Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie. Aage G. Sivertsen

Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie - Aage G. Sivertsen


Скачать книгу
fassen, was sich auf dem Brett gerade abspielte. Während die Schachlegende nachdachte, entfernte sich Magnus einige Meter vom Tisch, um sich die anderen Partien anzusehen. Dies war womöglich ein psychologisches Mätzchen, in jedem Fall jedoch ein Zeichen geradezu grenzenloser Arroganz. Beim Schnellschach ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Spieler während der Partie herumschlendert. Zumindest, wenn man gegen den Weltbesten spielt. Bei normalen Partien, die sich über mehrere Stunden hinziehen, geschieht es häufig, dass einer der Spieler den Tisch verlässt. Hin und wieder, um dem Gegner demonstrativ zu zeigen, wie sehr einem die eigene Stellung gefällt. Steht man beim Schach schlecht, kann es unglaublich irritierend sein, wenn der Gegner gähnt, aufsteht oder so tut, als hätte er die Partie bereits gewonnen. Als Magnus sich erhob und den Tisch verließ, hob Kasparow den Kopf und starrte ihn an. Vielleicht wollte er ihn psychisch beeinflussen, vielleicht überlegte er aber auch nur, ob Magnus begriffen hatte, wie schlecht Kasparows Stellung tatsächlich war. Und als Carlsen sich in dieser Sekunde entschied, den eiskalten Blick nicht zu erwidern, indem er den Tisch verließ, war das Antwort genug.

      Nachdem Magnus aufgestanden war, führte Kasparow sehr schnell seinen nächsten Zug aus. Der Exweltmeister ertrug es nicht, ignoriert zu werden. Sobald Kasparow die Uhr gedrückt hatte, kam Magnus zurück und machte blitzschnell seinen nächsten Zug. In dem sicheren Glauben, die Partie gewinnen zu können, faltete er die Hände. Der Rest der Familie Carlsen saß einige Meter entfernt. Henrik Carlsen erklärte der zweitältesten Tochter Ingrid, dass Magnus Vorteil hätte. »Wenn Papa sagt, dass Magnus gut steht, gewinnt er normalerweise auch, und dann freue ich mich«, so Ingrid. Kasparow sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen, doch er kämpfte und schaffte es, seine Position schrittweise zu verbessern. Magnus wurde ein wenig nervös und fand nicht immer die beste Fortsetzung. Die Partie endete mit einem Remis. Der Meister war mit dem Schrecken davongekommen.

      Die zweite Partie gewann der Russe mühelos. Hinterher wurde Magnus Carlsen von dem Regisseur Øyvind Asbjørnsen interviewt, der ihm ein Jahr lang kaum von der Seite wich und den Film The Prince of Chess drehte. Magnus war enttäuscht, dass er die zweite Partie verloren hatte. »Ich habe wie ein Kind gespielt«, erklärte der Junge.

      Und Kasparow sagte nach der Partie: »Bekommt er die richtige Förderung, kann er der weltbeste Schachspieler werden.«

       Magnus als Mozart

      »Nach Gott kommt gleich der Papa.«

      Wolfgang Amadeus Mozart

      Sven Magnus Øen Carlsen wurde zum ersten Mal als Mozart des Schachs bezeichnet, nachdem er als Dreizehnjähriger beim renommierten »Corus-Turnier« in Wijk aan Zee seine erste Großmeisternorm errungen hatte. Magnus hatte ein so wunderbares Schach gespielt, dass der Vergleich angebracht war. In seiner wöchentlichen Schachkolumne in der Washington Post verlieh der Schachjournalist Lubomir Kavalek im Januar 2004 Magnus Carlsen den Titel The Mozart of Chess.

      »Er zeigte sein enormes Talent mit einer der großartigsten Angriffspartien, die in diesem Jahr in Wijk aan Zee gespielt wurden«, schrieb er. Danach verglich er ihn wiederholt mit dem Wunderkind der klassischen Musik. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ein junges Schachgenie mit Mozart verglichen wurde. Schon mehrere Weltmeister waren als »Mozart des Schachs« bezeichnet worden.

      Außerdem gibt es von 60 Minutes auf CBS einen Dokumentarfilm mit dem Titel The Mozart of Chess. Weder der amerikanische Sender noch andere Schachjournalisten haben sich aber je die Mühe gemacht herauszufinden, ob die beiden tatsächlich irgendwelche Gemeinsamkeiten aufweisen. So verkam die Bezeichnung »Mozart des Schachs« zum reinen Klischee. Die Frage ist also, ob es Parallelen zwischen dem Wunderkind des Schachs und dem mystischen Wolfgang Amadeus Mozart gibt. Auch Magnus Carlsen hat etwas Mystisches. Das zumindest behauptete der ehemalige Weltmeister Boris Spasski im November 2014 in Sotschi: »Magnus Carlsen ist ein unterirdischer Kobold. Ich mag ihn. Er ist ein feiner Kerl und ein guter Schachspieler. Und er hatte schon immer etwas Mystisches.«1

      Fraglos hatte Wolfgang Amadeus’ Vater, Leopold, beschlossen, dass sein Sohn sich zu einem musikalischen Phänomen entwickeln sollte. Alle entsprechenden Maßnahmen wurden eingeleitet. Bei Magnus Carlsen war es nicht ganz so. Zwar lernte er bereits im Alter von fünf Jahren die Schachregeln, doch erst als Achtjähriger begann er, sich ernsthaft mit dem königlichen Spiel zu beschäftigen. Allerdings spielte der Vater, Henrik Carlsen, durchaus mit dem Gedanken, dass sein Sohn sich zu etwas Außerordentlichem entwickeln könnte, und auch er veranlasste die notwendigen Maßnahmen.

