Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie. Aage G. Sivertsen
Birte, Magnus Carlsens Tante, machte in den USA einen Masterabschluss in Mathematik.
Magnus’ Großvater väterlicherseits, Kurt Magnus Carlsen, wuchs in Bergen auf. Er verließ die weiterführende Schule als bester Schüler seines Jahrgangs mit Bestnoten in sämtlichen Fächern. Er studierte ebenfalls an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim, wurde Diplomingenieur und spezialisierte sich auf Metallurgie. Kurt Magnus Carlsen wurde Leiter von Norsk Hydro Aluminium. Als Henrik Carlsen, lange nachdem der Vater in Rente gegangen war, bei derselben Firma eingestellt wurde, war dies nicht die schlechteste Voraussetzung, wie er erzählt: »Vater war oberster Chef bei Hydro Aluminium, und als ich mich bewarb, erinnerte man sich noch gut an ihn. Mir wurde mir erklärt, er habe die Aluminiumsparte des Unternehmens aufgebaut.«
Kate, Magnus’ Großmutter väterlicherseits, holte als Erwachsene ihr Chemiestudium nach und schloss es in den USA mit Diplom ab. Das Besondere an Kates Familie war, dass sechs von sieben Geschwistern die Universität besuchten. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war es höchst ungewöhnlich, dass sämtliche Kinder die Möglichkeit bekamen, ein Universitätsstudium zu absolvieren. Die Geschwister studierten Mathematik, Ingenieurswesen, Geologie, Medizin und Chemie. Eines der Kinder besuchte eine Gärtnerschule, und nur das Mathematikstudium wurde ohne Abschluss beendet.
Henriks Grußmutter väterlicherseits hieß Berta Ølmheim, wuchs in Sogndal auf und heiratete Albert Herman Carlsen. Sie war für ihre Willensstärke bekannt und galt als außerordentlich kluge Frau mit eindeutigen Meinungen. Albert Herman Carlsen hatte eine Halbschwester, die eine begeisterte Leserin war und ein fantastisches Gedächtnis hatte. Es hieß, sie könne sich sogar an die Seitenzahlen der Texte erinnern, die sie gelesen hatte.
Betrachtet man Magnus Carlsens Stammbaum auf der väterlichen Seite, zieht sich das Fach Mathematik wie ein roter Faden durch die Generationen.
Mathematik wird häufig mit Schach in Verbindung gebracht. Sehr viele gute Schachspieler zeigen großes Interesse an einem Studium der Informatik, der Mathematik oder eines anderen Faches, das mathematische Fähigkeiten erfordert. Einige Weltmeister haben auf diesen Zusammenhang explizit hingewiesen.6
Magnus’ drei Schwestern sind ebenfalls mathematisch begabt. Die älteste Schwester Ellen studiert Medizin. Die beiden anderen, Ingrid und Signe, haben auf dem Gymnasium Bestnoten im Fach Mathematik.
Daher ist es schon erstaunlich, dass Magnus Carlsen auf der weiterführenden Schule nicht sonderlich gut in Mathematik war. Allerdings gibt es dafür eine schlichte Erklärung: Schon früh verlor er das Interesse an Mathematik. Dies hing damit zusammen, dass immer öfter Gleichungen mit x oder y und Kurvendiskussionen auf dem Lehrplan standen. Henrik Carlsen ist der Ansicht, dass Magnus bis heute nicht weiß, wofür ein x eigentlich steht. Auf dem Gymnasium, das Magnus wegen zu hoher Fehlzeiten ohne Abschluss verließ, hatte er in Mathematik meist eine Vier, im besten Fall eine Drei.
Dies bedeutet nicht, dass Magnus keine mathematischen Fähigkeiten besäße. Aber Mathematik war ihm zu langweilig, und er verstand nicht, warum er sich in diesem Fach anstrengen sollte.
»Meine Eltern haben mich gedrängt, einen ordentlichen Schulabschluss zu machen. Ich habe aber nie bereut, dass ich das getan habe, was mir am besten gefiel: Schach spielen.«
Man sagt, Schach sei die Verbindung von Rechnen und Harmonie. Musiker können ihre Noten lesen und die Musik hören, ohne dass sie gespielt wird. Auf die gleiche Weise können Schachspieler die Notation von Schachpartien lesen und visualisieren. Nach dem Schachspieler und Musiker François Philidor wurde eine Eröffnung (1. e4 e5 2. Sf3 d6) sowie eine Technik im Turmendspiel benannt – die sogenannte Philidor-Stellung. Er wurde als Komponist bekannt, dessen Werke noch immer gespielt werden, und er war im 18. Jahrhundert lange einer der stärksten Schachspieler der Welt.7
Die Schwestern Gara
Die jüdischen Schwestern Gara sind weit weniger bekannt als die Schwestern Polgár. Auch sie stammen aus Ungarn, doch ihre Geschichte blieb außerhalb ihrer Heimat erstaunlich unbeachtet.8 Anita und ihre Schwester Ticia sind heute Schachprofis, sie spielen von Kindesbeinen an Schach.
