Fußball durch Fußball. Marco Henseling
Durch Variation von Spielerzahl und Feldgröße13, die Coachingintensität14 sowie die Begrenzung individueller Ballkontakte15 wird die Intensität in Spielformen beeinflusst. Damit können zusammen mit den technisch-taktischen Inhalten auch konditionelle Aspekte geschult werden (Rn. 187ff.). Folgerichtig können also schon durch einfache Strukturvariationen mehr Inhalte vermittelt werden, weil ständig neue Situationen entstehen.16 So wird in kürzerer Zeit mehr gelernt, als wenn die Spieler in isolierter und unspezifischer Form instruiert werden würden. Schließlich entsprechen diese nichtlinearen Zusammenhänge auch der Spielrealität, wo geringe Strukturänderungen ausreichen, um komplexe taktische Abläufe zu beeinflussen (Rn. 389f.).
1.2.2Explizites Lernen
30 Das explizite Lernen erfolgt durch die bewusste Aufnahme von Informationen, wobei Wissensinhalte und / oder Erinnerungen gespeichert werden. Dabei sind die Lernziele ausdrücklich festgelegt und werden in hochgradig spezialisierten Übungen geschult oder unter Verwendung visueller Hilfsmittel (wie Taktiktafel oder Video) gelehrt. Die Wissensvermittlung erfolgt regelmäßig fremdinstruiert. Das erworbene Wissen kann – etwa mittels Instruktionen – leicht verbalisiert werden.
Instruktionen sind Handlungsanweisungen und sollen die Aufmerksamkeit der Spieler zu Lehrzwecken auf die wichtigsten Aspekte der gegenwärtigen Aufgabe und Situation lenken. Dabei sollen die Lernziele offenbart werden, sodass der Lernende unter Anleitung systematisch Lösungen sucht, wenn er dazu allein nicht in der Lage ist. Insofern ist das explizite Lernen eine Ergänzung zu den impliziten Lernprozessen.
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Das regulierende Eingreifen des Coaches mittels Instruktionen in die Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse beeinträchtigt die Wahrnehmungsebene und schränkt so den potenziellen Lösungsrahmen ein (Rn. 102 und 142). Dahingehend muss das Coaching vorsichtig eingesetzt werden (Rn. 73ff.). Fragen (Rn. 75f.) und Analogien (Rn. 77) bieten Alternativen zu Instruktionen. Zwar sollen auch sie die Aufmerksamkeit des Spielers lenken, diktieren aber weniger die Richtung. Stattdessen wird der Spieler zu selbständigem Denken angeregt. Er wird dabei nicht angeleitet, sondern begleitet, und muss letztlich die Lösung alleine finden.
1.2.3bottom-up – top-down
32 Die Wissensaneignung findet beim impliziten Lernen unbewusst durch (emotionale) Wahrnehmung statt. Darum verläuft dieser Prozess gegenüber dem expliziten Lernen schneller, und das erlangte Wissen ist weniger anfällig dafür, wieder vergessen zu werden.17 Weil beim expliziten Lehren abstrakt und episodisch geschult wird, kann das Wissen im Gegensatz zum impliziten Lernen nicht ganzheitlich, sondern nur isoliert und fragmentarisch vermittelt werden.
Da taktisches Verhalten „aus gespeicherten Erfahrungen und aus der aktuellen wahrgenommenen Situation“ entsteht, lässt sich schließen, dass zur Vermittlung taktischen Wissens sowohl implizite als auch explizite Lernprozesse geeignet sind.18 Allerdings entfalten sie ihre Wirksamkeit stets in Abhängigkeit von der Ausprägung des technisch- taktischen Leistungsniveaus der Spieler und der Komplexität der jeweiligen Trainingsaufgabe.19
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Werden taktische Verhaltensweisen implizit vermittelt und in taktisches Wissen gewandelt, basiert diese Abfolge auf dem sogenannten bottom-up-Prozess. Hierbei wird das technisch-taktische „Wissen“ zuerst in spielnaher Form erlebt beziehungsweise erfahren. Man bekommt sofort ein Feedback, indem die ausgeführte Entscheidung erfolgreich endet oder eben nicht. Die positiven Erfahrungen werden beibehalten und die negativen korrigiert, bis sie funktionieren. Anschließend werden diese Erfahrungen in Regeln umgewandelt,20 welche in zukünftigen Situationen zu schnelleren Entscheidungen führen (Rn. 46ff.).
