Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie. Aage G. Sivertsen

Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie - Aage G. Sivertsen


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der auch in einer Fußballnationalmannschaft spielte. Leider bekam er Knieprobleme und musste sich einer Operation unterziehen. Die Operation misslang, und Simen Agdestein musste im Alter von zweiundzwanzig Jahren seine Fußballkarriere beenden.

      Die meisten Beobachter waren der Ansicht, er würde nun ein noch besserer Schachspieler werden, da er mehr Zeit hätte, sich darauf zu konzentrieren. Doch nach der missglückten Operation begann für Simen Agdestein eine traumatische Phase seines Lebens, er bekam Atemprobleme und war anderthalb Jahre krankgeschrieben. »Diese Zeit war ein gelebter Albtraum«, sagt er. »Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Ich musste mich zusammenreißen, um wieder auf die Beine zu kommen, aber im Grunde fühle ich mich seit damals nicht mehr richtig gesund.«

      Die große Frage für Simen Agdestein lautete nicht, ob er Fußball oder Schach spielen konnte. Für ihn ging es in erster Linie darum, gesund zu werden. Er fing wieder an, Schach zu spielen, aber er erreichte nicht mehr die Form wie vor der Operation; und es dauerte mehrere Jahre, bis er das Gefühl hatte, wieder auf hohem Niveau Schach spielen zu können. Als Fußball-Nationalspieler und einer der weltbesten Schachspieler war Simen Agdestein in Norwegen unglaublich populär. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein ganzer Haufen Jugendlicher Schlange stand, um ein Autogramm von ihm zu bekommen. Nach seiner Fußballkarriere gelang es ihm jedoch nicht, sein hohes Rating als einer der besten Schachspieler der Welt zu halten. Als Schachlehrer und Organisator machte er aber weiterhin auf sich aufmerksam. Und zweifellos waren seine Lehrmethoden sehr gut für Magnus: »Mir war wichtig, dass ich in Magnus nichts zerstöre, sondern das Talent zur Blüte bringe.«

      Im Gegensatz zu den strengen und detaillierten Unterrichtsmodellen, die man von osteuropäischen Schachschulen kennt, ging es bei Agdestein eher lustbetont zu. Spaß zu haben war das Wichtigste. Diese Trainingsform ist umstritten, aber für Magnus war sie perfekt.

      »Viele Trainingseinheiten waren kaum vorbereitet, aber ich hatte eine Vision und einen Plan, wie ich ihn zum weltbesten Schachspieler mache«, sagt Simen Agdestein. Diese spielerische, spontane und lebenslustige Trainingsmethode war einzigartig. Trotzdem musste Magnus wie alle anderen Schachspieler auf dem NTG (Norges Toppidrettsgymnas), dem führenden Sportgymnasium Norwegens, ein Programm absolvieren, in dem ihm auch Kenntnisse der Schachtheorie beigebracht wurden. Nach seiner Grundschulzeit ging Magnus auf das NTG in Oslo, dort hatte Simen Agdestein den Schachzweig eingeführt und unterrichtete auch selbst.

      Im Mai 2014 gelang ihm bei dem stark besetzten Norway-Chess-Turnier in Stavanger ein Comeback. Dort trat er gegen neun Spieler der Weltelite an. Es gab eine Reihe skeptischer Stimmen wegen seiner Teilnahme, viele meinten, der Unterschied zwischen der Weltspitze und einem längst abgetretenen Schachspieler, der nicht einmal mehr zu den hundertfünfzig weltbesten Spielern gehörte, sei zu groß. Vor der Teilnahme musste sich Simen Agdestein gegen Norwegens zweitbesten Spieler, Jon Ludvig Hammer, qualifizieren. Agdestein gewann. Dennoch hatte auch er Zweifel an der Richtigkeit seiner Teilnahme: »Es wäre normal gewesen, Jon Ludvig einzuladen. Er spielt wirklich professionell und engagiert Schach. Aber dann kam ich auf die Idee, ein kleines Comeback zu versuchen. Den Glauben an die eigenen Fähigkeiten hatte ich nie verloren, und ich hatte auch keine Angst, gegen die anderen anzutreten. Kurz vor Beginn des Turniers fand ich dann mit GM Jewgeni Romanow einen ausgezeichneten Sekundanten, mit dem die Zusammenarbeit gut funktionierte.«

      Mit seinem russischen Sekundanten überraschte er alle – nur nicht sich selbst. Judit Polgár, die weltbeste Spielerin, reagierte so: »Simen Agdesteins Partien und seine Ergebnisse in Stavanger waren fast unglaublich.« Romanow, der damals halb so alt war wie sein Schützling, war ebenfalls beeindruckt: »Simen liebt Schach. Das war der Hauptgrund, warum er so gut spielte.«

      Simen Agdestein, der sich über zwanzig Jahre lang nicht mehr mit der Weltelite gemessen hatte, war mit den anderen auf Augenhöhe. Er erreichte in neun Runden 3,5 Punkte; in einigen Partien hätte er mehr als ein Remis erreichen können, ja müssen, allerdings übersah er einige recht einfache Gewinnzüge. Kurz vor Schluss lag er auf einem ausgezeichneten Platz im Mittelfeld, da er aber in den letzten beiden Runden leer ausging, landete er in der Schlusstabelle ganz unten. Exweltmeister Vishy Anand, der als einziger Top-Spieler nicht an dem Turnier teilgenommen hatte, war ebenfalls überrascht. »Große Leistung von Simen«, kommentierte der ehemalige Weltmeister.

