Die Hauptsache. Hilary Leichter

Die Hauptsache - Hilary Leichter


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nach sich zog. Erst sollte der Karton hierhin, dann sollte er dorthin. Die Lebensmittel, die ich die Treppen hinauftrug, schimmelten, durchliefen die Mauser, wanderten die Treppen hinunter, landeten im Müll. Anfangs dachte ich, sie will mir einen Gefallen tun, indem sie Arbeit fingiert, wo keine ist. Inzwischen weiß ich, dass es sich um ein Spiel handelt, ein ewiges Ungeschehenmachen, das dazu führt, dass man nichts erreicht und sein Leben infrage stellt.

      Man sollte meinen, ich hätte meinen Frust an den Schuhen ausgelassen, aber die Schuhe trifft keine Schuld, und ich will doch für alle nur das Beste. Ich trug sie auf Händen, bewahrte sie vor Kratzern und Flecken, befreite sie mit feuchten Lappen und trockenen Tüchern vom Staub. Einfetten, polieren, streicheln. Ein einziges Mal, ich gebe es zu, sind meine Hände in ein Paar lacklederner Pumps geschlüpft und haben – ein Verhaltensrelikt aus meiner Vergangenheit als Schuhputzerin in der Grand Central Station – einen Stepptanz vollführt. Aber nie hat ein Fuß von mir das Leder auch nur eines ihrer Schuhe gedehnt. Wenn meine Arbeitgeberin außer Haus zu Mittag aß, hielt ich einen der rosafarbenen, wildledernen Pumps an meine Wange, er war welpenweich und roch neu und alt zugleich.

      Meine Großmutter hatte einen muffigen Schrank voller Sandalen mit klobigen Sohlen. Aber sie waren nicht annähernd so überzeugend wie die Sandalen der Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnte.

      An den Wochenenden sprang ich ganz in der Nähe für die Schaufensterpuppen eines Kaufhauses ein, um mir etwas dazuzuverdienen. Der Schaufensterdekorateur arrangierte unsere Gliedmaßen zu ausgefallenen Tableaus.

      »Aufs Törtchen legen«, sagte er und hob meinen Ellenbogen auf die überdimensionale Sahnehaube mit Kirsche. »Man muss dir glauben, dass dich dieses gesponserte Feingebäck seelisch aufrichtet«, sagte er und drehte meine Handinnenflächen zu einer flehentlichen Geste gen Himmel. »Und jetzt mach Dessert-Augen!«

      Stumm wie Schnee standen wir Schaufensterpuppen während der Feiertage in einem Diorama aus Glitter, Lametta und Licht.

      Mein Freund, der ständig in Kaufhäuser rennt, hat mich abends oft in der Delikatessabteilung besucht. Brezeln und Klöße to go. Er hatte ein Auto, und manchmal fuhr er mich nach Hause. Mir gefiel das ramponierte Polster des Beifahrersitzes, die Abnutzung durch schamloses Fläzen. Ich fläzte mich so schamlos in den Beifahrersitz, dass ich manchmal zu schnarchen begann, nur der Gurt bewahrte mich davor, aufs Armaturenbrett zu kippen.

      »Ich mag, wenn du dich nach der Arbeit nicht umziehst«, hat er einmal gesagt. Mein Löwendompteusenkostüm war voller Troddeln. »Und jetzt mach Löwenaugen«, hatte der Dekorateur gesagt, »als hättest du gerade den Löwen gezähmt und wärst jetzt selbst der Löwe. Du weißt schon, nicht nur, aber auch.«

      Einmal, als ich abends meinen Freund treffen wollte, den, der ständig in Kaufhäuser rennt, ging ich einen Umweg über die Damenmodeabteilung, und dort sah ich sie, die Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnt, die Frau, bei der ich beschäftigt war. Sie saß in einem kniehohen Meer aus Turnschuhen, Slippern, Stilettos und Sandalen. Um ihre zarte Gestalt verstreut lagen zahllose Größen, Ausführungen und Kartons. Einen Moment früher, und ich hätte vielleicht verpasst, wie sie ihre alten Oxfords ordentlich unter einer der gepolsterten Bänke verstaute und in eleganten Mokassins das Kaufhaus verließ, ohne ihre Neuanschaffung zu bezahlen.

      Deshalb hatte ich auch keine Skrupel, noch in derselben Woche ein besonders edles Paar aus ihrem Schrank zu stehlen. Eine Größe zu klein, aber egal. Auge um Auge, Schuh um Schuh. Ich hätte es keine Sekunde länger ertragen, mit anzusehen, wie das Paar ungetragen versauert.

      Jetzt stehe ich mit meinem größten Freund an der Bar und trage die fraglichen Schuhe: hohe Stiefel ohne Reißverschluss, die sich nur mit großer Mühe an- und ausziehen lassen. Aber die Arbeit lohnt sich, die Stiefel verwandeln meine Beine in reinste Kalligrafie. Während ich mit Farren telefoniere, klopfen meine Absätze gegen die Barhockerbeine. Sie hat einen neuen Job, einen Job nur für mich.

