Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband. Katharina Wolf
versucht, sich krampfhaft an die wohltuende Bewusstlosigkeit oder den angenehmen Traum zu klammern. Nein. Völlig wach. Ohne Umwege. Ich schlug die Augen auf und bereute es sofort. Mein Kopf schmerzte erbarmungslos und in meinem Mund herrschte ein auffällig starker Geschmack nach Alkohol und Erbrochenem. Durst. Ich hatte so unglaublichen Durst. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Außerdem tat mein Rücken weh. Ein Stöhnen entwich meinen Lippen und ich griff unter mich. Zwischen mir und der Matratze zog ich eine Tube Gleitgel und eine leere Bierflasche hervor. Kein Wunder, dass mein Rücken mich gerade umbrachte!
Ich blickte mit müden Augen nach links und sah blaue Wände, an denen sich das morgendliche Licht in einem seltsamen Streifenmuster brach. Der Rollladen war nicht ganz unten. Daher konnte ich auch den Typen rechts von mir erkennen. Wobei erkennen doch übertrieben war. Der Kerl war mir völlig fremd. Nur dunkel erinnerte ich mich an den gestrigen Abend, der wohl etwas eskaliert war. Da war eine Bar, zu viele Tequila-Shots und eine pompöse Line weißes Pulver.
Der Typ riss mich aus meinen Überlegungen. Er schmatzte, hustete, kratzte sich am stoppeligen Kinn und schnarchte dann leise weiter. Okay, das hier waren dann wohl seine Wohnung und sein Schlafzimmer. Ich rieb mir resignierend über die Augen. Alter, wo war ich jetzt schon wieder gelandet? Das war mir alles mehr als suspekt! Aber leider war das nicht das erste Mal, dass mir so etwas passierte.
Mühsam quälte ich mich aus den Laken und suchte meine Unterwäsche. Auf dem Boden hinter dem Bett fand ich sie, neben zwei gebrauchten Kondomen. Wenigstens hatten wir noch an Verhütung gedacht.
Ich verließ das Schlafzimmer auf Zehenspitzen und entdeckte im Flur meine Jeans und meinen Pullover. Ich zog mir alles über und suchte das Badezimmer. Dort spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und spülte mir den Mund aus, um diesen widerlichen Geschmack loszuwerden. Dann betrachtete ich mich im Spiegel. Kein erfreulicher Anblick.
Nachdem ich mir die Haare zurückgebunden hatte, schnappte ich mir meine Handtasche, die ich neben der Eingangstür fand, und verließ die Wohnung. Keine Ahnung, wer der Typ war und in welchem Stadtteil ich mich gerade befand. Es interessierte mich aber auch nicht die Bohne. Ich war so verkatert, dass mir alles egal war. Außer einem schnellen Kaffee und einer Sonnenbrille, die mich vor der gnadenlosen Morgensonne schützte, begehrte ich momentan nichts. Mein Kopf war wie leergefegt.
Brainfucked.
Gut so! Ich hasste es, nachzudenken. Brachte meist eh nichts und machte nur schlechte Laune. Aber ganz ausschalten konnte ich mein Gehirn leider doch nicht. Ein Zeichen dafür, dass der Alkoholpegel und die Wirkung der Drogen langsam, aber sicher nachließen.
Ich war nicht immer so gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der mir nicht alles so dermaßen scheißegal gewesen war. In der ich nicht von einem One-Night-Stand zum nächsten gesprungen war. Von einem Rausch in den nächsten. Von einem Vergessen zum nächsten … Aber das war lange her.
Zu lange.
Eigentlich wusste ich schon nicht mehr, wie das gewesen war. Das Leben davor.
Weniger anstrengend?
Nein.
Es war schmerzhafter.
Oder?
Was soll‘s ... Man konnte die Zeit ja eh nicht zurückdrehen ...
Schule ist durch
»Sag mal, was machen wir eigentlich noch hier?«
Müde schaute ich meine Sitznachbarin Lina an und zuckte nur resignierend mit den Schultern. Es erforderte schon eine Menge Selbstbeherrschung, die Lider nicht einfach zu schließen. Jedes Zwinkern dauerte jetzt schon länger als normal. Wenn es nicht bald klingelte, würde ich dem Drang nachgeben müssen.
