Die Hauptsache. Hilary Leichter
keine bloße Redewendung war. Nichts ist schlimmer als Hexenarbeit, nichts beschämender. Hexenarbeit ist die letzte Option für schwer vermittelbare Aushilfen, und in der 4016. Stunde landete meine Mutter genau dort, bei einer Hexe.
Mit Einzelheiten hielt sich meine Mutter zurück.
»Papierkram vor allem«, sagte sie immer, wenn ich mir die Augen zuhielt und sie fragte. Ich stellte mir wunderbare und übernatürliche Schrecken vor.
»Kesselschrubben, klar. Zauberspruchkorrektorate. Zaubertrankfaktenchecks. Ab und zu auch mal eine Friedhofsmobilmachung und unterirdische Rituale.«
Mir klappte die Kinnlade runter, meine Mutter strich sich die Bluse glatt.
»Aber vor allem Besorgungen«, sagte sie.
»Und was ist mit Kobolden?«, fragte ich. »Und mit Besen?«
Aber meine Mutter zuckte immer nur mit den Achseln und aß ihre Nudeln.
In Wahrheit war sie damals besorgt gewesen, dass der Job auf mysteriöse Weise an ihrer Schwangerschaft, und damit an mir, haften bleiben könnte. Wenn sie abends ihre Heimreise antrat, zählte sie jeden Straßenzug aufs Neue die Stunden nach, um sicherzugehen, dass ich nicht zu früh kam, nicht zu spät, sondern auf die Stunde genau und pünktlich wie die Eisenbahn.
Ungefähr in der 6430. Stunde fuhr die Hexe meine Mutter ins Krankenhaus.
»Mit dem Auto? Wieso hat sie dich nicht einfach geflogen?«, fragte ich.
Meine Mutter lachte. »Versuch du mal mit einer Hochschwangeren auf dem Rücken zu fliegen!«
Geburtstage sind keine große Sache für Aushilfen. Meist übernimmt man den Geburtstag der Arbeitskraft, die man vertritt. Kein Kuchen, keine Papierschlangen, keine großen Buchstaben, die sich auf eine Schnur gereiht durchs Büro ziehen, es sei denn, es steht »Glückwunsch, Karen« drauf und man vertritt Karen an ihrem Geburtstag. Trotzdem erwache ich jedes Jahr an meinem Geburtstag auf die Minute genau in der Stunde meiner Geburt. Trotzdem kann ich mich an die Nacht erinnern, in der ich in die Welt und die Arme meiner Mutter kam und weitergereicht wurde zu meiner am Fenster sitzenden Großmutter und schließlich in die zierlichen Hände der Hexe.
Ich habe es ihr nie gesagt, aber meine Mutter hatte den richtigen Riecher, etwas ist an mir haften geblieben. Weil mir die Hexe mit dem Daumen über die Stirn strich, muss ich mich jedes Jahr an den Tag meiner Geburt erinnern, bin ich gezwungen, auch dann, wenn ich nicht aus meiner fremden Haut kann, einen Teil von mir anzuerkennen.
Das ist es, worüber ich nachdenke, am Abend des Tages, an dem ich geboren wurde, während ich in Gestalt von Darla neben Pearl liege, das Kopf auf dem Kissen, die Hände unter der Wange.
Ich werde von Geschrei geweckt, dann höre ich lautes Platschen und das Rasseln von Ketten.
»Pearl«, sage ich und rüttle an ihr. »Was ist das, Pearl?«
Sie schnarcht, dreht sich um, macht sich breit wie eine Flunder.
Ich stehe auf, ziehe mich den steilen Niedergang hinauf, langsam, ich will niemanden stören. Die Szenerie: ein kleines Boot neben unserem Schiff, voller Menschen. Die Menschen werden nacheinander an Bord und unter Deck getragen. Ich erinnere mich daran, wie der Erste Offizier des Personalmanagements meinen seekranken Körper trug. Jetzt trägt er eine andere junge Frau auf dieselbe Art. Adventure-Kapital.
Ich verstecke mich unter einer Plane und beobachte mit unverklapptem Auge die Gefangennahme. Mit Pearls Augenklappe kann ich zwischen Ober- und Unterdeck wechseln, zwischen Licht und Dunkel, so kann ich immer gut sehen, ohne geblendet zu werden. Unter der Plane habe ich vielleicht nur eingeschränkte Sicht, aber was ich sehen will, das sehe ich.
Die Gefangennahme kommt ohne traditionelle Formen der Kaltblütigkeit aus. Niemandem wird körperliche Gewalt angetan, aber überall ist Gewalt. Überall sind Waffen im Anschlag.
»Lasst uns das hier friedlich über die Bühne bringen!«, sagt der Assistent der Geschäftsleitung mit ausgebreiteten Armen, in jeder Hand einen Dolch.
