Fußball durch Fußball. Marco Henseling
sinkt (Rn. 159). Somit sind Spielintelligenz, Technik und Kondition der Spieler maßgebliche Einflussfaktoren für die Situationsstrukturen und werden umgekehrt durch dieselben beeinflusst.
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Betrachtet man ein Fußballspiel als ein System3 und die Spieler – ob allein, im Gruppen- oder Mannschaftsverbund – als dessen Teilsysteme, sind die Situationsstrukturen im Spiel das Ergebnis innerer synergistischer (sprich: sich im Zusammenspiel gegenseitig fördernder) Wechselwirkungen zwischen ebendiesen Teilsystemen. Die Situationsstrukturen im (dynamischen) System entstehen also durch Selbstorganisation.
Das ständige Zusammenwirken der Faktoren Zeit-, Raum- und Gegnerdruck und deren Wechselwirkung mit den Handlungen und Fähigkeiten der eigenen Mannschaft lassen eine unendliche Zahl an potenziellen Situationen entstehen. Diese Systemdynamik macht das Fußballspiel zu einer unvorhersehbaren Abfolge spontaner Konstellationen, in denen an jeden Spieler ganzheitliche Anforderungen gestellt werden. Aus dieser Betrachtung wird unsere Trainingsmethodik abgeleitet. Die technischen, taktischen, mentalen und konditionellen
Fähig- und Fertigkeiten sind im Rahmen der Systemdynamik ganzheitlich auszubilden. Die Spieler werden dafür mit vielfältigen Situationen konfrontiert, in denen sie sich – wie letztlich auch im Wettkampf – selbständig beziehungsweise selbstorganisiert zurechtfinden müssen.
Je besser die Spieler in der Lage sind, Situationen angemessen zu lösen, desto vorhersehbarer wird das Spiel für die eigene Mannschaft. Der Einfluss von Zufällen wird gesenkt und die Wahrscheinlichkeit der Kontrolle über das Spielgeschehen erhöht. Dies sind die Grundlagen für planbare Leistungen, die letztlich zum Erfolg führen. Das Ziel des Trainings ist es also, den Zufall so weit wie möglich auszuschließen, indem die Spieler lernen, situativ die richtige Lösung zu finden und diese anschließend möglichst fehlerfrei auszuführen. Sie sollen selbst in unvorhersehbaren und komplexen Situationen Ruhe und Übersicht behalten. Darüber hinaus müssen sie über 90 Minuten möglichst konstant ihre Leistung abrufen können.
1.2Lernprozesse
17 Der Übungsleiter kann den Lernprozess der Spieler an zwei Stellen steuern. Zum einen gibt er die Übungsformen vor, gestaltet und modifiziert diese und erzeugt so die Lernumgebung (Training), in der die Spieler selbstorganisiert Entscheidungen treffen müssen. Zum anderen kann er durch Instruktionen auf die Spieler einwirken, während diese die Übungsform umsetzen (Coaching). Er beeinflusst dann nicht mehr die Lernumgebung, sondern die Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse der Spieler.
Das Training beschreibt also die Verbesserung von technischen, taktischen, mentalen und konditionellen Fähigkeiten durch Übung. Coaching bedeutet, die Spieler in Form von Hilfestellungen verbal zu beeinflussen, ihnen Hinweise zu geben und ihnen (Suggestiv-)Fragen zu stellen.4 Der Übungsleiter kann sowohl durch Übungen als auch mittels Instruktionen Einfluss auf den Lernprozess der Spieler nehmen. Er ist damit zugleich Trainer und Coach. Der Lernprozess verläuft demnach entweder implizit (beim Training) oder explizit (beim Coaching).
Abb. 2: Einflussmöglichkeiten des Übungsleiters (in Anlehnung an Newell / Ranganathan 2010)
1.2.1Implizites Lernen
18 Unter implizitem Lernen wird die unbewuss te oder spielerische Aneignung von Fertigkeiten und Wissen beim Ausüben einer Tätigkeit verstanden.5 Das Lernen findet dabei in Situationen statt, in denen die Strukturen einer komplexen Reizumgebung verarbeitet und aufgefasst werden, ohne dass dies vom Lernenden notwendigerweise bewusst wahrgenommen oder beabsichtigt wird.6 Das daraus resultierende Wissen ist schwer in Worten wiederzugeben.
