Weiße Spuren. Fredrik Skagen
denn der benutzte den Schlüssel.
Sie kannte den Mann, der vor der Tür stand. Er trug einen dunklen Parka, einen Mantel, der vor Urzeiten in Mode gewesen war. Hauptkommissar Christian Rønnes, Björns unmittelbarer Vorgesetzter, ging auf die Sechzig zu und gehörte fraglos zu den ältesten Mitarbeitern des Polizeipräsidiums. Ein Mann, der Gelassenheit ausstrahlte und selten übereilt handelte. Und dennoch ein Mann, demgegenüber sie aus unerfindlichen Gründen stets eine gewisse Abneigung empfunden hatte. Rønnes war hier, an einem normalen Mittwochabend? Etwas an seinem Auftreten ließ sie erstarren. Der gesenkte Kopf, die Art, wie er sie anblickte, das graue Gesicht. So, schoss es ihr durch den Kopf, hätte der Pfarrer aus Pennies from Heaven ausgesehen, wenn er gezwungen gewesen wäre, Mrs Craig mitzuteilen, dass Sir Patrick etwas Ernsthaftes zugestoßen sei. Natürlich hätte der Pfarrer es mit einem einstudierten, mitfühlenden Lächeln versucht, doch Rønnes war schließlich kein Pfarrer. Die Erkenntnis, dass etwas Außerordentliches geschehen war, etwas Schreckliches, das ihre gesamte Existenz aus dem Gleichgewicht bringen würde, ließ die Szene unwirklich erscheinen. Sie spürte, wie er sie am Ellbogen nahm und die Treppe hinaufführte. Erst als sie auf dem Flur standen, brachte sie ein paar Worte hervor:
»Sag es einfach!«
»Janne ...« Seine Stimme brach nicht in klassischer Weise, sie versagte einfach.
Herrgott, war es nötig, auf so irritierende Art die Finger zu verschränken? Warum legte er ihr nicht einfach den Arm um die Schultern, um sie zu trösten?
Während der Boden unter Jannes Füßen zu schwanken begann, fiel ihr ungläubiger Blick auf ein Foto an der Wand, das sich über Rønnes’ rechter Schulter befand. Tove und Björn auf der Hütte. Es war mindestens zehn Jahre alt. Sie auf seinen Knien, in der Hollywoodschaukel auf der Terrasse. Beide lächelten in die Sonne und in die Kamera. Sie roch den Duft der frischgemähten Wiese.
Dann, wie aus weiter Entfernung, als spräche er durch ein umgedrehtes Megafon, hörte sie endlich seine Stimme:
»Als Björns unmittelbarer Vorgesetzter kommt mir die schwere Pflicht zu, dir mitzuteilen, dass er ... tot ist.«
Solche Nachrichten zu überbringen, musste schrecklich traurig sein, dachte sie, ganz gleich, ob man Pfarrer oder Polizist war. Der Druck auf ihren Kehlkopf war verschwunden. Indessen spürte sie, wie sie plötzlich zu schweben begann und wie Christian Rønnes sie stützte, bevor sie in Ohnmacht fiel.
Er musste sie ins Wohnzimmer getragen haben. Als sie zu sich kam, lag sie zu ihrer Verwunderung auf dem Sofa und hatte ein Kissen unter dem Kopf. Rønnes reichte ihr ein Glas Wasser.
»Danke.«
»Es tut mir wirklich sehr Leid.«
Janne starrte in Rønnes’ müde, feuchte Augen. Seine Äußerungen waren viel zu literarisch gewesen, so drückte man sich in der Realität nicht aus. Das Schlimmste war also nicht eingetreten. Dies war nur ein unwahrscheinlicher Traum, ein Produkt ihres manischen Pessimismus’. Doch gleichzeitig fragte auf einer Bewusstseinsebene, die außer ihr lag, ein starrer, fremder Teil von ihr:
»Was geht hier eigentlich vor?«
Er musste sich mehrmals räuspern, bevor er die Sprache wiederfand, während er offenkundig große Schwierigkeiten hatte, ihr ins Gesicht zu sehen.
»Wir kennen die Einzelheiten noch nicht. Er wurde vor einer Stunde gefunden.«
Die Sirenen, die sie gehört hatte. Der Einsatz. Wieder die Stimme, die nicht ihre war: »Wo?«
»Bei der Sportanlage, in der Nähe der Nidelvhalle. Ich komme gerade von dort.«
Das musste wohl ein Irrtum sein. Heute Abend war doch kein Fußballtraining. »Ein Unglück?«, fragte die Stimme.
Da nahm Rønnes ihr das Wasserglas ab, stellte es auf den Couchtisch und streckte ihr die Hände entgegen. Eine langsame, hilflose Geste, die unterstrich, wie sehr er sich gewünscht hätte, dass der Kollege noch quicklebendig wäre, doch war dies eine Illusion. Die Verzweiflung hatte sich in Form kleiner Mulden – die sich von den hypnotischen Gesten eines Magiers nicht fortwischen ließen – in sein vertrauenerweckendes Gesicht gegraben.
»Irgendein Wahnsinniger hat ihn erschossen.«
Donnerstag, 25. April
Polizist tot am Fluss aufgefunden
Am gestrigen Tag wurde ein 47-jähriger männlicher Polizeibeamter aus Trondheim am Ufer des Nidelv, unweit der Tempeban-Sportanlage, tot aufgefunden. Die Polizei, die bislang nur wenige Informationen bekannt gab, teilte gegen Mitternacht mit, der Beamte sei von hinten erschossen worden. Von dem Täter oder den Tätern fehle bislang jede Spur. Auch die Tatwaffe sei nicht gefunden worden.
Die Leiche wurde bei Anbruch der Dämmerung, gegen 21.30, von einem Mann entdeckt, der seinen Hund spazieren führte. Der Tote lag am Ufer auf dem Bauch, ungefähr 50 Meter von der Nidelvhalle entfernt. Der Mann sagte aus, der Hund sei plötzlich unruhig geworden und davongelaufen. Die Leiche habe direkt am Wasser gelegen und zwei Schussverletzungen am Genick aufgewiesen.
Auf dieser Höhe des Flusses befinden sich nur einige Mietshäuser, deren Bewohner weder etwas Verdächtiges gehört noch gesehen haben. Das Privatauto des Polizisten, ein schwarzer Mitsubishi Lancer, Baujahr ’92, wurde bei der Abzweigung zur Sportanlage verschlossen vorgefunden. Auch im Auto fand man bislang keine Spuren, die zur Aufklärung des brutalen Mordes führen könnten.
Die Polizei sucht nach Zeugen und bittet Personen, die im Lauf des gestrigen Tages an besagtem Ort waren, mit ihr in Verbindung zu treten. Nach unserem Kenntnisstand hatte der Beamte, er trug Zivilkleidung, einen Urlaubstag genommen und befand sich nicht im Einsatz. Er wohnte in Nardo und hinterlässt eine Frau und eine erwachsene Tochter. Die Leiche wurde zur Obduktion ins Kreiskrankenhaus gebracht.
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