In den nächsten Wochen standen unsere Abiturarbeiten an. Die meisten Lehrer sahen es daher wohl nicht ein, den Unterricht noch auf irgendeine Art und Weise interessant zu gestalten. Oder, wie im Falle unseres Mathelehrers Herrn Jonas, überhaupt zu unterrichten. Der saß nämlich entspannt auf seinem Stuhl, hatte die Füße auf dem Pult geparkt, und las seit geschlagenen 20 Minuten die Lokalausgabe der hiesigen Zeitung. Stillarbeit nannte er das. Leider hatte er vergessen, uns die dazugehörige Aufgabe zu geben. Daher begnügten sich die meisten damit, ihren Facebookstatus zu checken, den Highscore eines Handyspielchens zu knacken oder sich einfach mit dem Tischnachbarn zu unterhalten. Lina kramte nun sogar ein Buch aus ihrem Rucksack. Nicht etwa ein Mathebuch. Nein. Ich schaute auf das Cover. Verstummt von Karin Slaughter.
»Ist das dein Ernst?«, flüsterte ich ihr hinter vorgehaltener Hand zu. »Meinst du nicht, das wird er merken?« Ich zeigte auf Herrn Jonas, der gerade geräuschvoll umblätterte und einige Mitschüler durch das laute Rascheln aufschrecken ließ. Die waren dann wohl wieder wach.
»Nora, das ist dem scheißegal!«, zischte Lina genervt. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ich legte den Kopf wieder auf meine verschränkten Arme und schloss die Augen. Was soll‘s. Nun beneidete ich Lina um ihren Thriller. Sie hatte dadurch wenigstens ein wenig Beschäftigung.
Die Sache hier war eindeutig durch.
Schule war durch.
Ich konnte es noch gar nicht so recht glauben. Nach knapp 13 Jahren sollte alles vorbei sein. Einfach so? Eigentlich ging mir das, wenn ich ehrlich sein sollte, etwas zu schnell. Ich wusste doch noch gar nicht, was ich danach machen wollte. Was die Zukunft bringen mochte? Einen richtigen Plan hatte ich nicht.
Plötzlich traf mich etwas am Hinterkopf. Ich schaute hinter mich und sah einen zerknüllten Papierklumpen auf dem Boden. Ich hob ihn auf, legte ihn vor mich auf den Tisch und faltete ihn auseinander. Dann fuhr ich den kleinen viereckigen Zettel mit den Fingern glatt und las die paar Zeilen.
»Abi-Party-Komitee - bist du dabei?« stand in krakeliger Schrift mit Bleistift darauf geschrieben. Ich drehte mich um und sah in die hoffnungsvollen Augen von Pablo, der zwei Reihen hinter mir saß und die Hände wie zum Gebet aneinandergelegt hatte. Er formte ein tonloses »Bitte« mit seinen Lippen.
»Meinetwegen«, schrieb ich auf die Rückseite des Zettels, faltete ihn zu einem Flieger und warf ihn zurück. Er las den Brief und gab mir dann einen Daumen nach oben. Jeden Tag eine gute Tat. Das war wohl meine für heute.
Als es endlich klingelte, erhob ich mich und ließ dabei jeden Wirbel meiner Wirbelsäule knacken. Nur noch wenige Tage, dann wäre das hier alles vorbei. Würde ich es vermissen? Das sagt man doch immer. Nach der Schule würde alles schwieriger werden. Nie mehr wäre das Leben so einfach wie in diesem Alter, deshalb solle man die Schulzeit ja auch genießen. Ich für meinen Teil konnte sagen, dass es mir tatsächlich momentan gut ging. Alles war geregelt und ich war zufrieden. Das war in der Vergangenheit auch schon anders gewesen. Vielleicht konnte ich sogar zum ersten Mal in meinem Leben wirklich behaupten, glücklich zu sein.
Pablo kam zu mir nach vorne gerannt und boxte mir freundschaftlich gegen die Schulter.
»Cool, dass du mitmachst!«
»Soll ja auch gut werden«, grinste ich ihn frech an. Er lächelte zurück.
»Wir treffen uns übermorgen nach der dritten Stunde. Die meisten haben die Vierte und Fünfte eh frei und die anderen meinten, dass es nicht auffällt, wenn sie im Unterricht fehlen.« Ich schielte zu Herrn Jonas, der die Zeitung zusammenfaltete und in seine Aktentasche stopfte.
»Dem würde es garantiert nicht auffallen. Vielleicht schwänze ich vorm Abi noch ein paar Mal. Habe ich immerhin noch nie gemacht.«
»Klar. Warum nicht? Was soll schon passieren? Sag Bescheid, dann gehen wir stattdessen einfach ‘nen Kaffee trinken.« Er grinste und boxte mir wieder gegen die Schulter. Exakt die gleiche Stelle. Das war echt eine scheiß Angewohnheit von ihm. Ich würde bestimmt einen blauen Fleck bekommen.
»Dann sehen wir uns ja spätestens beim Abi-Party-Treffen.«
»Genau.«
Ich winkte ihm noch mal zum Abschied zu und verließ den Klassensaal und das Schulgebäude. Um mich herum tummelten sich rauchende Oberstufenschüler, ein