      »Worum geht’s?«, frage ich. Mein größter Freund hat sich seiner Größe sei Dank die Aufmerksamkeit des Barmanns gesichert und einen Wodka-Soda für mich bestellt.

      »Kommt ganz drauf an«, sagt sie geheimnistuerisch. »Was ist mit Seekrankheit? Irgendwelche Erfahrungen? Fortbildungen?«

      »Seekrankheit?«, wiederhole ich. Mein größter Freund runzelt die Stirn und wirkt dadurch noch größer.

      »In deinem Lebenslauf steht nichts dazu, deswegen frage ich«, sagt Farren. »Sei ehrlich.«

      Wenn sie sagt, dass ich ehrlich sein soll, meint sie eigentlich, dass ich mir nicht so viele Gedanken machen und einfach lügen soll. Ich will mir nicht so viele Gedanken machen und einfach jeden Tag lügen. Ich übe vor allem, indem ich mich selbst belüge.

      Seekrankheit, denke ich, spreche das Wort aber nicht aus. Ich berühre den Vorstandsvorsitzenden auf meinem Dekolleté.

      »Denk dran«, sagt Farren, »wer sich seine Entfristung verdienen will, muss seine Komfortzone ab und zu verlassen. Fleiß und Produktivität kann man auch anderswo unter Beweis stellen. Das ist deine Chance, Beständigkeit zu finden. Die Welt ist unendlich, und Arbeit ist, na ja, endlich eben, hab ich recht?«

      Es dauert keine Stunde, und schon holt mich ein schwarzer Lieferwagen ab und bringt mich zu einem großen Schiff. Der Piratenkapitän händigt mir Stempelkarten und eine Vertraulichkeitserklärung aus, allmählich fühlt sich das Ganze offiziell an. Wir spucken in die Hände und besiegeln das Geschäft. Alle meine festen Freunde kommen, um mich zu verabschieden, und ich sehe, wie sie von verschiedenen Punkten auf dem Anleger zum Wasser laufen und winken, Pünktchen in der Ferne mit fliegenden Armen: meine Männer.

      Die Götter schufen die Erste Aushilfe, damit sie Pause machen konnten. Sie sagten: »Es werde Freizeit« und »Spring für uns ein, okay? Hier sind unsere Passwörter und Zugangscodes. Hier ist die Schlüsselkarte. Hier ist das Ding, mit dem du die Schlüsselkarte an deine Handtasche stecken kannst. Alles klar? Ach so, sorry, hier ist die Handtasche. Na los, pack sie voll, bis sie platzt! Voller noch! Genau, die Tasche muss schwer sein! Hier ist dein Vertrag, da drüben ist der Kopierer, und da ist der Ordner, zu dem jeder Zugang hat und in dem alles Erdenkliche abgelegt ist.«

      Die Erste Aushilfe fiel von einem Meteor und war von keinem besonderen Ehrgeiz getrieben. Die Götter mussten sie festnageln, damit sie nicht davonflog, so rastlos war das neue Seelchen, so flatterhaft sein Wesen. Der Fairness halber sei gesagt, dass die Götter noch keine Schwerkraft erfunden hatten. Arbeitsloses Geschmeiß stieg geradewegs in die Wolken auf, nur eine Anstellung verlieh dem Leben das Gewicht der Redlichkeit.

      Ihren ersten Arbeitstag verbrachte die Aushilfe damit, den Ordner zu studieren, zu dem alle Zugang hatten und in dem alles Erdenkliche abgelegt war. Sie machte sich vertraut mit allen Unterabteilungen des Ordners, mit jedem Dokument. Vögel, Bienen, Mitochondrien. Schon damals, als die Erde kaum mehr als eine weite leere Oberfläche war, bemerkte sie den gewaltigen Umfang des Ordners. Was leer aussah, war voller mikroskopischer Anlagen zur Entwicklung von Leben. Unendliche Listen mussten erstellt werden. Aber wenn die Erde schon so voll war, würde die Erste Aushilfe dann je eine Stelle finden? »Stelle« bedeutete damals etwas völlig anderes als heute. Das Wort bezeichnete keine Anstellung, keine Beschäftigung, sondern einen Ort, einen Platz, an den die Dinge gehörten. Die Erste Aushilfe stellte Bäume, Strände, Fossilien und Troddeln ein. Und sie dachte über sich selbst und die Unbeständigkeit ihrer eigenen Stelle nach.

      »Kann ich bleiben? Unbefristet?«, fragte sie, und die Götter lachten und machten Mittagspause.

      Abends, wenn die Götter in ihre göttlichen Behausungen gingen, dachte die Erste Aushilfe: Und jetzt? Im Büro herrschte nachts dieser Geruch. »Das ist der Duft der Innovation«, hatten die Götter ihr erklärt. Sie suchte sich eine Ecke, in der es nicht so stark roch, und blieb eine Weile dort sitzen. Es war kein richtiges Büro, nicht so, wie man sich heute ein Büro vorstellen würde. Das Büro war eine Ansammlung träger Materie, die einem das Gefühl von Arbeit vermittelte.

      Die Erste Aushilfe aktivierte ihre Schlüsselkarte und wischte sich ins Dasein.

      Arbeit zu Wasser

      Auf


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