Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie. Aage G. Sivertsen

Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie - Aage G. Sivertsen


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die Möglichkeit, unter die zehn weltbesten Spieler zu kommen, verschwindend gering, wenn man zu spät beginnt. Und doch gibt es weit mehr Ausnahmen beim Schach als in den meisten anderen Sportarten.

       Malysj

      In den letzten vier Monaten des Jahres 2003 nahm Magnus Carlsen an sechs Turnieren teil und spielte dabei achtundfünfzig Partien. Er schätzte diesen Herbst so ein: »Es war eine schöne Zeit für die Familie, aber schachlich war ich nicht zufrieden. Durch die viele Fahrerei war alles ein wenig hektisch, und auf Reisen muss man immer damit rechnen, dass man krank wird, so wie ich. Das Programm war vielleicht ein bisschen zu hart.«

      Das halbe Jahr, in dem die Familie unterwegs war, wird allen unvergesslich bleiben. Magnus’ ältere Schwester Ellen beschreibt die Reise zehn Jahre später wie ein Märchen.

      »Es war einfach großartig, was die Familie zusammen unternommen hat. Der Zusammenhalt wuchs enorm, und falls ich eines Tages eine Familie haben sollte, werde ich bestimmt etwas Ähnliches machen. Obwohl es für Magnus auf dieser Reise vor allem darum ging, Schach zu spielen, glaube ich, dass der soziale Aspekt mit der Familie für ihn genauso wichtig war. Der Zusammenhalt und die Geborgenheit, die sich in der Familie entwickelten, haben ihm gutgetan.«

      Obwohl Magnus Carlsen mit seinen Leistungen im Herbst 2003 nicht zufrieden war, hatte er sich als Schachspieler zweifellos weiterentwickelt. Einige seiner Partien hatten Aufsehen erregt. Einer derjenigen, die auf ihn aufmerksam wurden, war Dirk Jan ten Geuzendam, Redakteur der renommierten Schachzeitschrift New in Chess. Ten Geuzendam hatte die Partien nachgespielt, die Magnus auf Kreta gespielt hatte, und war beeindruckt. Als Simen Agdestein anrief und ihm erklärte, dass der Junge Mitte Januar 2004 unbedingt am prestigeträchtigen »Corus-Turnier« im niederländischen Wijk aan Zee teilnehmen müsse, war ten Geuzendam skeptisch, sorgte aber dafür, dass er eingeladen wurde.

      Magnus sollte in der C-Gruppe spielen. A-Gruppe und B-Gruppe bestanden aus Spielern der Weltspitze, während die C-Gruppe talentierten Spielern vorbehalten war, die auf dem Weg an die Spitze waren. Mit seinen dreizehn Jahren war Magnus Carlsen der jüngste Teilnehmer des Turniers. Er wurde von seinem Vater begleitet, und diesmal sollte das Wunderkind den verdienten Lohn für seine Anstrengungen erhalten.

      Nach sechs Runden hatte er vier Siege und zwei Remis auf seinem Konto. In der siebten Runde traf er auf GM Merab Gagunaschwili, einen sehr starken Georgier. Magnus hielt sich ordentlich in dieser Partie, doch es sah lange nach einer Niederlage aus. Dann fand er jedoch einen Ausweg. Er wanderte mit seinem König auf die gegenüberliegende Seite des Bretts, und merkwürdigerweise bereitete dies seinem Gegner erhebliche Probleme. Magnus gewann, und bereits nach sieben Runden war klar, dass er seine erste GM-Norm errungen hatte – mit dreizehn Jahren und zwei Monaten.

      Die Spieler der A-Gruppe und die Journalisten wurden auf den kleinen Burschen aufmerksam. Das Turnier endete mit einem klaren Sieg für Magnus, dessen 10,5 von 13 möglichen Punkten die ganze Schachwelt aufhorchen ließen.

      Den Beinamen »Mozart des Schachs« bekam er nach der zwölften Partie, die er gegen den elf Jahre älteren Niederländer Sipke Ernst austrug. Er beherrschte seinen Gegner in einem Maß, dass die Experten voller Bewunderung waren. Für Turnierleiter Jeroen van den Berg, den Schachjournalisten Lubomir Kavalek und das Publikum grenzte das Ganze an ein Wunder. Ein Junge von dreizehn Jahren gewann gegen erfahrene Großmeister.

      »Es sah so aus, als wäre Magnus ein Monster mit tausend Augen«, sagte Simen Agdestein hinterher dem Fernsehsender TV2. Agdesteins Aussage erinnerte an Kasparow, der, kurz nachdem er Weltmeister geworden war, gegen Tony Miles antrat. Miles meinte nach der Partie: »Ich dachte, ich sollte gegen den Weltmeister spielen, nicht gegen ein Ungeheuer mit hundert Augen.«12

      Magnus Carlsen bekam für seine Leistung den Preis der Zuschauer, und Vishy Anand erklärte in seiner Laudatio: »Als ich 1989 das erste Mal in Wijk aan Zee antrat, spielte Viktor Kortschnoi mit, der damals dreimal so alt war wie ich. Fünfzehn Jahre später bin ich dreimal so alt wie der Gewinner der C-Gruppe.«

      Der Januar war vorbei, und das Jahr 2004 hatte für Magnus ausgezeichnet begonnen. Doch für Henrik Carlsen und die ganze Familie blieb es weiterhin anstrengend. Wohin sollten sie als Nächstes reisen?

