Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie. Aage G. Sivertsen
In der Konsequenz hätte dies ein asoziales Leben bedeutet.
»Wir folgten Polgárs Methoden nicht sklavisch. Vor allem schätzten wir andere Aktivitäten, die nichts mit Schach zu tun hatten, aber der Alltag bestand schon hauptsächlich darin, Schachspielen zu lernen«, berichtet Anita, die ältere der beiden Schwestern.
Unabhängig von der konkreten Methode ist Disziplin eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein muss, wenn man die Weltspitze erreichen möchte – ganz gleich, um welche Sportart oder Aktivität es geht. Schach ist da keine Ausnahme. Die Russin Alexandra Kostenjuk, ehemalige Gewinnerin der Frauen-Weltmeisterschaft, berichtete, dass sie ihr Weltklasseniveau nicht dauerhaft halten konnte: »Weitermachen hätte für mich und Judit Polgár bedeutet, in einem Gefängnis zu sitzen. Man muss sich zehn oder zwölf Stunden pro Tag ins Schach vergraben, und ein solches Leben will ich nicht führen.«
Die Schwestern Gara wurden zu einem solchen Leben erzogen. Sie sind mehr oder weniger schon ihr ganzes Leben lang Schachprofis. Beide errangen mehrere ungarische Meistertitel, in einigen Altersklassen haben sie auch bei Weltmeisterschaften Medaillen gewonnen. Anita hatte als Neunzehnjährige eine Elo-Zahl von 2365, ihr höchstes Rating betrug bisher 2405. Ticia erreichte mit siebzehn Jahren 2381 Elo-Punkte, das ist bis heute ihre höchste Notierung.
Wenn sie Kinder bekommen, wollen die beiden Schwestern sie genauso erziehen, wie sie aufgewachsen sind.
Die Welt entdeckt den Mozart des Schachs
»Es gab einen Ort, von dem ich sagen kann, dass ich dort nichts lernte. Die Schule.«
Jens Bjørneboe
Der am 30. November 1990 in Tønsberg im Süden Norwegens geborene Magnus Carlsen war zwölf Jahre alt, als er den Titel eines Internationalen Meisters (IM) errang. Er war damals der jüngste IM und sein Ziel war eindeutig, Großmeister (GM) zu werden. Unter Schachspielern ist dieser Titel von großer Bedeutung. Norwegen hatte 2015 elf Großmeister, und einige von ihnen hatten mehrere Jahre gebraucht, bis ihnen der Titel verliehen wurde.
Zum ersten Mal Vollprofi9
Im Jahr 2003 entschied sich die Familie Carlsen, eines ihrer Autos zu verkaufen, ihr Haus zu vermieten und die Kinder von der Schule zu nehmen. Sie wollten kreuz und quer durch Europa reisen. Ein Sabbatjahr für die ganze Familie, ein anstrengendes, aber erfolgreiches Jahr für Magnus. Zum ersten Mal trat er als professioneller Schachspieler auf. Allerdings wird eine solche Vorgehensweise in Norwegen nicht sonderlich gern gesehen. Man darf in einer Disziplin ruhig zu einem Könner werden, doch sollte man die Regeln des Systems nicht überstrapazieren. Umgekehrt musste ein ganzes Jahr schulfrei nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Kinder weniger lernten. Im Gegenteil. Ziel der Eltern war es, dass die Kinder sich mindestens weiter so entwickelten wie in einem normalen Schuljahr.
Ein alter sechssitziger Transporter, ein Hyundai Van, sollte die Familie Carlsen durch ganz Europa transportieren – von einem Schachturnier zum nächsten. »Von Hunderten Leuten haben wir eine Menge Ratschläge bekommen, wie Magnus trainieren soll, um ein noch besserer Schachspieler zu werden. Sie alle wussten ganz genau, was für Magnus am besten ist«, so Henrik Carlsen.
Mitte August 2003, kurz vor Schulbeginn, ging es los. Mit dem Transporter voller Gepäck verließ die Familie Carlsen Oslo in Richtung Österreich. Die Kinder nannten das Auto einfach den »Kasten«, alle freuten sich auf die Reise. Natürlich gefiel ihnen der Gedanke, ein ganzes Jahr nicht zur Schule gehen zu müssen.
Am 23. August 2003 begann Magnus’ erstes Turnier auf der Reise, das Schwarzacher Open in Österreich. Er spielte sehr stark und hätte fast seine erste Großmeisternorm errungen. Das heißt, er gewann gegen mehrere wesentlich höher eingestufte Gegner. Ein vielversprechender Start in das Schachjahr.
Das nächste Reiseziel war Budva in Montenegro. Hier fanden die Jugend-Europameisterschaften statt. Die Carlsens fuhren über die Alpen, durch Italien und Kroatien. In den Tagen vor der Jugend-Europameisterschaft bestand ihr Alltag darin, historische Stätten zu besuchen, zu baden und Spaß zu haben. Allerdings war von vornherein festgelegt, dass die Kinder täglich eine Stunde mit Schularbeiten verbrachten. Im Großen und Ganzen wurde diese Vereinbarung eingehalten.
