Rosenhain & Dschinnistan. Christoph Martin Wieland
ich eine junge Nymphe, die, sobald sie mich gewahr wird, die Flucht ergreift. Es war mir unmöglich, ihr nicht nachzusetzen. Sie läuft schneller als der Wind, und ich verfolge sie durch Busch und Wald, über Berg und Tal bis zu dieser Grotte, in welche sie sich hineinstürzt. Auch hieher folgt ich ihr, aber sie war verschwunden, und...«
»...du fandest an ihrer Stelle eine alte Spinnerin an diesem Rocken sitzen, die dich nicht allzu freundlich anließ?«
Phöbidas, in der Ungewißheit, ob die schöne Dame, die er vor sich sah, und die Alte nicht ebendieselbe Person sei, verstummte abermals. »Du bist ein wunderlicher Mensch«, sagte die Dame. »Gestehe mir aufrichtig, wer bist du?«
»Der Sohn des thessalischen Fürsten, dem diese Landschaft angehört.«
»Die Alte hatte recht«, versetzte die Dame; »wenn dem so ist, desto schlimmer für dich! – Aber wo glaubst du zu sein?«
»Wo anders als im Gebiete meines Vaters, welches sich vom Fuß des Öta über die ganze Gegend um Elateia erstreckte«
»Deine Nymphe hat dich weiter geführt, als du glaubst. Diese Grotte ist ein Teil des Parnassus, und du bist im Gebiete – des delphischen Gottes und seiner Schwester.«
»Ist's möglich?« rief Phöbidas bestürzt.
»Einer törichten Leidenschaft ist alles möglich«, sagte die Dame. »Du bist, wie du siehst, in meinem Gebiet; aber das würdest du auch im Gebiete deines Vaters sein. Deine Leidenschaft hat dich in meine Gewalt gegeben.«
»Ich unterwerfe mich ihr willig; nur bitte ich, bediene dich ihrer mit Milde.«
»Was wünschest du von mir, Phöbidas?«
»Du weißt es und vermagst hier alles. Ich beschwöre dich bei der Göttin, die dich geboren hat, laß mich das liebliche Mädchen wiedersehen, das mich mit unwiderstehlicher Gewalt bis hieher gezogen hat.«
»Es gibt keine unwiderstehliche Gewalt, junger Mensch. Bloß deine Schwäche macht dich zu unserm Sklaven. Gebiete dir selbst, so bist du frei!«
»Ich will nicht frei sein«, rief der Jüngling. »Ebensoleicht könnt ich mir gebieten, den Parnaß auf den Öta zu setzen, als die Holde nicht zu lieben, die du mir entrissen hast.«
»Zu lieben«, sagte die Dame, ironisch lächelnd; »du liebst also meine Daphnidion?«
»Sonst wußt ich nicht, was Liebe ist. Noch gestern glaubt ich alle Mädchen zu lieben, die mir gefielen; es war lauter Spiel und Kinderei. Was ich itzt fühle, ist ganz was anders; es gilt Leben oder Tod.«
»Diese Sprache führen alle deinesgleichen. Ich glaube an keine so plötzlich vom bloßem Ansehen aufgebrausete Liebe; und du, lächerlicher Mensch, hast deine Geliebte sogar nur von hinten gesehen.«
»Gleichviel«, rief Phöbidas; »was ich sah, hat ein unauslöschliches Bild in meiner Seele zurückgelassen, das nie aufhören wird, sie auszufüllen, bis ich sie selbst wiedersehe. Ich werde wahnsinnig darüber werden. Was kannst du für eine Freude haben, mich elend zu machen?«
»Beinahe«, sagte die Dame, »könntest du mich verführen, Mitleiden mit dir zu haben.«
»Die Frage ist noch, ob er es verdient«, sagte die unsichtbare Stimme.
»Das soll sich bald zeigen«, erwiderte die Dame. »Du verlangst deine Nymphe zu sehen und zu sprechen; du sollst sie sogar berühren, um gewiß zu sein, daß es keine Luftgestalt ist. Aber merke wohl, mehr als einen Sinn zu befriedigen ist dir nicht erlaubt. Es kommt auf dich an, ob du sie sehen willst, ohne mit ihr zu reden, oder mit ihr reden, ohne sie zu sehen, oder sie berühren, ohne sie weder zu sehen noch zu hören. Wähle!«
Phöbidas, nicht gewohnt, lange zu überlegen, was er wollte, und vom Bilde der fliehenden Daphnidion erhitzt, dachte bei sich selbst: "Ich habe sie bereits gesehen und gehört; denn vermutlich war die Stimme der Unsichtbaren die ihrige; aber berührt hab ich sie noch nicht, und lief ich ihr denn aus einer andern Absicht so lange, bis mir der Atem ausblieb, nach, als um sie zu erhaschen?" – »Ich wähle das letztere«, sprach der Unbesonnene.
