Weiße Spuren. Fredrik Skagen
muss er sich endlich daran gewöhnen!« Tove nahm wie üblich kein Blatt vor den Mund. »Papa wird sofort erkennen, wie Unrecht er hatte. Wenn’s drauf ankommt, liebt er Hunde, genau wie du.«
»Schon, aber ...«
»Bearbeite ihn ein wenig. Mach ihm was Leckeres zu essen.«
»Eigentlich habe ich schon ...«
»Sei ein bisschen nett zu ihm, Mama!«
Janne musste lächeln. Als sie in Toves Alter war, wäre es undenkbar für sie gewesen, ihren Eltern einen Rat zu geben, was deren Zusammenleben betraf. »Ich werde heute Abend versuchen, mit ihm zu reden.«
»Versuchen? Tu es doch einfach. Du bist doch ganz verrückt auf solch einen Hund.«
»Versprochen.«
»Und du rufst mich dann an?«
»Versprochen.«
»Der Hundezüchter sagte, wir müssten uns schnell entscheiden«, fügte Tove rasch hinzu. »Die Welpen sind fast zwei Monate alt, und die Interessenten stehen schon Schlange!«
Nachdem Janne aufgelegt hatte, zündete sie sich eine Zigarette an. Sie wusste, dass die Tochter Recht hatte; sie wünschte sich wirklich einen Terrier, ein Tier, mit dem sie spazieren gehen konnte und das ihr Gesellschaft leisten würde, wenn Björn nicht zu Hause war. Er war den ganzen Tag von Kollegen umgeben und wusste einfach nicht, was es hieß, für sich allein zu arbeiten und nur eine Radiostimme zu hören, wenn sie sich am Vormittag etwas zu essen machte. Tove war ihr einziges Kind – weitere konnten sie nicht bekommen –, und Tove war ausgezogen. Jannes Vorschlag, einen ausländischen Jungen zu adoptieren, hatte bei Björn nie Gehör gefunden, und nun war es zu spät. Vielleicht lag dies an der Art und Weise, wie sie den Vorschlag gemacht hatte, vielleicht hätte er sich mit der Idee anfreunden können, wenn sie etwas behutsamer vorgegangen wäre. Sie rechnete zwar nicht gerade mit einem Wutausbruch von ihm, wenn ihm zu Ohren kam, dass Tove und sie hinter seinem Rücken über den Kauf eines Welpen sprachen, aber begeistert würde er gewiss nicht sein.
Andererseits, am heutigen Tag ... Hatte sie nicht das sichere Gefühl, heute sei alles möglich? Sie tröstete sich mit dieser Hoffnung und stellte den Computer an. Dort, auf dem grauen Monitor, besuchte Mrs Craig erneut den Pfarrer, der ihr – ohne seine geistliche Überzeugungskraft einzubüßen – berichten konnte, dass ihr Mann an dem Tag, an dem er eigentlich in London sein sollte, hinter einigen Rhododendrenbüschen des Dorfes mit der verschrobenen, vulgären Liza Smith beobachtet worden sei. Janne seufzte und begann das Abendessen vorzubereiten. Sie rieb die Saiblinge mit Salz, Pfeffer und Knoblauch ein, während sie dem Radio lauschte, legte sechs junge Kartoffeln in einen Kochtopf und stellte die Herdplatten an, goss Olivenöl in die Bratpfanne und vermischte es mit einem Stich Butter. Dann deckte sie den Küchentisch, wobei sie feststellte, dass sich die Radionachrichten im Lauf des Tages nicht geändert hatten. Die UNO übte scharfe Kritik am israelischen Krieg im Südlibanon. Sollte sie die letzte Flasche Weißwein aus dem Keller holen? Die Waffen einer Frau einsetzen, so wie Tove ihr geraten hatte? Nein, wenn ihr etwas widerstrebte, dann war es, sich auf diese Weise an ihn heranzumachen. Ach, wenn man noch einmal jung wäre, Toves nie versiegenden Elan und Optimismus besäße!
Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr über dem Herd. 16:15. Eines musste man Björn lassen. Er gab immer Bescheid, wenn er sich verspätete oder Überstunden machen musste. Normalerweise kam er um Viertel nach vier zu Hause an. Sie goss das Wasser ab, legte die Kartoffeln in eine Terrine und zog die Pfanne von der heißen Herdplatte. Trat ans Fenster und spähte über die Straße. Dann eilte sie die Treppen hinunter, schloss das Kellerabteil auf, griff nach der Weinflasche und kicherte. Um die Versuchung in Grenzen zu halten, hatten sie sich darauf geeinigt, ihren »Weinkeller« in möglichst weiter Entfernung von der Wohnung zu haben, doch offenbar war die Entfernung noch nicht groß genug. In der Küche kämpfte sie eine Weile mit dem Korken, bevor sie ihn herausgezogen hatte, zwei Weingläser holte und auf den Tisch stellte. Voilà!
