Die Hauptsache. Hilary Leichter

Die Hauptsache - Hilary Leichter


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sowohl numerisch als auch physisch.

      »Wieso verstecken Sie sich?«, frage ich ihn.

      »Ich verstecke mich nicht, ich sterbe.« Er knackt noch eine Pistazie, isst die Nuss und dann beide Schalenhälften. »Haben Sie Kapazitäten? Jetzt, wo Sie mich nicht mehr vertreten müssen?«, fragt er. »Ich hätte da ein etwas ungewöhnliches Anliegen.«

      Ich verweise ihn an meine Agentur, an Farren, aber er hat schon mit ihr gesprochen. Das Leben ist schneller als jedes Protokoll. Und so landet irgendwann der Karton vor meiner Tür. In dem Karton ist eine Urne, und in der Urne ist der Mann, und der Mann ist Asche.

      »Du sollst ihn mit dir herumtragen«, sagt Farren. »Er war ein Mann von Welt und die ganze Zeit auf Achse, und das soll auch so bleiben.«

      »Und wann ist der Auftrag zu Ende?«, frage ich.

      »Geht in der Unendlichkeit dieser Welt jemals irgendetwas zu Ende?«, fragt Farren. Ich kann hören, wie ihre Fingernägel auf den Schreibtisch trommeln.

      Den Vorstandsvorsitzenden umzubetten ist eine haarige Angelegenheit. Mein praktischer Freund hilft mir bei der Konstruktion eines winzigen Papiertrichters, mit dem ich die unruhig rieselnden Überreste in das Medaillon einfülle.

      Das Medaillon ist ein umgewidmetes Geschenk von meinem praktischen Freund und enthielt früher ein Tröpfchen seines Lieblingsbourbons. Ich weiß noch, wie spröde seine Gesichtshaut war, in der kalten Nacht, als er es aus der Jackentasche zog wie ein Kaninchen aus einem Zylinder, flink und liebevoll und strahlend vor Selbstzufriedenheit. Schmuck sei ein Zeichen der Zuneigung, hatte man mir gesagt. Wie Haustiere, wie Blumen.

      »Das habe ich geschmiedet, für dich!«, sagte er mit erwartungsbehauchter Stimme und vollführte ein Kunststück von der Art, die mich so richtig vom Hocker haut: Er öffnete mit wurstigen Handschuhfingern den Kettenverschluss. Er erwartete, dass ich die Kette täglich trug. Erwartung troff ihm aus allen Poren. Ständig lauerte er darauf, dass man ihn beglückwünschte, zu dieser einen Nettigkeit an diesem ganz bestimmten Tag. Zum Glück sahen wir uns höchstens einmal im Monat, so konnte ich ihm ein Märchen erzählen, in dem ich die Kette tagtäglich trug. In dem Märchen trug ich sie ewig und drei Tage, und sobald sich unsere Wege trennten, nahm ich sie nie und nimmer ab.

      Sie ist schön. Sie sieht alt aus, wie etwas mit Geschichte. Es ist nicht so, dass mir an der Kette nichts liegt. Aber mir liegt nichts daran, ein falsches Bild zu vermitteln. Oder ein richtiges. Ich will gar nichts vermitteln. Auf keinen Fall will ich meinen praktischen Freund pikieren.

      Mein praktischer Freund, der jetzt Asche auf den Fußboden meiner Wohnung trichtert, wirkt nicht so, als wäre ihm seine Aufgabe zuwider, er lässt auch keine Anzeichen von Ärger erkennen. Nur die Ahnung einer Grimasse, die sich im Verborgenen regt, umspielt seine lächelnden Mundwinkel, als wollte er sagen: So war das aber nicht gedacht.

      Nach mehreren Pannen, einem Aschehäufchen auf meinem Teppich, einem Zwischenspiel mit dem Staubsauger und einem Besuch der Fusselbürste haben wir einen kleinen Teil des Vorstandsvorsitzenden umgebettet und auf meinem Körper platziert, so wie es ihm gebührt. Ich streiche mir die Haare aus dem Nacken in Vorbereitung auf die Kette. Ich greife nach dem Saum meines Shirts in Vorbereitung auf meinen Freund.

      Später, als er auf der Couch ein Nickerchen macht, verstaue ich die übrigen Überreste des Vorstandsvorsitzenden im Karton, und den Karton verstaue ich in meinem Schrank, in einem Winkel in der Wand, der einer kleinen Höhle gleicht, einem Schränkchen im Schrank für Knabberzeug, einer Katakombe, einer Gruft, vor der meine Business-Handtaschen und Nieten-Clutches, meine gestreiften ärmellosen Oberteile, die geschlitzten Röcke und pillerigen Pullover Wache halten.

      Und was ist mit der Beerdigung? Und was ist mit der Familie? Frage ich mich.