      In den Niederlanden war auch Alexander Bakh unter den Zuschauern gewesen, ein umstrittener und mächtiger Funktionär aus Russland. Er war unter anderem verantwortlich für das Moskauer »Aeroflot Open«, bei dem einhundertvierzig Großmeister antreten sollten. Magnus und die Familie Carlsen wurden in die russische Hauptstadt eingeladen.

      Die Bedingungen waren günstig, Bakh bezahlte den Flug und den Aufenthalt. Damit wurde das geplante Reiseziel im Süden zugunsten von ein paar kalten Wochen in der russischen Hauptstadt aufgegeben. Doch in Moskau war es nicht nur kalt. Die Carlsens wohnten im Hotel Rossija, einem der größten und teuersten Hotels der Welt mit dreitausend Betten. Das Preisniveau beunruhigte allerdings sogar Henrik Carlsen: »Ein Pils an der Bar kostete sechzehn Euro. Ich wagte gar nicht daran zu denken, was es kostete, etwas aus der Minibar zu trinken. Jeden Morgen hatte ich Angst, dass ich im Schlaf etwas herausgenommen hätte.«

      Im Februar 2004 hielt sich die Familie Carlsen mit der gesamten Weltelite des Schachs in Moskau auf. Und damit nicht genug. Ehemalige Weltmeister wie Wassili Smyslow und Boris Spasski kamen, um den norwegischen Schachkometen kennenzulernen. Moskau war das Mekka des Schachs, die Osteuropäer dominierten seit Jahrzehnten die Ergebnislisten, und die Sowjetunion und später Russland waren nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Schachbrett mehr oder weniger Alleinherrscher gewesen. Die Teilnahme am Aeroflot Open war daher mit Respekt und Furcht verbunden.

      Doch die positive Entwicklung, die in den Niederlanden begonnen hatte, setzte sich in Moskau fort. Magnus Carlsen errang seine zweite GM-Norm. Er erreichte 5,5 von 9 Punkten und landete auf dem vierzigsten Platz, angesichts der erwähnten Reihe von sehr starken Gegnern eine gute Platzierung. Zu den Konkurrenten, die der Norweger besiegen konnte, gehörte Großmeister Sergei Dolmatow, der ehemalige Trainer von Wladimir Kramnik. Die Art und Weise, wie er Dolmatow schlug, führte in der Schachgroßmacht Russland zu einer Art Magnus-Fieber. Er wurde von den Russen Malysj genannt, Kerlchen. Ein Spitzname mit Vorgeschichte. Denn Astrid Lindgrens Figur Karlsson vom Dach heißt bei den Russen Kerlchen. Das Buch handelt von einem gewöhnlichen sieben Jahre alten Jungen, der mit seiner gewöhnlichen Familie in einem gewöhnlichen Haus in einer gewöhnlichen Stockholmer Straße wohnt … abgesehen von der außerordentlichen Tatsache, dass ein Mann, der Karlsson heißt, in einem kleinen Haus auf dem Dach wohnt. Und dieser Mann hat einen Propeller auf dem Rücken, mit dem er fliegen kann. Der kleine, korpulente Karlsson hat einen unerschütterlichen Glauben an die eigenen Fähigkeiten und eine schelmische Natur, durch die er zum perfekten Freund für den Jungen wird.13

      Selbstverständlich wurde Magnus Carlsen von den Russen mit Garri Kasparow verglichen. Vor allem aber schmerzte es, dass ein Norweger auf dem hauseigenen Terrain der Russen so stark war. Die Russen mochten es nicht, wenn Ausländer sich unter die Spitze mischten. Mit seinem vierzigsten Platz schien Magnus noch ungefährlich zu sein, aber mit Blick auf sein Alter begriffen die Russen, dass eine Bedrohung aufkeimte.

      Nach dem Auftritt in Moskau nahm das Interesse am Schachspieler Magnus Carlsen deutlich zu. Er wurde zu weiteren Turnieren eingeladen. Zunächst nach Island. Reykjavik war 1972 zu Zeiten des Kalten Kriegs zwischen der Sowjetunion und den USA ein Nervenzentrum des Schachs gewesen. Damals gelang es der umstrittenen Schachlegende Bobby Fischer, den Russen mit seinem Sieg gegen Boris Spasski den Weltmeistertitel abzunehmen. Und 2004 stand die Vulkaninsel einmal mehr im Fokus eines großen Schachereignisses.

      Sollte es Magnus Carlsen gelingen, seine dritte GM-Norm zu erringen, wäre er als Dreizehnjähriger der zweitjüngste Großmeister aller Zeiten. Sergei Karjakin war bereits mit zwölf Jahren und sieben Monaten Großmeister geworden. Aber Magnus Carlsen konnte die Erwartungen nicht erfüllen. 4,5 von 9 möglichen Punkten waren ein erheblicher Einbruch. »Ich spürte, dass meine Spielstärke reichte, aber irgendetwas funktionierte nicht«, erklärte er nach dem Turnier. Und sein Vater ergänzte: »Die große Aufmerksamkeit der Medien ist ein bisschen zu viel für Magnus. Außerdem


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