Weiße Spuren. Fredrik Skagen
die liebe, gutmütige Vibeke plötzlich in eine Hexe verwandelt haben, die Mann und Heim im Stich ließ?
Er konnte es einfach nicht glauben.
Doch andererseits – welch verlockende Möglichkeit, Träume und Hoffnungen zu verwirklichen, tat sich ihm auf! Die phänomenale Chance, Dinge zu tun, die plötzlich »erlaubt« waren. Beispielsweise Kontakt zu Merete Stigum aufzunehmen, die in der vierten Etage am Holtermannsvegen wohnte, der schicken Büroangestellten mit den schrägen, blinzelnden Augen. Sie war zwar einige Jahre jünger als er, doch seit vier Jahren geschieden und noch zu haben. Er konnte sich immer noch an ihren bezaubernden, weichen Körper erinnern, der sich beim Tanzen auf der Weihnachtsfeier eng an seinen geschmiegt hatte. Er hatte sogar versucht sie zu küssen und sich vorgestellt, mit ihr nach Hause zu fahren. Doch sie hatte ihn freundlich weggeschoben und an seine Familie erinnert. Und das alles, während Vibeke es nach dem Weihnachtsessen der Kanzlei noch sehr viel länger getrieben haben musste, so spät, wie sie damals nach Hause gekommen war, das wurde ihm jetzt klar. Was war er bloß für ein Narr gewesen – höchste Zeit, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Am Morgen hatte er Vibeke gefragt, ob sie ihre Drohung wahr zu machen gedenke, jetzt, da der Mann in der schwarzen Robe vom Seminar zurückgekehrt war. Darauf hatte sie geantwortet, das ginge schließlich nicht von heute auf morgen. Sie brauche ein paar Tage, um ihre Sachen zu sortieren und die Dinge einzupacken, die sie mitnehmen wolle. Doch eines würde sie ihm versprechen: Er könne ganz sicher sein, dass sie nichts mitnahm, was nicht ihr gehörte. Beinahe ihren gesamten gemeinsamen Besitz: Möbel, Kücheneinrichtung, Auto und Ähnliches würde sie ihm überlassen, abgesehen von einigen Bildern, ihren Büchern und selbstverständlich dem halben Miteigentumsanteil an der Wohnung. Ihre Stimme hatte auf Grund ihres schlechten Gewissens gebebt, und darum zweifelte er nicht an ihren Worten, als sie versicherte, dafür zu sorgen, dass er aus der Scheidung besser hervorgehen würde als sie.
Auf dem Heimweg lief er vor der Shell-Tankstelle an der Elgeseter gate zufällig Simon Tokle über den Weg, und sie wurden sich rasch einig, nach dem abendlichen Schießtraining noch in die Stadt zu gehen. Simon sagte, er müsse unbedingt ein wenig abschalten, sonst würde er noch verrückt werden, und Arvid packte die Gelegenheit beim Schopf. Dabei handelte es sich nicht nur um eine gute Tat – Simon machte eine sehr schwierige Zeit durch und verdiente etwas Aufmunterung –, sondern er würde in Simons Gesellschaft auch seine eigenen Probleme vergessen.
Es war äußerst entspannend, sich mit Simon ein paar Drinks zu genehmigen, außerdem waren sie selten unter sich. Normalerweise trafen sie sich nur im Schützenverein, denn Simon war ein vielbeschäftigter Mann mit einem großen Bekanntenkreis und vielfältigen Interessen. Dazu kam, dass er in den letzten Wochen unter fast unmenschlichem Druck gestanden hatte. Alle Mitglieder waren sich stets einig gewesen, was für ein Glück seine Freundin hatte, mit so einem Pfundskerl Haus und Bett zu teilen. Doch vor bald sechs Wochen war das Schreckliche und Unfassbare geschehen. Die Frau, mit der er zusammenlebte, war plötzlich spurlos verschwunden. Die Bibliothekarin Anne-Lise Vatn, eine reizende Frau, über die niemand auch nur ein böses Wort verlor, war vermutlich mit ihrem Auto verunglückt. Man ließ auch die Möglichkeit nicht außer Acht, sie könne anstelle zur Arbeit willentlich über eine Klippe gefahren sein. Wenn eine hübsche und offenkundig erfolgreiche Frau so etwas tat, musste man auch Depressionen in Betracht ziehen.
