Weiße Spuren. Fredrik Skagen
konnte den ekelhaften Klumpen, der sich hoch oben in ihrer Brust bildete und das Atmen erschwerte, nicht loswerden. Sie beruhigte sich ein wenig mit dem Gedanken, dass Björns Vorhaben ihn womöglich an einen Ort geführt hatte, an dem es kein Telefon gab. Doch er hatte immer sein Handy dabei, wo er auch war. An einem Tag, der vermutlich ein Freudentag werden sollte, hatte er ihr sicher keinen Kummer machen wollen. Irgendetwas war faul.
Dann dachte sie plötzlich an Anne-Lise, die Freundin aus dem Lesekreis, die vor einigen Wochen spurlos verschwunden war, und für mehrere unerträgliche Sekunden sah sie Björn vor sich, als leblose, übel zugerichtete Gestalt in einem Autowrack. Kalter Schweiß brach ihr aus, und sie fragte sich, ob sie das Kreiskrankenhaus anrufen sollte. Danach zwang sie sich zu einem selbstironischen Lächeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf solche Gedanken kam. Wenn Björn nicht zur gewohnten Zeit nach Hause kam – früher, bei Tove, war es genauso gewesen –, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Genau wie jetzt war sie dann ruhelos durch die Wohnung getigert, während die Angst von ihr Besitz ergriff. Hatte sich den wildesten Spekulationen hingegeben und nach den makabersten Erklärungen gesucht. Nachher, wenn die kleine Familie beisammen war und sich gezeigt hatte, dass wieder einmal ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war, sah sie ein, wie dumm sie sich verhalten hatte, und nahm sich vor, nie mehr der schrecklichen Intuition zu vertrauen, die sie erneut getäuscht hatte. Obwohl sie dies alles nur zu gut wusste, nahm der Klumpen in ihrer Brust solche Dimensionen an, dass sie das Gefühl hatte, er könne sie in Stücke reißen. Und es kam der Augenblick, in dem die ursprüngliche Vorfreude in blanke Wut umschlug, die sich gegen Björn richtete.
Warum, zum Teufel, rufst du nicht an?
Nach den Fernsehnachrichten entschloss sie sich, doch im Krankenhaus nachzufragen. Doch als sie den Hörer in der Hand hielt, wählte sie stattdessen die Durchwahl zu seinem Büro. Sie ließ es sieben Mal klingeln, bevor sie auflegte und erneut die Zentrale anrief.
»Andersen, Zentrale.«
»Hier ist noch mal Janne Hatling.«
»Ja?«
»Sind Sie ganz sicher, dass Björn nicht im Haus ist? Er sprach von einer wichtigen Konferenz über die neuen Einsatzpläne.«
»Die war, glaube ich, gestern – aber warten Sie kurz. Ich schaue mal nach.«
Gestern? Sie spürte, dass ihr die Situation zunehmend peinlicher wurde, dass ihr die Röte ins Gesicht schoss. Nur gut, dass dieser Andersen sie nicht sehen konnte. In der Kongens gate würde sie bald zum Gespött werden, wenn bekannt wurde, dass sie hinter ihrem Mann hertelefonierte, weil er sich um ein paar Stunden verspätete. Gleichzeitig tat sie alles dafür, die Riesenüberraschung, die er für sie plante, zunichte zu machen.
Doch wenn die Konferenz wirklich gestern stattgefunden hatte? Wenn es etwas ganz anderes war, das Björn zu verbergen versuchte?
Dann dachte sie abermals an sein Lächeln und die Hand, die ihr fröhlich zugewinkt hatte. Kam sich wie eine Idiotin vor, als sie Andersens Stimme hörte:
»Sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Die Konferenz war tatsächlich gestern.«
»Das heißt?«
»Das heißt«, wiederholte der Beamte am anderen Ende, »dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.«
»Entschuldigung.«
Sie legte auf und griff sich mit der Hand, die den Hörer gehalten hatte, an den Hals. Jetzt drückte der Klumpen direkt gegen die Kehle.
Warum in aller Welt meldete er sich nicht und entschuldigte sich für die Verspätung?
