Die Hauptsache. Hilary Leichter

Die Hauptsache - Hilary Leichter


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alten Hallos. Aha. Wie in jeder neuen Firma fehlt auch hier noch der letzte Schliff, muss das firmenphilosophische Getriebe noch geschmiert, das Anlegerprospekt noch mobilgemacht werden. Keine Meerjungfrau am Bug, der flatternden Flagge fehlt das Logo.

      »Noch! Aber nicht mehr lange!«, sagt der Piratenkapitän. »Wir sind offen für Vorschläge.«

      Meine neuen Kameraden tragen Waffen unterschiedlicher Schlagkraft, hier ein Dolch, da eine Pistole, die eine oder andere Kanone findet sich auch. Zum Glück. Nichts ist schlimmer als ein Büro, in dem niemand weiß, wer das Sagen hat. Mein neues Team hat früher im Bereich Online-Piraterie gearbeitet, aber dann musste ein neues Image her. Zwei Silben weniger, und siehe da, fertig ist das neue Metier.

      »Es gibt auf der Welt nur wenige Arbeitsbereiche«, sagt der Kapitän. Der Kapitän ist einer, der gern doziert. »Arbeit zu Land«, fährt er fort, »Arbeit zur See, Arbeit im Himmel, Geistesarbeit und Telearbeit.«

      »Also Homeoffice?«, frage ich.

      »Nein«, sagt der Piratenkapitän. »Telearbeiter sind tote Arbeiter. Piratenjargon.«

      »Ach so! Wie Davy Jones in Fluch der Karibik

      »Quatsch«, sagt er genervt. »Der verwaltet unsere Büromaterialien.«

      »Ach so, tut mir leid.«

      »Du kriegst den Dreh schon noch raus«, sagt er und schlägt mir mit der flachen Hand auf den Rücken. »Man darf sich doch eingewöhnen um alles in der Welt!«

      Und die Welt zu bereisen, wie herrlich das ist! Der Großteil ist mit Wasser bedeckt, deswegen glaube ich, dem Wesen der Welt jetzt auf den Grund gekommen zu sein. Ja, mein Flaneur-Freund pilgert einmal im Jahr nach Paris, aber hat er je, Überflüge nicht mitgezählt, die frostigen Meerengen in den entlegenen Winkeln des Atlantiks gesehen? Salz in der Nase, Salz zwischen den Zehen, ich kann es gar nicht erwarten, Postkarten zu schreiben, aus meinem schönen neuen, salzigen Leben. Vielleicht sagen meine Freunde dann: Die kommt ja richtig rum!

      Tief in meinem Hals ballt sich wie angekündigt und befürchtet der Brechreiz. Ich muss ihn vertuschen, damit niemand herausfindet, dass mein Lebenslauf nicht ganz der Wahrheit entspricht, und halte einen Eimer bereit. Fliegt mein Magen nach links, lehne ich mich nach Steuerbord. Fliegt mein Magen nach rechts, lehne ich mich nach Backbord. So lerne ich den Unterschied zwischen Backbord und Steuerbord. Ich will den Wellen, die durch meinen Magen pflügen, etwas entgegensetzen. Als ich mit dem Kopf über der Reling hänge und schwanke, entdeckt mich der Erste Offizier des Personalmanagements.

      »Ich bin der Erste Offizier des Personalmanagements«, sagt er. Er hebt mich auf seine breiten Schultern und trägt mich unter Deck in sein Büro. Ich wurde schon so lange nicht mehr getragen.

      »Sitzen bleiben«, sagt er und setzt mich auf sein Sofa, »bis du wieder einsatzbereit bist.«

      Die Personalmanagementkabine ist so gut wie leer. An der Wand hängt ein großes Poster, auf dem ein Kätzchen mit Holzpfote zu sehen ist. »Mieser Pirat, der nicht maust!«, steht darauf.

      »Besser?«, fragt der Erste Offizier.

      Ich schaffe es zu nicken, und sofort meldet sich mein Magen wieder.

      »Wunderbar. Dann lass uns die Sache doch mal evaluieren. Ist dir das Essen nicht bekommen? Hat sich einer deiner Vorgesetzten im Ton vergriffen?«

      »Weder noch«, sage ich.

      »Hast du einen hypersensiblen Würgereiz?«

      »Ich glaube nicht.«

      »Gut. Bist du schwanger?«

      »Wie bitte?«

      »Wenn einer Frau bei der Arbeit übel wird, ist sie meist schwanger. So lauten die Regeln!«

      »Ich bin nicht schwanger.«

      »Sehr gut, sehr gut. Ich muss nur alles in Betracht ziehen. In deinem Lebenslauf steht nämlich, ich zitiere: Seekrankheit ist kein Ding.«

      Mir steigt ein Kloß in den Hals. Ich will ihn runterschlucken, aber Schlucken fühlt sich an wie Schwanken. Ich will mich anlehnen, aber Anlehnen fühlt sich an wie Fallen. Auf meiner Oberlippe sammelt sich zeigefreudiger Schweiß.

