Die Hauptsache. Hilary Leichter
fragt er.
Ich denke an die vielen verfestigten, voneinander getrennten Ichs in mir, die sich untreu sein müssen, damit sie nebeneinander existieren können.
»Wo ist dein Ehrgeiz?«, regt er sich auf. »Wo sind die Leichen, über die du gehst?«
»Das ist nicht so mein Stil«, sage ich und erspüre mit den Zehen das Ende der Planke.
»Ich erzähl dir jetzt mal was«, sagt er. »Mein erster Pudel hieß ›Stil‹, und die Insel, die ich mir mal gekauft habe, hieß auch ›Stil‹, und ich hab ›Stil‹ immer wie Schtiel ausgesprochen, einfach so, weil ich’s konnte. Ich hab Stil im Grunde erfunden.«
Mein Blick wandert zum Horizont, hoffentlich taucht die Insel des Vorstandsvorsitzenden auf. Als ich wieder zu ihm sehe, ist er weg.
Noch schlafen fast alle auf Deck. Der Erste Offizier des Personalmanagements, ein zufriedenes Häuflein Mensch, kuschelt mit sich selbst. Der Assistent der Geschäftsleitung klettert über die Strickleiter wieder an Bord, seine Sachen sind klatschnass.
»Hi«, sagt er schüchtern. Dann geht er unter Deck und zieht sich um. Ich koche ihm den besten Kaffee, den er je getrunken hat, dann noch einen, und wir verlieren kein Wort darüber.
In der Mittagspause gehe ich ins Sekretariat unter Deck, um meine Freunde anzurufen. Um genau zu sein, rufe ich meinen lustigen Versicherungsvertreterfreund an, der immer ein, zwei Witze oder eine ulkige Story parat hat.
Als er rangeht, ist er in meiner Wohnung. Er hat einen Ersatzschlüssel und ist zwei von meinen anderen Freunden in die Arme gelaufen, als er einen alten Pullover abholen wollte. Sie sitzen gerade zu dritt auf dem Sofa und gucken sich das große Spiel an! Ob es mir etwas ausmachen würde, wenn sie auch in Zukunft zusammen auf dem Sofa sitzen und sich Spiele angucken? Vielleicht auch die Oscars und die People’s Choice Awards und andere Fernseh-Events? Wie sich herausstellt, haben meine Freunde wahnsinnig viel gemeinsam und sehr viel zu bereden.
»Das macht mir überhaupt nichts aus, Sportsfreunde!«, sage ich.
»Hast du gerade gesagt, dass dir Sport Freude macht?«, fragt mein Versicherungsvertreterfreund. Es ist laut in meiner Wohnung. Irgendwer hat irgendeinen Treffer gelandet, und irgendwer ist so richtig drauf angesprungen.
»Ja, genau«, sage ich.
»Ihr macht alles Freude!«, sagt jemand im Hintergrund, und an der Stimme erkenne ich meinen Lebenscoaching-Freund. Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen, aber er hat mir beigebracht: Zeit mal Entfernung ist gleich Quadratwurzel aus Zuneigung und langfristigem Erfolg. Über seinem Bett hängt ein Poster, das diesen Zusammenhang veranschaulicht.
Wie schön, dass die Freunde alle Hallo rufen! Ich spreche ins Telefon, und es fühlt sich so an, als würde meine Stimme versagen. »Schlechte Verbindung«, sage ich. Meine Freunde sind sich einig, dass es auch schön ist, mich Hallo rufen zu hören.
»Könntet ihr meinen Geldbaum gießen, wo ihr schon mal da seid?«, frage ich.
»Na klar doch!« Ich höre den Wasserhahn laufen, Schritte durchs Zimmer, die Versorgung der Pflanze.
»Und die Post reinholen?«, frage ich.
»Ist doch das Mindeste, was wir tun können!«, sagt mein größter Freund.
Ich habe vier Kataloge, drei Lieferserviceprospekte und zwei absolut einmalige »Null-Prozent-Ratenzahlung-Geld-zurück-wenn-es-Ihnen-nicht-gefällt-und-nur-so-lange-der-Vorrat-reicht-Angebote« bekommen. Ein Brief ist auch dabei, von der Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnt.