Das Gesicht des Kapitäns ist so nah, ich könnte es berühren. Vielleicht ist es das Mondlicht oder der Wind, vielleicht sind es die Nadelspitzen der eisigen Gischt, die ihn und seine Stammbesatzung treffen, aber ich erkenne ihn nicht wieder, in dieser seltsam kantigen Visage, meinen netten Chef von vor ein paar Stunden. Gift sprüht ihm aus den Augenwinkeln, und sein kleiner spitzer Mund sitzt ihm grimmig im Gesicht. Für einen kurzen Moment sehe ich, scharf und aufeinandergepresst, seine Zähne.
Die letzten Geiseln werden in den Schiffskerker gebracht, und ich, ich schleiche mich in mein Quartier zurück, wo ich Pearl erwarte, unter der Decke, kalt und klamm. Aber die Koje ist leer. Von jetzt an werde ich dazu übergehen, meine Tür nachts zu verbarrikadieren. Nächtliche Ausflüge finden nur noch in den Grenzen meiner Kajüte statt. Ich werde die Doppelstockkoje hoch- und runterklettern, bis ich meine Matrosenmuskeln spielen lassen und mich gegen jede erdenkliche Niedertracht zur Wehr setzen kann.
Am Morgen erwarte ich eine Betriebsversammlung. Alle Mann an Deck, wie man hier sagt. Aber nichts passiert. Der Tag vergeht, dann noch einer. Ich knote Knoten und knote die Knoten wieder auf. Ich sorge für einen sauberen, ordentlichen Schreibtisch. Niemand sagt ein Wort zu unserer Übernahme. Fusion? Übernahme. An Land würde ich das Personalmanagement konsultieren, aber ich bin hier nicht an Land. Das gekaperte Schiff ist verschwunden. Liegt vielleicht auf dem Meeresgrund, aber auch das ist nur eine Vermutung.
Ich gehe Pearl hinterher, vielleicht kann ich mit ihr reden.
»Hast du einen Moment?«, rufe ich ihr nach.
»Tut mir leid, ich ertrinke in Arbeit!«
Sie sprintet los, dreht sich sprintend noch einmal um: »Ich ertrinke nicht wirklich!« Sie lächelt, damit ich weiß, dass wir noch beste Freundinnen sind.
Alle lächeln. Beim Abendessen wird gelächelt, beim Frühstück wird gelächelt, noch lang nach den Mahlzeiten und bis in den Abend, wenn das Bockbier die Runde macht, wird gelächelt. Alle sind guter Dinge, und allmählich bekomme ich Angst, dass ich mir das, was in der Nacht passiert ist, nur eingebildet habe. Vielleicht ist nichts davon passiert, vielleicht handelt es sich nur um einen neuen Trick des Vorstandsvorsitzenden. Ich habe Bedenken zu sagen, was ich weiß, aus Angst, mein Spionieren und Schnüffeln könnte Darla aufs unverzeihlichste kompromittiert haben. Ich kralle mich an das, was ich zu wissen meine, wie an einen Rettungsring, und frage mich, ob jemand anderes ertrinken muss, weil ich mein Geheimnis für mich behalte.
Ein weiterer Tag vergeht. Und noch einer.
Dann ist Zahltag. Der Papagei-Mann bringt mir eine kleine Schachtel an den Schreibtisch, die ich in seiner Gegenwart aufreiße. Darin liegt, in ein Papiertaschentuch gewickelt, eine mit funkelnden Steinen besetzte Brosche in Form eines Nautilus.
»Passt doch, oder?«, fragt er. »Zu unserem Leben auf hoher See.«
»Guck mal! Mein Armband!« Pearl steckt den Kopf ins Büro und zeigt mir ihr Handgelenk. »Echte Perlen!«
Seidentücher, Halsketten, goldene Gürtelschnallen werden verteilt. Die einen bekommen Münzen, die anderen bekommen Scheine. Wir sind wert, was wir wert sind. Mit der blitzenden Brosche in der Hand denke ich an die Gefangenen unten im Schiff, an die schlotternden Hosen, die nackten Handgelenke und Hälse, die leeren Taschen. Ich lege die Brosche zu meinen Rubinen, meinen Gehaltsschecks, meinem neuen Besitz. Vielleicht, denke ich, ist der Schmuck nur einen Apfel wert, vielleicht auch nur ein Ei. Vielleicht hat er auch gar keinen, nicht einmal ideellen Wert. Vielleicht hat die Brosche auch nicht den Gefangenen gehört, nicht im Sinne des Angehörens und Dazugehörens jedenfalls, aber woher will ich bitte schön wissen, was es bedeutet anzugehören und dazuzugehören, zu einem Menschen, einem Ort, einer Zeit. Das heißt: Vielleicht hat eine der Gefangenen einer anderen Gefangenen die Brosche gestohlen, und diese bestohlene Gefangene wiederum hatte die Brosche von noch einer anderen bestohlenen Gefangenen, und diese von noch einer anderen, und diese von noch einer anderen, und diese von noch einer anderen, und diese von noch einer anderen: Provenienz unbekannt. Wenn ich mir das Verbrechen über mehrere Ecken vom Leibe halte,