      Die Bedingungen und Voraussetzungen waren für Magnus nicht besser als für seine drei Schwestern Ellen, Ingrid und Signe. Es zeigte sich nur, dass Magnus schon früh besondere Eigenschaften besaß. Bereits im Alter von einem Jahr spielte er mit großem Interesse und großer Ausdauer mit Lego-Steinen. Als Zweijähriger kannte er die Namen sämtlicher Automarken, und noch vor seinem vierten Geburtstag konnte er sich bestimmte Dinge besser merken als mancher Erwachsene. Im Alter von fünf Jahren kannte Magnus die Namen aller norwegischen Orte, erkannte die Ortswappen, wusste die Namen sämtlicher Hauptstädte auf der ganzen Welt und konnte exzellent Kopfrechnen.

      »Wichtiger als der Erwerb sozialer Eigenschaften war für mich, dass Magnus sich Kenntnisse aneignete und intellektuelle Fertigkeiten entwickelte«, erklärt Henrik Carlsen.

      Als Magnus in die Schule kam, konnte er bereits lesen und schreiben. Man erwog, ihn die erste Klasse der Grundschule überspringen zu lassen, die Eltern lehnten es ab. Allerdings vereinbarten sie mit dem Lehrer, dass er zusätzliche Anregungen und Anreize bekommen sollte, so durfte er neben dem normalen Pensum Sportbücher lesen.

      Magnus bedeutet auf Lateinisch »der Große«. Norwegen hatte sieben Könige namens Magnus. »Für uns war es vollkommen normal, dass wir ihn Magnus nannten«, berichtet sein Vater. »Selbstverständlich war uns klar, dass es ein königlicher Name ist, aber er gefiel uns.«

      Amadeus. Man muss sich diesen Namen auf der Zunge zergehen lassen. Eigentlich war er als Theophilus geboren, das griechische Wort für »den von Gott Geliebten«. Auf Lateinisch wurde daraus Amadeus.

      Henrik Carlsen ging nicht davon aus, dass Magnus der beste Schachspieler der Welt werden würde. Jedenfalls nicht, bevor er zehn Jahre alt war. Damals, im Jahr 2000, wurde dem Vater klar, dass er einen Sohn mit einem ganz außergewöhnlichen Talent für das Schachspiel hatte:

      »Als ich eines Tages die Karl Johans gate in Oslo entlangging, klingelte das Telefon. Ein enger Freund erklärte mir, dass Magnus Schachweltmeister werden könne. In dem Gewimmel auf der Straße hatte ich das Gefühl, die anderen Leute könnten das Gespräch mithören. Ich flüsterte daher, auch ich sei dieser Ansicht. In diesem Moment kam mir zum ersten Mal der Gedanke, er könnte der beste Schachspieler der Welt werden. Er war zehn Jahre und ein paar Monate alt.«

      Henrik hatte damals dasselbe Rating wie heute, rund 2000 Elo. Eine solche Spielstärke erreichen sehr viele recht gute Spieler nach jahrelangem Training. Viele Schachspieler trainieren mehrere Stunden am Tag, und das zwanzig bis dreißig Jahre lang, um ein höheres Rating zu erreichen. Magnus spielte als Neunjähriger bereits so gut wie sein Vater, und das, obwohl er erst ein Jahr am Brett verbracht hatte.

      In Anbetracht seines jungen Alters war das Bemerkenswerteste an Wolfgang Amadeus Mozart die Qualität seiner Musik. Die Musikstücke, die er bereits als Fünfjähriger komponierte, sind nahezu unerklärlich gut. Schon im Alter von sechs, sieben Jahren steckte in seiner Musik eine Reife, die ihn in ganz Europa bekannt machte. Das Klavierspiel prägte seinen Alltag. Der Junge liebte es zu spielen. Er musste gezwungen werden, ins Bett zu gehen, sonst wäre er am Klavier eingeschlafen.

      Amadeus liebte nicht nur die Musik, er spielte mit ihr. Das Publikum konnte eine Melodie summen, zu der er Variationen spielte, oder er begleitete eine Arie, die er nie zuvor gehört hatte. Er konnte sogar mit einer Binde vor den Augen oder mit dem Rücken zum Klavier spielen. Mit anderen Worten, er fand Gefallen daran, etwas Außergewöhnliches zu veranstalten. Vor allem aber suchte Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik die Harmonie.

      Magnus Carlsen wünschte sich vom frühen Alter an die totale Harmonie seiner Figuren. Er sagt:


Скачать книгу