Bei der Europameisterschaft führte Magnus nach sieben Runden souverän mit 6,5 Punkten. In den letzten zwei Partien war er jeweils klarer Favorit, brachte es aber fertig, beide zu verlieren. Er erreichte den dritten Platz in der Gruppe der Jungen unter vierzehn Jahren. »Es war verdammt ärgerlich, dass ich kein Gold geholt habe«, erklärte er später, »aber der Frust ging schnell vorbei.«
Schon bald gab es neue Möglichkeiten. Sechs Tage nach der Europameisterschaft kam das nächste Turnier, der Europacup der Vereinsmannschaften. Austragungsort war Kreta. Für die anderen Familienmitglieder war die Insel der perfekte Urlaubsort. Meer und Sonne, und überall gab es antike Stätten wie die über zweitausend Jahre alten Ruinen des Palastes von Knossos zu besichtigen. Alle Kinder mussten einen Aufsatz über den Palast schreiben, auch Magnus.
Norwegen hatte nie eine Mannschaft entsandt, die auch nur in die Nähe einer Spitzenplatzierung gekommen wäre. Bis dahin hatten die Osteuropäer die Ergebnislisten souverän dominiert. Magnus sollte für Asker antreten, einen Vorort von Oslo, und er bekam die Möglichkeit, am ersten Brett zu spielen. Dort sitzt der stärkste Spieler einer Mannschaft. Erneut erhielt der zwölf Jahre alte Junge die Chance, seine erste Großmeisternorm zu erringen.
Leider erkrankte Magnus direkt vor dem Turnier an einem Magenvirus. In Budva waren mehrere Spieler krank gewesen und hatten Magnus angesteckt. Während der gesamten Reise hatte er schlapp und kränklich hinten im »Kasten« gelegen. Als die Familie Carlsen auf Kreta ankam, war noch keine wesentliche Besserung eingetreten, »doch ich hatte mich so darauf gefreut zu spielen. Ich glaube, dadurch wurde ich gesund«, so Magnus.
Die besten Schachspieler der Welt waren versammelt, und Magnus holte 3,5 von 7 Punkten. Eine durchaus imponierende Leistung, wenn man bedenkt, dass er zu Beginn des Turniers noch krank war. Für eine GM-Norm reichte das Ergebnis allerdings nicht.
Das nächste Ziel war die Junioren-Weltmeisterschaft. Von den historischen Stätten auf Kreta ging es an den nächsten Urlaubsort, auf die griechische Halbinsel Chalkidiki. Auf dem Weg dorthin machte die Familie einen Abstecher zum Olymp, dem Berg der Götter, und besichtigte in Athen natürlich die Akropolis. Auf diesem Teil der Reise hatten die Multiplikationstabellen auf dem wöchentlichen Schulplan gestanden. Magnus und seine große Schwester Ellen waren ausgezeichnet im Kopfrechnen.
Rund zweitausend Schachspieler sowie Eltern und Organisatoren der Reisegruppen hatten sich in dem kleinen Dorf Kallithea versammelt, darunter eine große norwegische Schachdelegation mit fast zwanzig Personen. Außerdem hatten Henrik Carlsens Eltern beschlossen, ihren Urlaub in Kallithea zu verbringen.
Für Magnus ging es wieder um eine Medaille. Aus seiner Sicht hatte er sich bei der Europameisterschaft blamiert und sann auf Revanche. Das Turnier begann gut, doch dann wurde Magnus erneut krank. Das Turnier endete für ihn mit einem enttäuschenden neunten Platz.
»Eine Weile überlegte ich, ob das Programm nicht doch zu hart für Magnus war. Nach seinem Ergebnis bei der Weltmeisterschaft machte ich mir Sorgen, doch als Magnus nach seiner Krankheit wieder zu Kräften gekommen war, gab es keinen Zweifel, dass wir ihn weiterhin Turniere spielen lassen würden«, berichtet Henrik Carlsen.
Bei Turnieren, an denen die besten Jugendspieler teilnehmen, spielt das Rating keine so entscheidende Rolle. Dennoch haben viele Spieler großen Respekt, wenn sie bei normalen Turnieren auf jüngere Talente treffen, die sich mit aller Macht im Rating verbessern wollen. Und das nicht ohne Grund. Die zehn, zwanzig besten Spieler einer Junioren-Weltmeisterschaft strotzen normalerweise vor Selbstvertrauen und Dynamik; die meisten glauben, sie können Weltmeister werden.
In den traditionsreichen Schachnationen wie Russland und der Ukraine ist es üblich, dass die besten Spieler eigene Sekundanten haben, was ihnen einen großen Vorteil verschafft.