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Weil es angesichts der Systemdynamik zu einer unendlichen Zahl an potenziellen Situationen kommen kann (Rn. 15f.), ist es unmöglich, jede Eventualität im Voraus zu planen. Daher müssen im Training komplexe Zustände und Konstellationen geschaffen werden, die für die Spieler immer wieder neu zu lösen sind. Die Komplexität ergibt sich dabei aus der Anzahl aller denkbaren Entscheidungen. Je mehr Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, desto größer ist die unvorhersehbare Eigendynamik der Situation. Damit steigen die Anforderungen hinsichtlich Technik, Taktik und Kondition. Zusätzlich erhöht sich der Stressfaktor (Rn. 198ff.).
„Ein Trainer kann seinen Spielern sagen, dass sie kombinieren oder direkt spielen sollen, oder er kann Situationen schaffen, durch die sie dazu gezwungen werden.“
– Christoph Biermann (*1960), deutscher Sportjournalist und -autor
Werden beispielsweise in Spielformen Faktoren wie Zielsetzungen, Regeln, Ball- und Untergrundqualität, Mannschafts- und Feldgröße und / oder Begrenzung der Ballkontakte modifiziert oder variiert, beeinflusst der Übungsleiter die Lernumgebung und konfrontiert die Spieler mit immer neuen Aufgaben von unterschiedlicher Komplexität. So werden die Spieler Situationen ausgesetzt, die niemals gleich sind. Auf jede dieser Situationen müssen sie sich einstellen, Informationen verarbeiten, Lösungen entwickeln, Entscheidungen treffen und diese schließlich auch umsetzen. Dadurch wird den Spielern die Fähigkeit vermittelt, sich an neue Situationen schneller anzupassen.7 Das trifft auf taktische Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse (Rn. 41ff.) ebenso zu wie auf das Training der technischen Fertigkeiten (Rn. 50ff.). Sogar die konditionellen Anforderungen werden auf diese Weise beeinflusst. Modifiziert man auch nur einen Aspekt der Lernumgebung, wirkt sich das auf die jeweils anderen aus. Durch diese Nichtlinearität wird die Komplexität und somit auch der Informationsgehalt der Übung multiplikativ gesteigert.8
Zielsetzung / Aufgabe | Rahmenbedingungen | Spieler |
individuelle Ballkontakte | Feldgröße | Anzahl der Mannschaften |
Zeitlimits | Feldform | Anzahl der Spieler pro Mannschaft |
Spiel auf Tore | Untergrundqualität | Über- / Unterzahlspiele |
vorgegebene Anzahl Pässe | Ballqualität | neutraler Spieler |
Trefferbedingungen |
Abb. 3: Strukturmodifikationen der Lernumgebung
Anzahl der Ballkontakte
20 Durch die Begrenzung der Anzahl individueller Ballkontakte in den Spielformen werden beispielsweise die Spieler ohne Ball dazu angehalten, schneller Lösungen anzubieten, während der ballführende Spieler gezwungen wird, schneller Lösungen zu finden. Die Änderung der Anzahl an individuellen Ballkontakten beeinflusst demnach das Passspiel hinsichtlich Taktik (Anbieten zum Ball, Wahl einer Passoption), Kognition (Wahrnehmung von Passoptionen) und Technik (Ausführung des Passes). Sie beeinflusst sogar die Spielintensität (Rn. 187),9 weil sich schneller bewegt werden muss, um anspielbar zu sein. Damit wirkt sich die Einschränkung individueller Ballkontakte auch auf konditionelle Aspekte aus.
Zeitlimits
21 Zeitlimits für bestimmte Handlungen provozieren durch den daraus entstehenden Druck schnelle und (mental) geradlinige Lösungen. Gibt man etwa den sich gegenüberstehenden Trainingsmannschaften in einer Spielform vor, dass sie zehn Sekunden nach Ballgewinn zum Torabschluss kommen sollen, werden damit das schnelle Spiel in die Spitze sowie das schnelle Umschalten beider Teams forciert. Das konternde Team wird in Situationen „gezwungen“, in denen es vorwiegend vertikale Pässe nach vorne spielen muss. Solche Pässe ziehen regelmäßig eine schwierigere Ballverarbeitung und ein schlechteres Blickfeld des Ballempfängers nach sich (Rn. 266). Erforderlich ist zudem ein hohes Lauftempo, sodass auch die konditionellen Komponenten trainiert werden. Ein höheres Tempo führt ferner zu einer schwierigeren Ballbehandlung, was sich direkt auf die Technik auswirkt (Rn. 50ff.).
Umgekehrt