»Eine ehemalige Arbeitgeberin«, sage ich. »Was steht drin?«
Mein Lebenscoaching-Freund räuspert sich und liest vor, eine Schmähung meiner Person, meiner Knie, meiner Füße und Zehen – meines mittleren Zehs, der unter der Nachbarzehe klemmt (Inbegriff der Blasphemie!), und meines kleinen Zehs, der aussieht wie eine ganz unten im Körbchen liegende, zermatschte und strunklose Erdbeere, die keiner mehr essen will –, und muss sie es wirklich noch erwähnen, muss sie noch, ja, muss sie? Sie weiß natürlich, dass ich sie gestohlen habe, ihre Stiefel, ihre Babys, aber wieso, warum, womit hat sie etwas so Infames verdient? Und wann will ich denn die Stiefel bitte schön zurückbringen? Und natürlich kennt sie das alte Sprichwort, dem zufolge seine Füße behält, wer seine Schuhe verliert, und das gilt wohl auch, wenn man seine Schuhe nicht verliert, sondern wenn sie einem gestohlen werden, aber sei es, wie es sei, falls mein plattfüßiges Gewatschel das erlesene Leder auch nur einen Hauch gedehnt haben sollte, dann Gott im Himmel – oder wo auch immer sich die Götter rumtreiben, die eine Schuhe stehlende Diebin als Gottheit begreift –, dann Himmel, Arsch und Lacklederkratzer würde sie mir aber eine Lektion erteilen, dann müsse ich aber bezahlen.
Der Fernseher erfüllt die Leitung mit Geräuschen, als würde die Welt zermalmt.
»Bleibst du noch lange weg?«, fragt mein blauäugiger Versicherungsvertreterfreund, seines Zeichens Spezialist für den Realwert meiner menschlichen Existenz.
»Wahrscheinlich nicht«, sage ich. »Aber die Sache ist, wir müssen hier noch jede Menge schaffen.« Der Satz gefällt mir. Es fühlt sich an, als würde ich sagen: Das ist meine Sache, was hast du damit zu schaffen?
»Mach dir keine Sorgen«, sagt er. »Solange du weg bist, passen wir gut aufeinander auf.«
Mit einem gedehnten Super bekunde ich Zustimmung. Gleichzeitig fühle ich mich leer wie eine Höhle, und bevor ich mich richtig verabschieden kann, bricht die Verbindung ab.
Worin die Arbeit an Bord wirklich besteht, weiß ich nicht, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Wir sitzen im Krähennest, und Pearl erklärt mir, dass wir Investoren suchen und wenn nötig auch stehlen. Bald gehen wir auf die Suche nach Venture-Kapital.
»Der Kapitän sagt Adventure-Kapital dazu«, erklärt sie, und ihre Füße baumeln über Deck, umkreisen einander wie Vögel, eine Verfolgungsjagd im Miniaturformat. »Beute machen«, flüstert sie.
»Und ist das gefährlich?«, frage ich.
»Klar«, sagt sie, »aber ein Tacker in den falschen Händen ist auch gefährlich.«
Pearl ist eine erfahrene Verhandlerin, ihre Räuberpistolensammlung wird mit jedem Auftrag größer. Sie schaukelt Bilderbuchbeutezüge und lässt ihre Opfer glauben, sie hätten die Sache für sich entschieden. Wir sollten nach einer Lösung suchen, die für beide Seiten befriedigend ist, sagt sie, während ihre Schiffskameraden brandschatzen und plündern. Diese Taktik ist ihr Markenzeichen. Sie brüstet sich, dass sie den Kapitän dazu bringen könnte, sie zur alleinigen Kapitänin zu befördern. (»Doppelspitze? Niemals!«) Dass sie den Himmel dazu bringen könnte, zu donnern. Dass sie einen Fisch dazu bringen könnte, zu fliegen.
»Wie Fliegende Fische, meinst du?«, frage ich.
»Nein, wie Möwen. Wie diese mistigen Möwen.«
Sie stört sich daran, dass keiner ihrer Kollegen eine Augenklappe trägt. »Der Job wäre so viel einfacher«, sagt sie und will mich dazu überreden, ein Vintage-Modell aus braunem Leder mit filigraner Totenkopfstickerei anzulegen.
»Würde unserer visuellen Markensprache gut zu Gesicht stehen«, sagt sie.
»Lieber nicht, danke.«
»Aber die passt doch so gut zu deinen Haaren!«
»Wirklich, danke. Ich brauche keine Augenklappe.«
»Also wenn’s weiter nichts ist, kann ich dafür sorgen, dass sich das ändert, für immer«, schlägt Pearl vor. Würde mir Pearl ein Auge ausstechen, nur für den Look? Wahrscheinlich gibt es Leute, die nur für den Look noch viel weiter gehen würden.
»Was ich eigentlich meinte«, sage ich, »würde die Augenklappe dem Ersten Offizier der Personalabteilung nicht viel besser stehen?«
»Dem?«, fragt sie. Vielleicht bemerkt sie, dass sich meine Züge verhärten, und reitet deswegen nicht weiter auf der Sache rum. »Okay«, sagt sie, »Herausforderung angenommen«,