Weiße Spuren. Fredrik Skagen

Weiße Spuren - Fredrik Skagen


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Auto zur Arbeit, lief Ski und ging hin und wieder zum Krafttraining. Im Sommer spielte er sogar ab und zu Altherrenfußball. Wenn er nicht gerade mit Vibeke fernsah oder ein Kreuzworträtsel löste, machte er sich auf den Weg zum Schützenverein in Buran und schoss ein paar Serien. Zum Wettkampfschützen hatte er es nie gebracht, machte sich jedoch unentbehrlich bei der Ausrichtung von Wettkämpfen, der Verteilung von Prämien und der Wahrnehmung administrativer Aufgaben. Vibeke und er hatten viel Zeit, jetzt, da ihr einziger Sohn Ola nach Bergen gezogen war, um Wirtschaft zu studieren. Ein Studium, von dem Arvid selbst geträumt, das er jedoch nie realisiert hatte. Was nicht an seinen Fähigkeiten lag – so viel wusste er –, doch bereits als Zehnjähriger war er darauf erpicht gewesen, sein eigenes Geld zu verdienen, und seine Eltern hatten ihm keine Steine in den Weg gelegt, als er gleich nach Beendigung der Mittelschule eine Stelle bei der Stadtverwaltung antrat.

      Genau das hätten sie tun sollen, bemerkte er zuweilen bitter, nachdem er – was selten vorkam – zu tief ins Glas geschaut hatte. Ein Mensch mit seinem Potential sollte sich zu einer höheren Ausbildung eigentlich nicht nur aufgefordert, sondern geradezu gezwungen fühlen. »Aber es hat keinen Sinn«, pflegte er abgeklärt hinzuzufügen, »der Vergangenheit nachzutrauern.« Vibeke nickte dann mehr oder minder bereitwillig, hatte ihrem Ehemann jedoch nie die Frage zu stellen gewagt, ob er seine geistigen Fähigkeiten womöglich überschätzte.

      Zunächst war es nur ein Sommerjob gewesen, doch er blieb dabei, als die Behörde in das neue, geräumige Haus am Holtermannsvegen umzog, wo sich die Ingenieure der Gemeinde niederließen. Ihm gefiel es dort gut. Im Gegensatz zu den meisten anderen ungelernten Angestellten und Assistenten war er flink und wissbegierig und begriff frühzeitig die Notwendigkeit, selbst aktiv zu werden und die Initiative zu ergreifen. Es dauerte nicht lange, bis er sich herausnahm, konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Archivarbeit zu machen, und obwohl sein Chef nicht von all seinen Ideen begeistert war, wurden doch so viele in die Tat umgesetzt, dass man ihn beachtete. Am Anfang war der Keller ein chaotisches Magazin, das nicht nur das Archiv beherbergte, sondern in dem von Brechstangen und Spaten bis zu Winkelmessgeräten, Karten und Nivellierinstrumenten einfach alles aufbewahrt wurde. Arvid hatte dazu beigetragen, Ordnung zu schaffen – weg mit allem, was nicht ins Archiv gehörte! –, und die Arbeit befriedigte seinen Hang zu systematisierter Routine. Im Laufe seiner bald dreißigjährigen Karriere hatte sich vieles verändert, auch was seinen persönlichen Status betraf. Hatte er als Laufbursche begonnen, der Messgeräte in den Boden steckte, verfügte er nun über eine eigene Zelle, die durch Glas und Leichtbauwände vom Archiv abgetrennt war. Nachdem er mit der Zeit einen Schreibtisch, Telefon, Computer sowie ein Kopiergerät bekommen hatte, begann er die Zelle als Büro zu bezeichnen. Jeder, der eine Mappe einsehen oder ausleihen wollte, musste dies nun schriftlich quittieren und sich einem praktischen System unterordnen, das der frühere Assistent ausgearbeitet hatte. Dank der Gewerkschaft, seiner Emsigkeit und Redebegabung sowie verschiedener Abendkurse hatte sich Arvid in den letzten Jahren den Titel eines Archivars zulegen können, obwohl er keine fachliche Ausbildung besaß. Diesem Status hatte er es zu verdanken, dass er an Abteilungskonferenzen teilnehmen durfte. Phasenweise standen sogar zwei bis drei Assistenten unter seinem Kommando. Wenn ihm jemand zu Leibe rückte, zögerte er nicht, sich als Chefarchivar zu bezeichnen.

      Doch die jüngeren Kollegen mochten ihn, denn er war freundlich und umgänglich und alles andere als ein Sklaventreiber. Über ausgedehnte Kaffeepausen und private Telefongespräche sah er großzügig hinweg, vorausgesetzt, die Arbeit wurde gewissenhaft erledigt. Im Gegenzug scherten sich die Assistenten nicht darum, dass ihr Chef einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit dem Schützenverein widmete. Zwar geschah es, dass sie hinter seinem Rücken feixten und die Ansicht vertraten, sein Arbeitsstil nehme parodistische Züge an, doch solange er auf ihrer Seite stand und sich für ihre Interessen einsetzte, sahen sie keinen Grund, sein Gebaren zu kritisieren.