      Dank guter Vorbereitung kam Simen oft besser aus der Eröffnung als seine Gegner. Mit Hilfe seines Sekundanten, der rund um die Uhr für ihn arbeitete, erspielte er sich aussichtsreiche Stellungen. Nach den ersten zehn, fünfzehn Zügen war Agdestein klar, dass er den Vergleich mit den Weltstars nicht scheuen musste. Mit großem Vertrauen in die eigenen Kräfte und seine überragenden Rechenfähigkeiten war Simen Agdestein nahe dran, für eine kleine Schachsensation zu sorgen. Allerdings gelingen Sensationen in der Realität eher selten. Dennoch bestand kein Zweifel, dass Simen Agdestein noch immer auf Weltklasseniveau spielen konnte.

      Einige Monate später trat er für den Osloer Schachklub Oslo Schachselskap beim Europacup der Vereinsmannschaften in Bilbao an. Dort gewann er gegen den Bulgaren Wesselin Topalow, der zu diesem Zeitpunkt auf Platz 3 der Weltrangliste geführt wurde.

       Ist Spielstärke altersabhängig?

      Ein Comeback als Siebenundvierzigjähriger auf dem Fußballplatz, auf Skiern oder in der Leichtathletik ist unmöglich. Schach ist daher etwas Besonderes. Simen Agdesteins Karriere beweist zwei Dinge. Zum einen ist es möglich, sich auch mit siebenundvierzig Jahren noch mit der Weltelite zu messen. Und zum anderen ist ein Comeback auch dann denkbar, wenn man fast zwanzig Jahre nicht mehr auf höchstem Niveau gespielt hat. Als Schachlehrer und Leiter der Schachklasse auf dem Sportgymnasium NTG stand er natürlich im täglichen Training, dennoch ist es erstaunlich, dass er sich der Weltelite als ebenbürtiger Gegner erwies.

      Als Vishy Anand in Chennai den Weltmeistertitel verteidigen musste beziehungsweise in Sotschi versuchte, ihn zurückzugewinnen, waren die meisten Beobachter der Meinung, dass Magnus Carlsen wegen seines deutlich niedrigeren Alters klar im Vorteil wäre. Ist jemand jedoch in einer so guten physischen Verfassung wie Anand, ist es keineswegs sicher, dass das Alter von so großer Bedeutung ist. Die meisten Schachweltmeister waren relativ jung, doch es gibt genügend Beispiele von Spielern, die auch noch im Alter zur Weltelite gehörten.

      Aus der jüngeren Vergangenheit sind Wassili Smyslow und Viktor Kortschnoi zwei gute Beispiele. Mit dreiundsechzig Jahren gelang es Smyslow 1984, bis ins Finale des Kandidatenturniers vorzudringen, dann jedoch verlor er mit 4,5:8,5 gegen Kasparow. Der russische Autor, Psychologe und Schachspieler, GM Nikolai Krogius, untersuchte zweiunddreißig Spieler der Weltspitze aus dem Zeitraum von 1881 bis 1967. Er fand heraus, dass ein Schachspieler durchschnittlich im Alter von fünfunddreißig Jahren die besten Resultate erzielt. Mit siebenundvierzig Jahren kommt es bei den meisten Spielern zu deutlich schwächeren Ergebnissen. Laut Krogius war es durchaus möglich, die Weltspitze zu erreichen, auch wenn man nicht schon in sehr jungen Jahren mit dem Schach angefangen hatte.

      Er verwies auf eine Gruppe von zehn Spitzenspielern, darunter die Weltmeister Lasker und Botwinnik. Im Durchschnitt begannen sie mit 14,3 Jahren Schach zu spielen. Der russische Schachmeister Michail Tschigorin begann mit sechzehn Jahren, Lasker und Botwinnik waren zwölf Jahre alt.

      In einer anderen Gruppe von zehn Topspielern, in der weitere Weltmeister vertreten waren, lag das durchschnittliche Einstiegsalter bei sechs Jahren und vier Monaten. Hier findet man Nimzowitsch, der mit acht Jahren begann, Capablanca, der vier Jahre alt war; Aljechin begann mit sieben und Euwe mit fünf Jahren. Bei Krogius’ Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Schachkarriere von Spielern, die sehr früh angefangen hatten, länger dauerte.11

      Diese Zahlen wären niedriger, würde man eine entsprechende Untersuchung mit aktiven Spielern von heute durchführen. Es besteht kein Zweifel, dass die aktuellen Spitzenspieler bei ihren Anfängen als Schachspieler im Durchschnitt jünger waren als ihre Vorgänger.

      Die heutigen Vertreter der absoluten Weltspitze begannen fast alle, sehr früh Schach zu spielen, meist im Alter von fünf oder sechs Jahren. Heute ist es quasi undenkbar, dass jemand, der erst mit dreizehn oder vierzehn Jahren beginnt, noch die Weltspitze erreichen kann.


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