Arvid saß dem Freund in der schummrigen Ecke einer Pianobar gegenüber und spürte schon nach dem ersten Whisky, wie er sich beruhigte und Abstand zu seinem Kummer gewann. Sie waren nicht gerade alte Schulfreunde, doch Arvid hatte sich von Beginn an zu Simon hingezogen gefühlt und geglaubt, dieser empfinde dasselbe. Am Anfang war es vor allem Bewunderung gewesen, denn Simon war anders als die meisten. Er hatte tadellose Umgangsformen, war ein guter Gesprächspartner und trat – seinen sozialen Status in Betracht gezogen – angenehm unprätentiös auf. In Arvids Augen waren Leute aus der freien Wirtschaft meist arrogante Schnösel, die ihre Geringschätzung der kleinen Leute nur schlecht verbargen, doch der Geschäftsführer Simon Tokle schien für solch kleinmütige Verhaltensweisen nichts übrig zu haben. Für ihn schien jedes einzelne Mitglied des Schützenvereins ein wertvoller Mensch zu sein, unabhängig von seinem sozialen Hintergrund. Arvid glaubte, dies hinge damit zusammen, dass Simon selbst aus einfachen Verhältnissen kam, ein bodenständiger Mann von der Küste, der sich quasi aus dem Nichts emporgearbeitet hatte und heute im großen Stil Fisch aufkaufte. Es kam ihm so vor, als verströmte Simon immer noch den Geruch nach Salzwasser und frisch ausgenommenem Kabeljau. Kleidung und Auto zeugten zwar von Geld und Geschmack, doch seine gelassene Einstellung zum eigenen Besitz sowie die Art seines Auftretens flößten Respekt ein. Wenn er den Klub hin und wieder finanziell unterstützte, hängte er dies nicht an die große Glocke; viele Mitglieder wussten nicht einmal, um was für Beträge es sich dabei handelte. Vor allem strahlte Simon eine natürliche Wärme aus, für die Arvid viel übrig hatte. Wärme und Aufrichtigkeit waren immer noch spürbar, obwohl die Ungewissheit über das Schicksal des Partners deutliche Spuren hinterlassen hatte. Immer wieder schweifte sein Blick in die Ferne, während seine Finger auf der Tischplatte trommelten, wie sie es früher nie getan hatten.
»Du hast die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?«, wagte sich Arvid vor.
»Nein, natürlich nicht. Obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist.«
»Das muss sehr hart sein.«
»O ja.«
»Sie ... sie hat keinen Brief hinterlassen?«
»Nichts.«
Arvid spürte, dass Simon nicht an ihr Verschwinden erinnert werden wollte. Zu gerne wäre er es gewesen, der das Rätsel auflöste. Gab es etwas, das ihm wirklich lag – von der Verwaltung des Archivs abgesehen –, dann war es sicher die Lösung rätselhafter Fälle, das Finden von Erklärungen, auf die niemand außer ihm gekommen wäre. Er hielt beispielsweise immer noch an seiner ursprünglichen Theorie fest, der Mörder Olof Palmes müsse die Frau sein, nach deren Pfeife die gesamte Justiz tanzte – seine Ehefrau. Sie hatte sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit gehabt, und was die Tatwaffe betraf, war niemand von der Polizei auf die vermessene Idee gekommen, der Frau des Ministerpräsidenten auf den Zahn fühlen zu wollen. Eines Tages würde allen klar sein, dass der vollkommen unbekannte Arvid K. Bang aus Trondheim schon längst auf die einzig richtige Lösung gekommen war.
Im Zuge dieses Gedankens konnte er sich folgende Bemerkung nicht verkneifen:
»Ich habe gelesen, dass Menschen mit Depressionen oft einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Anne-Lise hat ein Tagebuch geführt, aber ich traue mich nicht, danach zu suchen.«
»Sonst bleibt nur ein Verbrechen.«
Simon zuckte nicht gerade zusammen, wurde jedoch eindringlicher und flehentlicher: »Sei so gut, Arvid ... Ich habe mir das Hirn zermartert, ob es einen einzigen Menschen gibt, der Anne-Lise gehasst haben könnte. Umsonst. Fällt dir jemand ein? Nein! Wenn sie etwas zum Opfer fiel, dann ihren eigenen Gedanken. Hätte ich sie nur lesen können ... rechtzeitig.«
»Entschuldige«, sagte Arvid rasch. Es war ihm so unangenehm, dass er errötete und in den Schuhen die Zehen krümmte. Fieberhaft suchte er nach einem anderen Gesprächsthema – und fand eines: Ihr gemeinsames Hobby.
Glücklicherweise ließ sich Simon mitreißen, ob dies nun an den Drinks lag oder an seiner Erleichterung, dass sein Freund das Thema gewechselt hatte. Nachdem sie eingehend darüber diskutiert hatten, in welcher Form sich der Schützenverein bei den Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum im nächsten Jahr präsentieren sollte, fragte Simon:
»Und wie geht’s dir so? Alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, beeilte sich Arvid zu antworten. Nach drei Drinks verspürte er ein intensives Verlangen, sich dem Mann mit den braunen Augen und dem dunklen, unbändigen Stirnhaar anzuvertrauen. Doch gleichzeitig merkte er, wie sein latentes Unterlegenheitsgefühl – der verfestigte Respekt vor einem Mann, der offensichtlich erfolgreich war und dennoch eine Tragödie erlebte – ihn davon abhielt. Simon mit seinen Eheproblemen zur Last zu fallen, hieße nicht nur, eine selbst verschuldete Niederlage einzuräumen; verglichen mit den Sorgen des Freundes waren seine eigenen eine Lappalie.
»Also alles in bester Ordnung?«