      In diesem Moment baute er ein Luftschloss nach dem anderen und fantasierte, inwieweit sich sein Leben verändern würde, wenn ihm wirklich ein zusätzliches – steuerfreies! – Jahresgehalt zufiele. Sobald er nach Hause kam, würde er zunächst die telefonische Kontoauskunft in Anspruch nehmen. Damit konnte er sichergehen, dass die Summe tatsächlich auf sein Konto eingegangen war und der Postangestellte in dieser Hinsicht keinen Fehler gemacht hatte.

      Sie wohnten unten auf der Insel, er und Vibeke, in der dritten Etage eines von zwei roten Backsteinblocks am alten Eislaufstadion, und verfügten in der an die Klostergata angrenzenden Baracke über einen Garagenstellplatz. Die Eigentumswohnung befand sich am Ende des Wohnblocks, besaß Wohnzimmer, Küche, Bad sowie zwei Schlafzimmer und gestattete vom Balkon aus einen schönen Ausblick auf den Fluss und den Elsterpark. Wenn man sie beispielsweise mit der Wohnung Paul Mortensens in Heimdal verglich, war sie nicht gerade geräumig, doch Arvid hatte ihm nach dem Kauf versichert, sie zu einem ungewöhnlich niedrigen Preis erworben zu haben. Außerdem, fügte er hinzu, sei sie größer als die übrigen Wohnungen des Hauses, weil dem Architekten bei der Raumaufteilung offenbar ein Fehler unterlaufen wäre. Paul, der Arvids Neigung zur Schönrednerei kannte, hatte gegrinst und augenzwinkernd eingeräumt, jedermann könne sehen, dass sich die Wände seiner Wohnung im dritten Stock nach außen beulten, aber diese Art der Ironie prallte in der Regel an Arvid ab. Er lächelte bloß und betonte, wie praktisch es sei, auf der Insel zu wohnen. Zur Arbeit könne er zu Fuß gehen und ins Zentrum sei es nur ein Katzensprung. Paul musste ihm Recht geben.

      Bereits im Treppenhaus erkannte er, dass Vibeke noch nicht zu Hause war, denn im Briefkasten befanden sich lauter Reklamezettel sowie eine Rechnung an ihn und ein an sie beide adressierter Brief von Ola. Im Laufschritt nahm er die Treppen nach oben. Im Grunde hätte er als Erstes die Kartoffeln aufsetzen sowie das fertige Fischgratin aus dem Gefrierfach nehmen und in den Ofen stellen sollen, doch an diesem Freitag hatte das Telefon Vorrang. Aus Gründen, die ihm selbst nicht richtig klar waren, wollte er die Sache regeln, bevor Vibeke auftauchte. Nachdem er sicherheitshalber die alten Totoscheine kontrolliert hatte – allesamt ohne Gewinn –, setzte er sich in den braunen Fernsehsessel, legte die betreffenden Formulare vor sich auf den Tisch, griff zum Telefon und wählte die Nummer. Es war nicht das erste Mal, dass er den Kontostand telefonisch abfragte, daher war er auch nicht überrascht, als er eine sanfte Frauenstimme hörte:

      »Willkommen bei der telefonischen Kontoauskunft der Postbank. Geben Sie bitte Ihre elfstellige Kontonummer ein und drücken sie auf die Rautentaste.«

      Arvid gehorchte. Sorgsam drückte er die richtigen Tasten. Er hatte gehört, dass man für die telefonische Kontoauskunft ab dem Sommer in Oslo anrufen und stattdessen sein Geburtsdatum angeben musste. Solche Verbesserungen waren es, auf die er großen Wert legte. Sicherheit ging vor.

      »Geben Sie bitte Ihre Pin ein«, sagte die Frauenstimme.

      Das tat er und erhielt nach einem freundlichen »Danke« die Bestätigung:

      »Ihr verfügbares Guthaben beläuft sich auf zweihundert-zweiundzwanzigtausend Kronen. Aktuelle Umsätze sind möglicherweise noch nicht berücksichtigt. Wünschen Sie weitere Auskünfte, wählen sie die Eins. Falls nicht, legen Sie auf.«

      Die Hand, die den Hörer hielt, zitterte eine Weile. Der erste Teil der Untersuchung war abgeschlossen. Dann drückte er die 1.

      »Die letzten zehn Kontoumsätze. Bitte haben Sie ein wenig Geduld ... 19. April ’96. Abhebung. Scheckkarte. Sechstausend Kronen.«

      Genau, der neunzehnte April war heute. Die Stimme nannte immer zuerst den letzten Kontovorgang. Man hatte bereits registriert, dass er vor einer Viertelstunde in der Filiale in Elgeseter gewesen war. Die vorherige Abhebung lag schon drei Wochen zurück. Er hielt die Luft an, während er der nächsten Information lauschte:

      »17. April ’96. Bareinzahlung. Zweihunderttausend Kronen.«

      Arvid hatte erfahren, was er erfahren wollte. Er legte den Hörer auf und begann wieder zu atmen. In der nachfolgenden Stille hörte er das Geräusch seines pumpenden Herzens. Vor nur zwei Tagen hatte ihn ein unbekannter Gönner um 200 000 Kronen reicher gemacht. Ohne Vorwarnung. Ohne jeden Hinweis.

      Er trommelte mit den Fingern auf die Armlehne und versuchte eine Erklärung zu finden. Es fiel ihm schwer, zu akzeptieren, dass es sich um eine Fehlbuchung handelte, die früher oder später richtig gestellt werden würde – entweder


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