Weiße Spuren. Fredrik Skagen

Weiße Spuren - Fredrik Skagen


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der Fehler entdeckt worden war? Wohl kaum. Konnte er das Geld abheben und an einem anderen Ort verwahren, um hinterher behaupten zu können, er habe in gutem Glauben gehandelt? Nein, das war einfach zu dreist. Doch wenn der Einzahler seinen eigenen Kontostand hatte aufbessern wollen, würde er den Irrtum erst mit dem nächsten Kontoauszug bemerken. Das konnte schon morgen der Fall sein, doch falls der oder die Betreffende das Konto nur selten kontrollierte, konnte sich dies bis zum Januar nächsten Jahres hinziehen, wenn die Jahresabschlüsse versandt wurden. Und sollte es sich um eine steinreiche Person handeln, bestand sogar die winzige Chance, dass sie das Geld niemals vermissen würde ...

      Arvid erhob sich und begann auf und ab zu gehen. Vibeke brachte ihn für gewöhnlich auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn er seiner Fantasie allzu freien Lauf ließ. Manchmal ahnte er selbst, dass seine Träumereien zuweilen absurde Formen annahmen. So wie in diesem Fall. Immer schön auf dem Teppich bleiben, sagte er sich. Es ist nicht dein Geld. Ganz und gar nicht. Er kannte keine Menschenseele, die ihm tatsächlich 200 000 Kronen schenken würde. Und dennoch. Wenn irgendjemand eine Einzahlung dieser Größenordnung veranlasste – ob auf das eigene oder ein fremdes Konto –, wurden dann nicht Namen, Adresse und Kontonummer automatisch überprüft? Selbstverständlich. Es kam also im Grunde nur ein technisches Versagen der Postbank in Frage. Ein winziger Computerfehler, die Fehlfunktion eines verborgenen Chips, die extrem selten war und niemals zurückverfolgt werden konnte. Die Postbank würde gezwungen sein, den Betreffenden zu entschädigen und die 200 000 Kronen als Verlust abzubuchen. Ein Mysterium, das dem Softwareunternehmen für immer ein Rätsel bleiben musste. Die Experten würden sich am Kopf kratzen und gegenseitig beschuldigen, während ein gewisser Arvid K. Bang aus Trondheim sich endlich das Auto zulegen konnte, von dem er schon lange geträumt hatte. Oder, was vernünftiger wäre, am Aktienmarkt investieren und Jahr für Jahr höhere Gewinne einstreichen konnte.

      Die Herkunft des Geldes zu erklären, war im Grunde das kleinste Problem; er würde sagen, er habe es auf der Trabrennbahn gewonnen. Als es der Familie Mortensen letztes Jahr gelungen war, beim Pferderennen so richtig abzukassieren, hatte Paul ihm versichert, der Gewinn sei steuerfrei und das Finanzamt somit auch nicht in der Lage, die Höhe des Betrags zu kontrollieren. Pferdewetten genossen ewige Anonymität.

      Doch angenommen, die Einzahlung war gar kein Fehler und sollte aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz wirklich ihm zugute kommen. Angenommen, jemand wünschte von ganzem Herzen, dass er das Geld bekam ...

      Arvid hielt einen Moment inne und starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu erkennen. Eine Frau in schwarzem Trikot joggte die Uferpromenade des Flusses entlang, blieb am Ende der Fußgängerbrücke stehen und begann sich zu dehnen. Normalerweise wäre sein Blick eine Weile bei ihr hängen geblieben, doch jetzt setzte er seine Gedankenspiele fort: In diesem Fall musste der Betreffende sich seine Kontonummer besorgt haben. Ging das so ohne Weiteres? Als er näher darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass dies kein Problem war. Als sie Ola zu seinem Geburtstag etwas auf sein Konto überweisen wollten, hatte Vibeke sofort seine Kontonummer erfahren, indem sie bei der Postbank angerufen hatte. Er begann erneut auf und ab zu marschieren, irritiert von seiner eigenen Unruhe, irritiert von den verwirrenden Gedankenspielen, die ihm aufgenötigt worden waren.

      Als Vibeke ungewöhnlich spät nach Hause kam, hatte er sich immer noch nicht um die Küche gekümmert.

      »Du hast sicher schon gegessen?«

      Er erschrak und sah ihre schwarzen Locken im Türrahmen. Vibeke, die ein wenig kleiner war als er, sah immer noch sehr ansprechend aus, zumindest wenn sie sich geschminkt hatte und die richtigen Kleider trug. Arvid registrierte das auch heute, wenn es auch so ziemlich das Einzige war, das er auf die Schnelle wahrnahm. Anfangs war ihm nicht einmal ihr entschuldigendes Lächeln aufgefallen, und er übersah, dass ihre Haut gerötet war, als seien ihr ein paar zusätzliche Vitamine zugeführt worden.

