zu erhören. O Harry, du ungläubiger Thomas, du kennst Hilda nicht; sie ist das süsseste Geschöpf auf der Welt.“

      Wenn dem so war, so kannte ich sie allerdings nicht, allein diese „Replik hätte mir nur eine „Duplik“ eingetragen, die zu widerlegen ganz aussichtslos gewesen wäre; ich begnügte mich also, so gut als möglich herzustammeln, was an passenden Worten von mir erwartet werden konnte, und sobald Jim das Zimmer verlassen hatte, flogen die verhassten Gesetzbücher in einen Winkel, womit ich meinem speziellen Abscheu gegen dieselben Ausdruck verlieh, sowie meinem Widerwillen vor einem Stand der Dinge, den zu ändern ich machtlos war.

      Viertes Kapitel.

      Es war von jeher mein Bestreben gewesen, die Sonne meiner Unparteilichkeit leuchten zu lassen über Gerechte und Ungerechte. Da ich mir schmeichle, meine eignen kleinen Schwächen so ziemlich zu kennen, und dringend wünsche, meine Tugenden vollauf anerkannt zu sehen, ist es nicht mehr als billig, dass ich auch bei denjenigen Menschen, die meinem Herzen nicht teuer sind, das Gute anerkenne, vorausgesetzt, dass ich bei mikroskopischer Untersuchung solches entdecke. So bin ich denn wirklich froh, zugeben zu können, dass, meiner Ansicht nach, Hilda Turner Jim so lieb hatte, als es überhaupt in ihrer Natur lag, einen Menschen zu lieben. Ich kann dies Zugeständnis um so eher machen, als dasselbe bei Licht betrachtet, nicht allzu vielsagend ist. Bei vollständig gleichen äusseren Verhältnissen, glaube ich, dass sie Jim den Vorzug vor Bracknell gegeben hätte; leider waren aber die Verhältnisse nicht gleich, denn Bracknell hatte den Titel eines Marquis zu erwarten, während Jim seiner Lebtage ein mässig begüterter Landedelmann bleiben musste. Bei alledem muss ich sagen, dass sie, nachdem die erste Saite gesprungen, mit grosser Anmut die zweite aufspannte. Ob sie, wie ich damals gemutmasst habe, ihre Verlobung so hastig in Scene setzte, um dem so sehr pflichtgetreuen Bracknell einen Schlag zu versetzen, oder ob sie von Jims beabsichtigtem Verschwinden Kunde bekommen hatte und ihn durch Aufschub ganz zu verlieren fürchtete, sicher ist, dass sie sich mit Würde und grosser Liebenswürdigkeit in dieser einigermassen peinlichen Situation benahm


Скачать книгу