Als sie das nächste Mal auf die Uhr blickte, war es Viertel vor fünf. Sie hob den Deckel von der Pfanne. Der Duft war betörend, doch die Bratkruste löste sich bereits vom Fleisch. Die Konferenz – oder die Konferenzen – dauerte natürlich länger als angenommen. Es war nicht so einfach, solch eine Sitzung zu verlassen, um zu Hause anzurufen, wenn man sich gerade in schweißtreibenden Verhandlungen über wichtige Einsatzpläne befand. Janne deckte anstelle des Küchentischs den Wohnzimmertisch und fand zwei gelbe Kerzen, die noch aus der Osterzeit stammten. Danach zündete sie sich eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster.
Als die Zeiger fünf Uhr passiert hatten, ging sie zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums. Sie wollte nicht stören, wollte auch gar nicht darum bitten, mit Björn zu sprechen, sondern nur wissen, ob er das Haus bereits verlassen hatte.
»Andersen, Zentrale.«
Sie kannte den Mann nicht. »Hier ist Janne Hatling.«
»Ja, bitte?«
»Können Sie mir sagen, ob Björn Hatling schon aus dem Haus ist?«
»Einen Augenblick.«
Im Hintergrund hörte sie aus dem Küchenradio Days of Wine and Roses. Sie stellte fest, dass sie die Zigarette in der Hand hielt und keinen Aschenbecher hatte.
»Hören Sie ...«, sagte Andersen.
»Ja?«
»Björn Hatling ist heute nicht zur Arbeit erschienen.«
Für einen Augenblick kam ihr das aufregende Gefühl der Vorfreude abhanden.
»Das muss ein Irrtum sein. Er ...«
»Nein, nein, ich habe die Personalliste vor mir. Er hat sich heute frei genommen. Abbau von Überstunden.«
Janne sah, wie sich die Asche von der Zigarette löste und auf den Teppich fiel. Doch nachdem sie aufgelegt hatte, wurde ihr klar, dass Andersen natürlich Bescheid wusste. Björn hatte sie an der Nase herumgeführt. Vorsätzlich, wie es nach kriminalistischer Terminologie hieß. Weil er etwas im Schilde führte. Etwas, das Zeit benötigte. Zu Hause würde er die Katze aus dem Sack lassen. Ihr wurde inwendig warm. Erneut dachte sie an das verschmitzte Blitzen in seinen blauen Augen, das stumme Einverständnis, das sich womöglich auf ihren Vorschlag bezog, einmal etwas ganz Besonderes zu unternehmen. Lieber Björn, ich liebe dich. Wirst du wieder der Alte? Die neu auflebende Spannung ließ ihr Herz schneller schlagen. Was konnte das nur sein, das einen ganzen Tag Vorbereitung benötigte? Streifte er durch die ganze Stadt, um ein neues Auto zu kaufen? Nein, der Mitsubishi Lancer war erst vier Jahre alt. Es musste sich um etwas ganz anderes handeln, etwas, das sie sich im Moment gar nicht vorstellen konnte. Ein Frühjahrskostüm? Ein neuer Laserdrucker für ihren Computer? Sie presste den Korken zurück in die Weinflasche und stellte sie in den Kühlschrank. Gestern Abend, als Björn vom Fußballplatz kam – er trainierte eine Jungenmannschaft –, hatte sie zu ihm gesagt: »Stell dir vor, wir würden im Mai zum Shopping nach London fahren.«
»Ja, das wäre was.«
Doch seine Stimme hatte nicht verraten, was er eigentlich von dem Vorschlag hielt.
Die Minutenziffern der Uhr über dem Herd wechselten langsam. Sie dachte an das Essen, das bald ungenießbar sein würde; die leckeren Tiefsee-Saiblinge unter dem Deckel, die mehr und mehr an graue Holzscheite erinnerten. Als die Uhr fünf Minuten vor sechs anzeigte, wurde ihr plötzlich klar, dass Björn, falls er wirklich eine Überraschung vorbereitete, mit Sicherheit angerufen, sie beruhigt und ihr versichert hätte, dass die Konferenz länger dauere als veranschlagt. Der Plan basierte doch darauf, dass sie seine eigentlichen Beweggründe nicht kannte. Oder rechnete er damit, dass ihr die Verzögerung nichts ausmachte, dass sie in Erinnerung an seine morgendlichen Signale – die Munterkeit, das Lächeln – die Ruhe bewahren würde, weil sie gewiss wäre, dass er vorhabe, mit etwas Besonderem aufzuwarten, wenn er endlich nach Hause kam?
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Auch Sir Patrick Craig konnte mit etwas Besonderem aufwarten: einer jungen Frau, von der Mrs Craig besser nichts erfuhr. Ach komm, Janne!
Wie