      Am Tag darauf geht mein erstes Gehalt aus dem Nachlass des Vorstandsvorsitzenden auf meinem Konto ein. In der Woche darauf wird die Kette auf meiner Haut ganz heiß.

      »So also lebt das gemeine Volk!«, sagt er. Er steht auf der Couch, tippt mit der Hand an die Zimmerdecke, springt auf den Boden, wo er sich setzt.

      »Sie hier?«, frage ich. »Wie kann das sein?«

      »Männer von Welt sind immer auf Achse!«, sagt er, als wäre nichts offensichtlicher als das.

      Ich sehe erst die Kette an und dann ihn. »Erfüllen Sie auch Wünsche?«, frage ich.

      »Sehe ich aus wie ein Flaschengeist?«, fragt er zurück und löst sich in Luft auf.

      Meine festen Freunde gewöhnen sich allmählich an meine neuen Marotten. Dass ich aus heiterem Himmel leere Stühle anstarre. Dass ich beim Abendessen Selbstgespräche führe.

      »Verstehe, der Vorstandsvorsitzende hat also wieder beschlossen, uns Gesellschaft zu leisten«, sagt mein agnostischer Freund, lässt die Knöchel knacken und würde sterben für ein Gespräch über den Tod.

      »Ist er denn, na ja, so richtig groß?«, fragt mein größter Freund. »Also, ich meine, größer als ich?«

      »Fast«, sage ich.

      »Und was hast du ihm von mir erzählt?«, fragt mein Lieblingsfreund. Ich lüge. Die Wahrheit ist, ich habe ihm gar nichts erzählt.

      »Wann gehen Sie denn endlich auf Achse mit mir?«, beschwert sich der Vorstandsvorsitzende. »Ich bin ein Mann von Welt und bekomme nichts mit von der Welt! Wir unternehmen ja nichts!«

      Ich ziehe meine Turnschuhe an, und wir gehen joggen im Park. Die Hunde lenken ihn ab. Er versucht, jeden zu streicheln, aber ohne Erfolg.

      Wenn der Vorstandsvorsitzende tagsüber seinen Geschäften nachgeht, stelle ich meine Turnschuhe in den Flur. Die Schuhe, in die ich gegen Bezahlung gesteckt werde, wechseln ständig die Größe.

      Jahrelang stand ich im Dienst einer Frau, die Hilfe bei der Organisation ihres Schuhschranks brauchte.

      »Stimmt, es war einmal eine alte Frau, die in einem Schuh wohnte«, sagte Farren, »aber hier geht es um alte Schuhe, die bei einer Frau wohnen.«

      »Das dürfte zu schaffen sein.«

      »Die Einstellung lob ich mir!«, sagte Farren. »Wenn du dich gut machst, kann ich dir noch mehr Märchenjobs verschaffen.«

      Beinah hätte ich gelacht, aber Farren meinte es ernst. Ich kenne eine Aushilfe, die ist Taubenphobikerin und hat ein paar Schichten lang Töpfchen und Kröpfchen befüllt. Farren wollte sie für ganze drei Monate vermitteln.

      »Kröpfchen schon wieder?«, fragte die Aushilfe. »Kannst du knicken! Lieber krepier ich!«

      Sie erzählte mir, dass ihr eine andere Agentur ein besseres Angebot gemacht hatte, irgendwas mit Spreu und Weizen. Aber ich bin mir sicher, dass ihre Einstellung sie auf dem Pfad zur Entfristung ein paar Jahre zurückgeworfen hat.

      Die Frau, die mit ihren alten Schuhen zusammenwohnte, hatte ein großes Apartment in Uptown. Noch nie hatte ich so hohe Decken gesehen. Aus den Tiefen ihrer Abstellkammer förderte sie ein prächtiges Bronze-Schuhregal in Form eines Nautilus zu Tage. Es war spiralförmig wie die Flugbahn des Falken, der sich auf seine Beute stürzt. Steil kreist er auf den Erdboden zu, damit seine seitlich am Kopf liegenden Augen das Angriffsziel nicht aus dem Blick verlieren.

      »So, sehen Sie?«, sagte die Frau, nahm einen knallorangen Slipper zur Hand und schob ihn in eins der Fächer. »Sie können die Schuhe auch nach Absatzhöhe oder Farbe sortieren«, sagte sie. »Wie es Ihnen gefällt!«

      Sie gewährte mir das kleine bisschen Freiheit mit dem großzügigen Gebaren eines Start-up-Investors.

      »Wie wäre es, wenn Sie die Schuhe nach Einsatzhäufigkeit sortieren?«, fragte ich.

      »Oh, ich trage diese Schuhe doch gar nicht«, sagte sie und lachte. »Dafür gibt es einen anderen Schrank, aber der ist an einem anderen Tag dran.«

      Den anderen Schrank habe ich nie gesehen, kein einziges Mal.

      Die Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnte, war mutterseelenallein. Deswegen ließ


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