Eine zunächst theoretisch-verbale Schulung (etwa mittels Taktiktafel oder Videoanalyse), mit der den Spielern anhand von Wenn-dann-Regeln und Instruktionen (Rn. 70ff.) vorab deutlich gemacht wird, wie ihre Handlungen für bestimmte Situationen aussehen sollen, folgt dem expliziten top-down-Prozess.21 Bottom-up-Prozesse stellen also auf die Wahrnehmung der Lernsituation ab, während top-down-Prozesse die selbst- und fremdinstruierten Verhaltensziele und die gespeicherten Erfahrungen erfassen.22
Implizites Lernen | Explizites Lernen | |
Lernprozess | unbewusst | bewusst |
Wahrnehmung | emotional | deklarativ |
Steuerung | selbstorganisiert | fremdinstruiert |
Aufwand | gering | hoch |
Geschwindigkeit | schnell | langsam |
Dauer | langanhaltend | wird leichter vergessen |
Wissen | schwierig zu verbalisieren | leicht zu verbalisieren |
Darstellung | ganzheitlich | isoliert |
Abb. 7: Unterschiede des impliziten und expliziten Lernens (vgl. Sun / Mathews / Lane 2007)
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Verschiedene Studien haben herausgestellt, dass sich der implizite bottom-up-Prozess insbesondere für Anfänger eignet, während der explizite top-down-Prozess eher bei Fortgeschrittenen zu Erfolg führt.23 Darüber hinaus weisen explizite Lerner in (hoch)komplexen Situationen stärkere Lerneffekte auf als implizite Lerner,24 während implizite Lerner dann besser lernen, wenn die Situation übersichtlich ist.25
Ein Erklärungsansatz für diese Ergebnisse ist, dass geringkomplexe Situationen besser bewältigt werden, wenn zwischen der wahrgenommenen Situation und dem gespeicherten (deklarativem) Wissen keine „unnötigen Verrechnungen“ stattfinden müssen. Ansonsten würde eine einfache Situation unnötig stark verkompliziert, wenn die Spieler ständig die Instruktionen ihres Trainers befolgen und gleichzeitig die Informationen aus der Umgebung zur Entscheidungsfindung bewerten müssten. Zudem könnte durch Instruktionen die Wahrnehmung derjenigen Spieler eingeschränkt werden, deren Spielerfahrung noch gering ist (Rn. 67 und 73f.), was insbesondere für Kinder gilt (Rn. 102ff.).26
Demgegenüber reicht die Verarbeitung der Informationen aus der Umwelt bei höherer Situationskomplexität alleine nicht mehr aus, um adäquate Lösungen zu finden.27 Es bedarf dabei nunmehr auch der Verwendung von Instruktionen und Erinnerungen, die sich zuvor durch implizit erworbene Erfahrungen angeeignet werden müssen. Damit also explizite Lehrmodelle ihre Wirksamkeit entfalten können, müssen seitens der Spieler eine ausreichende Spielerfahrung und ein taktisches Grundverständnis vorhanden sein.
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Im Ergebnis heißt das, dass implizite und explizite Prozesse derart zu verbinden sind, dass entsprechend des Niveaus der Spieler der größtmögliche Lernerfolg gewährleistet wird. Die Komplexität der Übungs- und Spielformen ist also je nach Niveau der Spieler und des Teams anzu passen. Dementsprechend gilt auch bei der Einführung neuer Strategien, dass zunächst der bottom-up-Prozess genutzt wird.28 Die Spieler sollen in Übungs- und Spielformen mit geringer Komplexität die technischen, taktischen, physischen und mentalen Besonderheiten der jeweiligen Strategie erfahren und verinnerlichen. Mit zunehmender Sicherheit und Erfahrung erhöhen sich Komplexität und Schwierigkeitsgrad, was zunehmend explizite Lehr- und Lernprozesse notwendig macht (sogenannte Dual-Prozesse).29