Ihr Vater, der heute fast achtzigjährige Imre Gara, ist Arzt, und der Zufall wollte es, dass der Großvater der Polgár-Schwestern in demselben Krankenhaus behandelt wurde, in dem Imre Gara arbeitete. Als László Polgár zu Besuch kam, erzählte er von der Schachkarriere seiner Töchter. Er garantierte, dass die Schwestern Gara, die damals fünf beziehungsweise sechs Jahre alt waren, in die Weltspitze im Schach vordringen würden, wenn sie seinen Plan befolgten. Imre Gara war begeisterter Schachspieler und hatte eine Spielstärke im Bereich von Henrik Carlsen, kein Wunder also, dass er die Idee interessant fand.
Etwa zur gleichen Zeit entdeckte die Leiterin von Ticias Kindergarten eine Besonderheit. Sie war der Ansicht, dass Ticia weit klüger war als die übrigen Kinder, und empfahl den Eltern, einen Psychologen aufzusuchen. Der Psychologe teilte die Ansicht der Kindergärtnerin und schlug vor, Ticia solle anfangen, Schach zu spielen.
Imre Gara hörte das gern. Er und seine Frau trafen eine Entscheidung. Sie wollten Anita und Ticia zu den weltbesten Schachspielerinnen erziehen.
László Polgár entwarf ein Trainingskonzept, das mit dem Plan identisch war, den er für seine Töchter entwickelt hatte. Ein Aktionsplan, der hundertprozentig eingehalten werden sollte. Er erklärte unmissverständlich, dass die gewünschten Resultate nicht erzielt werden könnten, wenn die Vorgaben nicht Punkt für Punkt erfüllt würden. László Polgár begleitete die Erziehung der Schwestern mehrere Jahre lang, er motivierte die Eltern wie auch die beiden Kinder.
Wie sollten aus zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren, die zuvor nie eine Schachfigur in der Hand gehabt hatten, die besten Schachspieler der Welt werden? Anita und Ticia waren zu dieser Zeit sportlich sehr aktiv. Die Mädchen spielten Tennis und Tischtennis, gingen in die Tanzschule und schwammen. Im Winter liebten sie es, Ski zu fahren und Schlittschuh zu laufen. Sie spielten mit anderen Kindern. Ticia ging in den Kindergarten, Anita in die erste Klasse. All dies wurde nun komplett auf den Kopf gestellt.
Laut Trainingsplan sollten die Mädchen pro Tag sieben bis acht Stunden Schach spielen oder Schachunterricht bekommen. Daneben hatten sie weiterhin die Gelegenheit zu anderen sportlichen Aktivitäten, aber weit weniger, als sie es gewohnt waren. Ein bisschen Sport war gut, aber nicht zu viel. Filme, Konzerte, Fernsehen, andere Spiele als Schach, Spielen mit anderen Kindern, Lesen oder sich einfach nur unterhalten, all dies waren aus László Polgárs Sicht störende Faktoren.
Für Anita und Ticia wurde eine Regelung gefunden, die sie vom Schulunterricht befreite, allerdings mussten sie jedes Halbjahr eine Prüfung ablegen. Die Eltern unterrichteten sie daheim. Besonderer Wert wurde auf das Erlernen von Sprachen gelegt. Dies war ein Teil von Polgárs Plan.
Sie lernten Esperanto und vor allem Englisch. Allerdings sei es nicht gut, zu viele Sprachen zu lernen. Laut László Polgár würde sich dies negativ auf die Schachentwicklung auswirken. Eine der Polgár-Schwestern, Susan, hatte sieben Sprachen gelernt, und ihr Vater war überzeugt, dass darunter ihre Fähigkeiten im Schach gelitten hatten.
Ein Teil des Plans sah vor, dass die Kinder sehr gute Trainer bekamen, einen Experten für jede Partiephase. »Sehr häufig waren vier, fünf Trainer gleichzeitig bei uns. Wir hatten einen Spezialtrainer für alle Teilbereiche. Einen für Eröffnungen, einen für das Mittelspiel, einen für das Endspiel, einen für Blitzschach und einen für Blindschach.«
Die Eltern wollten ihren Kindern mit Schach zu einem guten Leben verhelfen. Sie sollten Sprachen lernen, viel reisen, durch Turniersiege Geld verdienen, sie sollten es zu Selbstvertrauen und Wohlstand bringen. Das Problem bestand allerdings darin, dass die Eltern Polgárs Programm nicht Punkt für Punkt befolgten. Imre Gara wollte seine Kinder nicht zu reinen Schach-Nerds erziehen. Er wünschte sich, dass sie sich auch auf anderen Gebieten deutlich besser entwickelten, als das Programm vorsah.
Eine Idee Polgárs bestand darin, die Kinder aus ihren natürlichen Aktivitäten herauszureißen, damit sie sich voll und ganz aufs Schachspielen