»Das hat dir dein böser Dämon geraten, denn es ist das gefährlichste«, sagte die Dame mit einem beinahe unsichtbaren Lächeln; »ich rate dir nicht dazu; aber du bist frei, nach deinem eigenen Belieben zu wählen.«
»So bleibt's bei meiner ersten Wahl«, rief Phöbidas; und kaum war das letzte Wort über seine Lippen gekommen, so verbreitete sich ein lieblich dämmerndes Rosenlicht durch die Grotte, worin alles Sichtbare, sogar seine eigene Gestalt, sich aufzulösen und zu zerfließen schien; er sah nichts mehr, er hörte nichts mehr, er glaubte die Sprache verloren zu haben; aber indem er die rechte Hand ausstreckte, berührte er eine kleine niedliche lieblich-warme Hand, weicher als Schwanenflaum und sanfter als die Blätter der Sammetblume. Ein zuckender Schauer blitzte durch alle seine Nerven; er drückte seinen brennenden Mund auf die liebliche Hand, die sich nicht zurückzog. Glücklich, wenn er, wie von einem zärter fühlenden Liebhaber zu erwarten war, sich an dieser Seligkeit genügen ließ! Vielleicht würde er, zur Belohnung seiner Bescheidenheit, sie auch noch zu sehen bekommen haben. Aber die thessalischen Jünglinge jener Zeit waren nicht bescheiden genug, um so genügsam zu sein. Allmählich immer kühner und lüsterner, schlug er endlich seinen linken Arm um ihre Hüfte, und – mit einem furchtbaren Donnerschlag schwand die schöne Nymphe, wie Luft, aus seiner Umarmung dahin; er taumelte wie ein Trunkner vorwärts, seine Arme ins Leere ausstreckend; der Tag erleuchtete die Grotte wieder, und die dürre Alte saß wieder an ihrem Rocken und spann.
»Tragt ihn an seinen Ort«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, zu zwei langöhrigen Knaben mit ungeheuren Rabenflügeln, die ihr zur Seite standen; und sie ergriffen den armen, sich vergebens sträubenden Phöbidas, und in wenig Augenblicken befand er sich wieder an demselben Platz, wo er die reizende Nymphe zuerst gesehen hatte. Verblüfft und betäubt von einem so seltsamen Abenteuer, blieb er eine gute Weile ohne Besinnung auf der Erde liegen, wo ihn die Knaben mit den langen Ohren hingelegt hatten, und als er wieder zu sich selber kam, würde er alles, was ihm begegnet war, für einen Traum gehalten haben, wäre das Bild der fliehenden Nymphe und die Erinnerung an den Augenblick, wo er sie in seinem Arm gefühlt hatte, nicht so lebendig in ihm gewesen, daß er eher an seinem eignen Dasein als an der Wahrheit dessen, was er gefühlt und gesehen, hätte zweifeln können.
Das Verlangen, die schöne Daphnidion, allen magischen Spinnerinnen zu Trotz, in seine Gewalt zu bekommen, wurde nun in kurzer Zeit so heftig, daß er bereit war, die Befriedigung desselben um jeden Preis zu erkaufen. Er bestimmte sich also, nach mehr als einem Einfall, den er als unausführlich wieder verwerfen mußte, zuletzt, als ein echter Thessalier, seine Zuflucht zur Zauberkunst zu nehmen, welche (wie jedermann weiß) von uralten Zeiten her in dieser griechischen Provinz einheimisch war. "Haben sie sich nicht", dacht er, "zauberischer Gaukeleien gegen mich bedient? Warum sollt ich Bedenken tragen, sie mit ihren eignen Waffen zu bekämpfen?"
Auf einer der Spitzen des Berges Öta wohnte damals ein Mann, der im ganzen Lande für einen großen Meister in den geheimen Wissenschaften der Magier gehalten wurde. Zu diesem öffnete er sich den Zutritt durch ein ansehnliches Geschenk, entdeckte ihm sein Anliegen und bat ihn, daß er ihm durch seine Kunst zum Besitz der widerspenstigen kleinen Daphne verhelfen möchte, bevor sie ihm etwa, wie ihre Vorfahrerin seinem Urahnherrn, den Streich spiele, sich in einen Lorbeerbaum oder in irgendeinen andern Baum oder Strauch verwandeln zu lassen.
Hippalektor (so nannte man den Schwarzkünstler) rühmte sich, vielleicht ohne Grund, im Besitz des berühmten magischen Bilderbuches zu sein, welches viele Jahrhunderte später in der Geschichte der schönen Alie und ihres Widders eine so wichtige Rolle spielt. Aber bevor man etwas gegen die kleine Daphne und ihre Beschützerinnen unternehmen konnte, mußte man wissen, wer sie wären, und Hippalektor gestand, daß es wenigstens drei Tage nötig habe, um den Schleier zu zerreißen, den die Spinnerin, welche er unter ihren beiden Gestalten nur für eine Person hielt, um sich her gewebt habe.
Phöbidas mußte sich also auf den vierten Tag vertrösten lassen und inzwischen selbst auf Mittel bedacht sein, die peinliche Ungeduld, die ihn zu so