      »Könnte ich bitte meinen Eimer bekommen?«, frage ich, und er schiebt ihn zu mir. »Danke.«

      »Nicht dein Eimer«, sagt er und lacht. »Firmeneigentum!«

      »Klar«, sage ich.

      »Soll heißen, geh auch so damit um.«

      »Klar.«

      »Soll heißen, du wirst dich doch wohl nicht in Firmeneigentum übergeben wollen, klar?«

      »Klar.«

      »So.« Er setzt sich in einen Drehstuhl. Der Drehstuhl dreht sich, was für ein Albtraum. »Und was dein mutmaßliches Seekranksein angeht –«

      »Seekrank? Niemals!«, will ich mich erklären, mein Gesicht muss glänzen vor Schweiß. »Seekrank bin ich nicht.«

      »Nein?«

      Ich würge ein Nein hervor, und mein Kopf stürzt in den Eimer. Blitzschnell reißt er meine Haare nach hinten, und das ist noch nicht alles. Er holt ein Haarband aus einer Schublade mit derlei Instrumentarium und flicht meine zottige Mähne auf ganzer Länge zu einem Zopf. Er weiß, was er tut, man merkt es ihm an, dem Zerren und Säuseln, der Einarbeitung des Haarpflegeprodukts. Dann steckt er den Zopf zu einem kleinen Krönchen auf.

      Ich wische mir über den Mund, und er sagt: »Das ist dein neuer sexy Look.«

      Ich fühle mich wirklich wie neu und sexy. Er legt mir den Zeigefinger ins Genick und lässt ihn stumm und langsam über meine frisch entblößte Wirbelsäule gleiten. Zuerst denke ich, er will sich um die kurzen Härchen in meinem Nacken kümmern. Aber das hier ist ein anderes, mir unbekanntes Ritual.

      »Wir vom Human Ressources Management stellen alle nötigen Ressourcen zur Verfügung, damit du so human bleibst wie möglich. Hier sind ein paar Broschüren, mit denen du dich über Fragen des Firmeneigentums und der präzisen Lebenslaufführung informieren kannst, bitte schön«, sagt er und legt sie mir in den Schoß. Das Infomaterial auf meinen Beinen beruhigt aus irgendeinem Grund meinen Bauch.

      »Danke.«

      »Seekrankheit ist heilbar«, sagt er. »Du musst einfach nur daran denken, wie sehr du diesen Job willst!«

      Ich wische mir über den Mund und schaffe zu sagen: »Ich will den Job unbedingt!«

      »Super! Du weißt doch, was Landratten passiert, die sich nicht akklimatisieren, oder?« Er zeigt auf das Poster mit dem Holzbeinkätzchen.

      Ich strecke den Daumen nach oben. Das reicht ihm schon. Er lächelt.

      »Vergiss nicht, dass ich dir geholfen habe. Vergiss nicht, dass ich dein vertrauenswürdiger Personaler bin. Typen wie ich sind hilfsbereit, jederzeit«, sagt der Erste Offizier. Mit feuchten Fingerspitzen löscht er die Kabinenkerze, schließt die Tür und lässt mich schlafen.

      Am nächsten Morgen bin ich vor Schreck wieder kerngesund. An der Tür klebt ein Zettel: »Nur ein sauberer Eimer ist ein akzeptabler Eimer, und ein akzeptabler Eimer ist die einzige Art von Eimer, die es wert ist, gefüllt zu werden.«

      Ich hefte die Logbucheintragungen ab und sorge für Ordnung auf den Schreibtischen. Ich schrubbe das Deck und staple die sauberen Firmeneimer. Ich finde Dreck auf dem Deck, um den sich niemand gekümmert hat, und kümmere mich darum. Ich studiere Das große Buch der Piratenprobleme, Das große Buch der Piratenverbrechen und Das große Piratenbastelbuch. Der Job hat sein eigenes Tempo, übers Knie brechen kann man hier nichts.

      Farren hat versprochen, dass ich anständig bezahlt werde, aber eigentlich weiß ich gar nicht, was ein anständiges Gehalt ist, weil ich mich mit Wasserfahrzeugen nicht auskenne. Andererseits kann ich mich an ein schmales Kanu erinnern, das in meiner Kindheit an einem grasigen Seeufer lag.

      Einmal bezahlen


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