      »Warum hast du noch nicht mit dem Essen angefangen?«, fragte sie mit Nachdruck.

      Er kam zu sich, beschloss, sie von der merkwürdigen Einzahlung zu informieren, und eilte in die Küche. Vibeke hatte sich den Mantel ausgezogen, stand jetzt neben dem Kühlschrank und betrachtete den Tisch, den sie heute Morgen für sie beide gedeckt hatte, bevor sie aus dem Haus gegangen war. Sie fing eine halbe Stunde später zu arbeiten an als er.

      »Du guckst so komisch«, sagte sie, als sie sich zu ihm umdrehte. »Hast du etwa schon erraten ...«

      »Was erraten?« Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch sie anders aussah, als trage auch sie sich mit dem Gedanken, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen.

      »Na, erraten, warum ich so spät komme.«

      Er war so verdattert, dass er kein Wort herausbrachte. Was ihn in der letzten halben Stunde am wenigsten beschäftigt hatte, war Vibekes Verspätung gewesen. Nun ja, warum sollte er sie nicht zuerst erzählen lassen? Damit warten, ihr die verheißungsvolle Nachricht zu überbringen, ihnen sei womöglich ein kleines Vermögen zugefallen, ehe sie nicht irgendeine Alltagsgeschichte aus dem Büro losgeworden war? Der Schock war immer noch so frisch, dass er ihn ruhig noch ein wenig für sich behalten konnte.

      Warum hatte sie eigentlich so hellrote Flecken auf den Wangen? Woher kam der eigentümliche Glanz in ihren Augen, dieser sonderbare Ausdruck, der sowohl von schlechtem Gewissen als auch kindlicher Freude zeugen konnte, so als habe sie eine spontane Romanze erlebt, die sie plötzlich jünger und lebendiger machte?

      »Es tut mir so Leid, dass ich es dir nicht schon früher erzählt habe, Arvid.«

      Er hörte ihre Stimme, doch die Worte erreichten ihn nicht, jedenfalls nicht am Anfang.

      »Ich habe mit Preben gesprochen.«

      »Oh?«

      »Wir waren nach Feierabend noch kaffeetrinken.«

      Preben Mack, dachte er, ihr Chef in der Anwaltskanzlei Mack & Messel. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden ein Vertrauensverhältnis hatten.

      »Wir waren beide der Meinung, dass ich mit dir reden sollte ... falls du es nicht längst schon weißt.«

      Langsam, sehr langsam nur kam ihm etwas zu Bewusstsein – etwas, das er eigentlich wusste, jedoch sorgfältig verdrängt und ignoriert hatte.

      »Weißt du es, Arvid?«

      »Was meinst du?«

      »Dass Preben und ich ein Paar sind, dass wir uns entschieden haben zu ...«

      Plötzlich war Arvid bei vollem Bewusstsein. Widerwillig registrierte er, dass er es war, der errötete, dass er es war, der sich für sie schämte. Seinen Zorn konnte er unterdrücken und in einen namenlosen Raum verbannen, den er mit niemandem teilen wollte. Und bevor ihm die tiefere Bedeutung ihrer Worte klar wurde – ihre drastischen Konsequenzen –, hing sie plötzlich an seinem Hals und umarmte ihn, wie sie ihn nie zuvor umarmt hatte, mit denselben Händen, die ihren Chef öfter liebkost hatten als er sich vorzustellen wagte.

      »Es tut mir alles so schrecklich Leid, Arvid!«

      Er hatte das Gefühl, sich vom Boden zu lösen und fortgerissen zu werden. Jetzt lehnte er sich nicht mehr an die Arbeitsplatte, er war eine Sandburg, die vom Wasser zerfressen wurde. Und während er unterging, war ihr Schluchzen nur mehr ein Tropfen in einem Meer unverständlicher Tatsachen.

      »Das Komische ist, dass ich dich immer noch lieb habe. Aber so ist es nun mal«, jammerte sie.

      Und so geschah es also, dass, während Vibeke Bang weinte und bereute und dennoch erleichtert war, ihrem Mann die Wahrheit gesagt zu haben, dieser nicht dazu kam, ihr zu erzählen, welch sonderbare Transaktion auf seinem Sparkonto vor sich gegangen war.

      Samstag, 20. April

      Als er erwachte, war alles wie immer. Vibeke lag neben ihm im Doppelbett und hatte ihm den Rücken zugedreht. Ein ganz normaler Samstag bei der Familie Bang in der Klostergata. Zumindest auf den ersten Blick. Er wollte als Erster aufstehen, einen Blick auf das Thermometer werfen, duschen und dann das Frühstück servieren – vielleicht. So um elf würde sie vorschlagen, in die Stadt zu gehen. Sie würden bei dem Geschäft für Heimbedarf vorbeischauen


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