In den nächsten Sekunden betete sie zu Gott und flehte, Björn solle anrufen. Dann begann sie in der Wohnung auf und ab zu gehen und sich den Kopf zu zerbrechen, welche Personen etwas von seinem Aufenthaltsort wissen konnten. Auf keinen Fall jemand aus der Familie. Björns Eltern waren tot und sein einziger Bruder wohnte in Lillehammer. Enge Freunde? Natürlich hatten sie Freunde, aber nicht gerade viele, die ihnen wirklich nahe standen. Nach einer weiteren Zigarette griff sie erneut zum Telefon und tat etwas, das sie nie zuvor getan hatte: Sie rief im Krankenhaus an, sagte ihren Namen, wurde mit der Notaufnahme verbunden und fragte, ob eine verletzte Person namens Björn Hatling eingeliefert worden sei, ein siebenundvierzigjähriger Mann mit rotem Haar und ebensolchem Schnurrbart. Eine freundliche Stimme versprach sich zu erkundigen. Während sie wartete, musste sie dem abstoßenden Summen kühler Stimmen und klirrender Geräusche lauschen, als sei sie irrtümlich mit dem Operationssaal verbunden worden, in dem sich Chirurgen in grünspanfarbenen Kitteln über einen Patienten beugten und versuchten, dessen Leben zu retten. Es verging eine Ewigkeit. Dann hörte sie ein Klicken und die Verbindung war unterbrochen. Wütend wählte sie Nummer noch einmal und bekam dieselbe Frau an den Apparat. Sie entschuldigte die Unterbrechung und teilte ihr mit, dass in den letzten zwölf Stunden niemand mit dem Namen Hatling eingeliefert worden sei.
Diese Mitteilung ließ Janne aufatmen. Das Schlimmste war nicht eingetreten. Björn war immer noch am Leben, irgendwo in oder bei Trondheim. Jetzt musste sie sich einfach zusammennehmen, sich beruhigen und alle Gedanken an ein spurloses Verschwinden, von dem sicher keine Rede sein konnte, beiseite schieben. Es gab immer vernünftige Erklärungen. Immer. Hatte sie etwas vergessen? Hatte Björn eine Nachricht auf einem Zettel hinterlassen, der hinter den Kühlschrank gerutscht war? Oder glaubte er, etwas gesagt zu haben, war aber in Wirklichkeit nicht dazu gekommen? Hatte er jemand gebeten, ihr etwas auszurichten, und der hatte es vergessen? Ein Elterntreffen seiner Fußballjungs?
Im Grunde gab es unzählige Möglichkeiten.
Viel später öffnete sie ein Fenster und hörte entferntes Sirenengeheul, aber das beunruhigte sie nicht besonders. Eine Dreiviertelstunde später griff sie erneut zum Telefonhörer. Die vielen hastig gerauchten Zigaretten hatten sie benommen gemacht. Wen rief man an, wenn das Krankenhaus einem nicht weiterhelfen konnte? Die Polizei natürlich. Wäre die Situation nicht so beklemmend gewesen, hätte sie laut gelacht. Spricht da die Polizei? Könnten Sie einen vermissten Polizisten für mich suchen?
Diesmal war nicht Andersen am Apparat, sondern Bjarne Frengen. Sie kannte ihn von früher, er war einer der dienstältesten Mitarbeiter. Es tat gut, mit einem Mann zu sprechen, der offenbar verstand, wie sehr sie sich ängstigte. Schon seine sonore Stimme gab ihr ein sicheres Gefühl.
»Und Andersen hat gesagt, dass dein Mann sich heute frei genommen hat? Der Kerl ist kaum in der Lage, das Telefonbuch zu lesen, eine Personalliste schon gar nicht. Warte mal bitte kurz.«
Sie lauschte dem Gemurmel im Hintergrund, während sie aus dem Fenster spähte. Es war schon ziemlich dunkel geworden.
»Hallo, Janne? Du musst mich entschuldigen, aber im Moment herrscht hier so ein Trubel, dass es schwer festzustellen ist, wo Björn sich gerade befindet. Kannst du noch ein bisschen warten?«
»Ja, natürlich.«
Sie wartete.
»Ich glaube, du musst mir noch ein paar Minuten Zeit geben«, sagte Frengen nach einer Weile freundlich. »Im Moment sind fast alle im Einsatz. Gut möglich, dass auch Björn dabei ist. Ich rufe dich an, sobald ich was rausgefunden habe.«
»Ich danke dir vielmals.«
Danach ging Janne zum Kühlschrank, nahm die Weißweinflasche heraus und schenkte sich ein Glas ein. Sie trank von dem kühlen Wein und spürte, dass ihr Herz sich weitgehend beruhigt hatte. Diesem Andersen sollte man morgen eine scharfe Rüge erteilen, so wie er sie heute in Angst versetzt hatte. Ein Einsatz! Das erklärte alles. Niemand war öfter im Einsatz als Björn, wenn es hart auf hart ging. Er gehörte zu den erfahrensten Beamten.
Doch als sie den gedeckten Esstisch betrachtete, spürte sie, wie der unsichtbare Klumpen erneut gegen ihre Kehle drückte. Mit steifen, ruckartigen Bewegungen ging sie zum x-ten Mal in die Küche, warf einen Blick auf die Straße und danach auf die Digitaluhr. 22.20. Die Beamten waren vor einer knappen Stunde ausgerückt. Was hatte Björn in den Stunden zuvor getan, nach vier Uhr? Unabhängig davon, wie hektisch die Vorbereitungen für den Einsatz gewesen sein mochten, hätte er sie normalerweise angerufen